Verschollen in der Tara-Schlucht - Teil 8 und damit Ende

Fredy Daxboeck

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»Sie kommen aus Österreich. Dort genügt ein Anruf und ihre Behörde stellt Hubschrauber und Helfer zur Verfügung. Ich weiß das. Ich habe lange genug bei euch gearbeitet und gutes Geld verdient. Aber wir sind hier in Montenegro, meinem Heimatland. Da ist alles anders.« Er kratzte sich verlegen am Kopf. »Was wollen sie aus der Luft auch sehen? Wie unter die Bäume schauen? Hunde können nur eine Spur aufnehmen, wenn hier jemand entlanggelaufen wäre. Sitzt sie in einem Wagen, sind Hunde sinnlos.«

»Wie sieht es mit Wärmebildkameras aus?«

»Sehen sie sich um. Der Wald ist dicht bewachsen und wird wenig bewirtschaftet. Er ist pure Natur. Bis auf die Wanderwege kaum begehbar. Es gibt viel Wild und viele Felsen. Die Felsen erwärmen sich bei diesen Temperaturen stark. Die Kameras würden überall Wärme sehen. Selbst in der Nacht, wenn die Felsen ausgekühlt sind, können sie ein Wildschwein oder einen Hirsch vom Hubschrauber aus nicht von einem Menschen unterscheiden. Was denken sie, wie oft sich unvorsichtige Wanderer verirren und wir müssen sie suchen? Ich weiß, dass ich ihnen Mut und Hoffnung zusprechen sollte, aber wir suchen nicht ein Mädchen, das sich verirrt hat und Zeichen hinterlassen kann. Wir suchen nach einem Mädchen, das vielleicht entführt wurde und irgendwo versteckt gehalten wird.«

»Wir suchen nach meiner Tochter.« Karl starrte Zoran an, wie einen Menschen, den nichts und niemand mehr retten konnte. Sein Gesicht drückte mehr Schmerz als Empörung aus, dann blinzelte er heftig und wischte sich linkisch über die Augen.

»Ich weiß. Es tut mir leid«, entschuldigte Zoran sich für seine Bemerkung. »Aber wir suchen mittlerweile auch nach meinem verschollenen Kollegen. Es gibt nicht viele Leute, die sich in der Natur zurechtfinden können, wie er, und trotzdem besteht die Möglichkeit, dass ihm etwas zugestoßen ist.«

Karl schaute ihn an und räusperte sich. Die Blumen am Waldrand und die langen Gräser dazwischen wiegten sich im heißen Wind. Zwei große Vögel schwebten über dem Fluss, der von hier aus nicht zu sehen war. »Sie meinen, dass ihn jemand außer Gefecht gesetzt oder getötet hat?«

»Ich meine, dass er abgestürzt sein könnte, dass er von einem Wildschwein oder einem Bären angegriffen worden sein könnte. Es besteht auch die Möglichkeit, dass er von einem unachtsamen Jäger verletzt wurde. Dieser Wald frisst die Menschen auf die eine oder andere Art.«

In der Ferne hörten sie ein Krachen, das wie ein Schuss aus einem Gewehr klang. Zoran schaute nachdenklich auf den Boden, riss den Kopf in die Höhe und blickte nach Süden. Der Wind wirbelte trockene Halme vom Straßenrand hoch und fegte sie unter die Sträucher.

»Schießt hier jemand?«, fragte Karl nervös. Er war plötzlich hellwach.

»Ja. Hört sich nach einem Gewehr an. Entweder ist es ein miserabler Schütze und schießt dem Wild hinterher oder der Kerl macht Schießübungen. An etwas anderes will ich lieber nicht denken.«

»Wir sollten uns das auf jeden Fall ansehen.«

»Werden wir. Aber seien sie vorsichtig und bleiben sie bei mir. Es kann sein, dass es Jugendliche oder irgendwelche Freaks beim Krieg spielen sind. Kann sein, dass jemand auf alles schießt, was sich im Wald bewegt. Auch das ist schon mal vorgekommen.«

Einen Augenblick lang spielte der Ranger mit dem Gedanken, den Vater von Susanna an dieser Stelle zurückzulassen und ihn später zu holen. Aber vermutlich würde der Mann ihm folgen, sich hoffnungslos verirren, und er hätte ein weiteres Problem am Hals. Also verwarf er die Idee sofort wieder und überlegte, woher die Schüsse gekommen sein könnten.

»Wenn ich mich nicht irre, liegt in dieser Richtung das Blockhaus, von dem Sally gesprochen hat«, murmelte er, ohne sich dessen bewusst zu sein, wie seine Worte auf Karl wirken könnten.

Ihm schwante Böses. Wenn Stefan dort war und vielleicht das Mädchen aufgestöbert hatte, könnte es sein, dass jemand auf ihn schoss. Wie sein Gewehr klang das jedenfalls nicht. Oder waren bloß besoffene Jäger im Wald unterwegs, die ihr Ziel nicht trafen und nachschießen mussten. Auch ein Grund, dass absolute Vorsicht geboten war. Sie wären nicht die Ersten, die versehentlich getötet wurden.

Schweigend fuhren sie durch den Wald, die zweispurige Straße hinunter, die weiter vorne in eine Schlucht führte, dort wo Zoran die Schüsse vermutete. Schweigend, weil keiner der beiden Männer Mutmaßungen anstellen wollte und jeder seinen eigenen Gedanken nachhing, die sie nicht mit dem anderen teilen wollten. Nach drei Kilometern bog Zoran von der Landstraße in einen geschotterten Feldweg ein, den irgendjemand vor Jahren angelegt und seinem Schicksal überlassen hatte. Er war nicht nur von Schlaglöchern übersät, sondern zum Teil völlig in Auflösung begriffen. Der Weg führte an Eichen und Ahornbäumen vorbei und endete abrupt auf einer Lichtung, die von einer Steilwand begrenzt wurde. Eine Felsformation hockte über der Wand. Gewaltige Brocken standen da wie gestapelt, als hätten gigantische Hände sie übereinander getürmt und zusammengepresst. Die Luft, zusätzlich aufgeheizt von der nach Süden zeigenden Wand, flimmerte über dem trockenen Boden.

Sie konnten keine Hütte erkennen und keine Menschenseele sehen.

»Scheiße, das war der falsche Weg. Hier ist niemand«, fluchte Zoran und schaute wild um sich.

»Warten sie!« Karl sprang aus dem Wagen, warf die Tür ins Schloss und trat drei Schritte zur Seite. Im nächsten Moment fegte eine heftige Böe den Berghang herunter, rüttelte an den Zweigen der Bäume ringsum und füllte die Luft mit braunen Blättern und dem Geruch von Staub, Humus und heißem Gestein.

Zoran öffnete die Wagentür, stieg aus und rief über das Wagendach nach Karl. »Kommen sie! Steigen sie ein. Wir müssen weiter. Das ist der falsche Weg. Ich bin zu früh abgebogen«

Plötzlich krachte ein Schuss. Karl wirbelte herum und ging in die Knie. »Jemand hat auf mich geschossen«, schrie er, mehr verwundert als vor Schmerz, und presste seine Hände auf den rechten Oberschenkel. Sein Gesicht war so weiß, wie die von der Sonne gebleichte Felswand hinter ihm.

»Auf den Boden«, schrie Zoran und Karl ließ sich fallen. Er roch das Laub, das Gras und die staubige Erde unter seinem Kopf und fragte sich, wieso jemand auf ihn schießen sollte.

Der Ranger zog die Pistole und verschanzte sich hinter dem Wagen. Er richtete seine Waffe nach links und nach rechts, wusste aber nicht auf wen er zielen sollte und woher der Schuss gekommen war. Er duckte sich tief und kroch nach vorne. »Kommen sie hierher. Hinter den Wagen, aber bleiben sie unten. Ich gebe ihnen Deckung.«

Der Schütze gab einen Schuss ab und vor Zoran wirbelten Staub und Steinbrocken auf. Er zog sich ein Stück zurück, stützte die Hände auf die Motorhaube und erwiderte das Feuer.

Karl Michaelis kroch zum Heck des Wagens und rollte sich dahinter.

»Alles klar?«, rief Zoran, und Karl bestätigte mit fester Stimme. »Alles klar. Ich bin okay!«

»Papa, bist du das? Papa?«, hörten sie gleich darauf die erstickte Stimme eines Mädchens aus dem Wald über dem Steilhang und Karl sprang hoch. Er hatte sichtlich Mühe, sein Körpergewicht auf dem gesunden Bein zu halten.

»Susanna! Susanna, ich bin hier!«

Eine Kugel zertrümmerte die Windschutzscheibe und eine weitere ging in den Kühler, bevor Zoran Karl zu Boden gerissen hatte.

»Was soll der Scheiß«, rief er und jagte zwei Schüsse in die Richtung, in der er den Schützen vermutete. Seine Augen blitzten auf, sein Gesicht war mit Schweiß bedeckt, als er schluckte, schmeckte sein Speichel metallisch wie Blut.

Hinter einer Eiche drückte Myra Susanna auf den Waldboden und legte sich halb auf sie. »Still! Er weiß sonst, wo wir sind«, flüsterte sie und suchte die Stelle ab, wo sie das Mündungsfeuer zuletzt aufblitzen gesehen hatte.

»Aber da ist mein Papa«, erwiderte Susanna und versuchte sich aus Myras Griff zu befreien.

»Susanna? Susanna bist du das?«, rief Karl Michaelis aus der Deckung des Wagens heraus in den Wald.

»Der Scheißkerl sitzt zehn Meter rechts neben der Wand. Hinter einer Mauer, die aussieht, als ob sie von Menschen aufgeschichtet wäre. Es ist nur noch einer übrig. Wir haben die anderen erledigt. Bist du getroffen?«

»Halb so wild.«

»Bleibt in Deckung! Verstärkung ist unterwegs«, schrie der Ranger dazwischen und schoss auf die Stelle, die Susanna genannt hatte. Die Mauer schimmerte als fahles Rechteck im Halbdunkel des Waldes. Karl schaute ihn mit großen Augen verwundert an, aber Zoran schüttelte nur den Kopf. »Er muss nicht wissen, dass wir keinen Empfang haben.«

Die nächste Kugel zerfetzte einen Reifen und der Wagen neigte sich pfeifend zur Seite.

»Bleib unten«, zischte Myra. »Wenn du merkst, dass er seine Deckung verlässt, gib deinem Papa Bescheid, aber bleib selbst in Deckung. Gib mir fünf Minuten, ich schleiche mich von hinten an ihn heran und versuche ihn auszuschalten.«

»Ich komme mit dir.«

»Nein, nein, nein«, sagte Myra. »Mach das nicht. Das ist zu gefährlich. Bleib hier und widersprich mir nicht.«

»Ich lasse dich nicht allein.«

Myra wollte noch etwas sagen, wusste aber, dass ihre Worte vergebens waren. Wenn Susanna sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, war sie nicht umzustimmen. Sie durfte keine Zeit mehr verlieren. Sollte der Dreckskerl die Stellung wechseln, könnte es für den Ranger und Susannas Vater schlecht ausgehen.

Sie schoben sich rückwärts aus ihrer Deckung, krochen mit dem Sonnenlicht im Rücken und außerhalb des Sichtfelds des Schützens hinter ein Brombeergestrüpp und liefen geduckt den Abhang hinunter, um hinter den Kerl zu kommen.

In diesem Augenblick schoss Reinhard auf die Stelle, an der sie eben noch gekauert waren und riss breite Streifen aus der Rinde des Baumes.


* * *


»Wir müssen da lang. Er hat uns entdeckt und weiß, wo wir sind.« Myra spähte zur Lichtung zurück und dirigierte Susanna an zwei umgefallenen Bäumen vorbei, die ihnen Deckung boten, froh, dass das Mädchen ihren Kopf durchgesetzt hatte. Sie mochte nicht daran denken, wie die Sache sonst ausgegangen wäre.

»Wir können ihn nicht umgehen, er wird auf der Hut sein und damit rechnen, dass wir es versuchen. Wir müssen versuchen, ihm zu entkommen oder ihn in einen Hinterhalt locken.« Ihrem Gesicht war anzusehen, dass sie Mühe hatte, ihren Zorn zu unterdrücken.

»Aber mein Papa?«

Mit erhobener Hand bedeutete sie Susanna, zu schweigen. Dann machte sie ein paar schnelle Schritte nach Westen und blieb abrupt stillstehen. Sie musste eine Entscheidung fällen. Vor ihr tanzten die Äste einer Lärche im Wind. Als sie sich wieder umdrehte, waren Myras Augen dunkel.

»Er ist hinter uns her. Du bist die Einzige, die ihn identifizieren kann. Er will dich erledigen. Wenn du tot bist, kann er untertauchen, verschwinden und jedem erklären, er war ein paar Tage im Wald, aber weiß von nichts. Du bist es, die am Leben bleiben muss.« Susanna nickte und schaute weg, ihre Augen waren leer.

Sie liefen durch den Wald, bis sie an einen schmalen, kiesigen Pfad kamen, den sie hinunterstiegen. Der Weg führte sie zwischen zwei riesigen Felsbrocken hindurch, die jeden Augenblick ins Tal zu stürzen drohten, aber das wahrscheinlich schon mehrere hundert Jahre lang.

»Er ist hinter uns, ich kann ihn hören«, keuchte Susanna und drehte sich um, konnte ihn aber im Gewirr der Felsen und Bäume nicht ausmachen. Sie spürte, wie sich ihr Hals zuzog, wie ihr die Luft wegblieb, hörte das Rascheln von Laub und sah hinauf in die Krone einer Eiche. Ein großer Vogel saß dort im Baum und starrte auf sie hinunter.

»Es kümmert ihn nicht, dass wir ihn bemerkt haben«, erwiderte Myra und ließ ihre Blicke hastig über das Gelände hinter ihr schweifen. »Los, komm weiter.«

Susanna hob die Hand und zeigte auf eine Stelle dreißig Meter über ihnen. Sie glaubte aus den Augenwinkeln eine Bewegung oder einen Schatten im Unterholz bemerkt zu haben.

»Da runter, lauf, lauf! Dort in das Dickicht, da können wir abtauchen und sind erstmal sicher«, rief ihr Myra zu und zerrte an ihrem Hemd. Ihr Herz raste und sie hatte das Gefühl, als müsste sie bei jedem Atemzug laut aufschreien.

Myra spannte den Bogen, drehte sich um und ruckte hin und her, um ein Ziel zu finden, konnte den Kerl aber nirgends entdecken. Bis sie merkte, dass sie selbst ein gutes Ziel abgab. Deshalb sprang sie zur Seite und lief hinter Susanna her, über Wurzeln und Steine bergab, durch das Unterholz, bis sie an eine Senke kamen und schweratmend aus dem Wald brachen, um plötzlich an einer Stelle zu stehen, an der eine grob geschotterte Piste vorbeiführte.



Mit wütenden Blicken suchte der Ranger die Schatten der Bäume und Sträucher auf den Hängen vor ihm ab, die Pistole im Anschlag. Seine rechte Hand lockerte und schloss sich um die Waffe, das Blut pochte in seinen Handgelenken. Der hinterhältige Schütze, der auf sie geschossen hatte, hatte sich aus dem Staub gemacht, soviel war klar. Er war den fliehenden Mädchen gefolgt, die sie weglaufen gehört hatten. Er drehte sich herum, um nach dem Vater des Mädchens zu sehen.

Karl saß vorne an den Wagen gelehnt, die Augen weit aufgerissen, als brüllten alle seine Drachen, die ihn je bedrängt hatten, auf einmal auf ihn ein. Der Mund schnappte nach Luft und seine Hände krallten sich in den trockenen Boden. Eine grüne Flüssigkeit tropfte unter dem Kühlergrill heraus und bildete eine glänzende Lache.

»Sie sind den Berg runter und der Kerl verfolgt sie. Da ist noch jemand bei Susanna. Wir müssen ihnen hinterher«, keuchte er.

»Sie müssen gar nichts, außer hierbleiben«, bellte Zoran und wandte sich um. »Rühren sie sich nicht vom Fleck. Im Wagen ist ein Verbandskasten. Versorgen sie ihre Wunde und halten sie sich raus. Ich hole mir den Kerl und bringe ihre Tochter zurück.« Dann war er mit weiten Sätzen im Wald verschwunden.

Karl Michaelis presste die Lippen zusammen und zog sich am Wagen hoch. Er konnte nicht klar denken. Seine linke Hand zuckte am Oberschenkel. Sein Gesicht war weiß vor Erschöpfung oder Blutverlust. Vielleicht war es auch der Schock, weil sein Kind im Wald von einem Perversen verfolgt wurde.

Das Atmen fiel ihm schwer. Er humpelte zum Kofferraum, holte den Kasten mit dem roten Kreuz heraus und wickelte sich eine Binde fest um den Schenkel. Die Wunde blutete ohnehin nicht mehr. Er wog seine Möglichkeiten ab und warf einen Blick in den Wagen. Dort lag eine Axt mit einem langen Stiel, ein Gewehr steckte daneben in einer Halterung. Ohne zu zögern, nahm er das Gewehr heraus, setzte sich in Bewegung und folgte dem Ranger in den Wald.

Eine Schar dunkler Vögel überquerte die Lichtung, er konnte ihr Schreien noch hören, als er bereits ins Dunkel abgetaucht war und mit fest zusammengebissenen Zähnen den Berg halb hinunterrannte, halb schlitterte. Den Kopf voller Gedanken und Wünsche, die für niemanden Gutes bedeuteten.


* * *


»Hier entlang«, rief Myra, griff nach der Hand von Susanna und zog sie an den Rand der Piste, bevor sie diese überqueren konnte. Sie starrte den Fahrweg entlang, der ins Tal führte und nach hundert Metern hinter einer Kurve verschwand.

»Wo eine Straße ist, führt sie früher oder später zu Menschen.«

»Er wird uns finden, auf der Straße sind wir ein leichtes Ziel.«

»Ich weiß, aber wir kommen schneller vorwärts. Wir bleiben nicht lange auf der Straße, nur bis zur nächsten Biegung. Dann kann ich sehen, wohin sie uns führt.« Sie warf im Laufen einen Blick zurück über die Schulter, stolperte und konnte sich gerade noch fangen, bevor sie zu Boden ging. Erschrocken schnappte sie nach Luft.

»Außerdem wird er erst überlegen, in welche Richtung wir gelaufen sind. Wir könnten auch die Straße überquert haben und weiter in den Wald geflohen sein.« Unter ihren Füßen knirschten die Steine, als sie wieder an Tempo zulegte und Susanna mit sich zog. Irgendwie hatte sie das Gefühl, als zielte ein Gewehr genau zwischen ihre Schulterblätter. Sie fühlte ein Pochen im Nacken, das jedoch mit jedem ihrer Schritte leichter wurde.

Susanna starrte ins Nichts und versuchte ihre Gedanken zu ordnen, während sie liefen. Ihre Beine zitterten, sie hielt vermutlich nicht mehr lange durch. Die Lungen pumpten die heiße Luft in ihren Körper, waren bald am Platzen. Für einen Augenblick verschwammen die Geräusche und Bilder um sie herum, die Farben verblassten, sie zwang sich, ruhig und gleichmäßig zu atmen.

Wieso war ihr Vater überhaupt hier? Sie machte sich mehr Sorgen um ihn als um sich selbst. Hatte er sie bei ihrer Tante gesucht? War sie es, die ihn mit einem Ranger losgeschickt hatte? Ihr fiel ein, dass er angeschossen war und sie ihm vielleicht beistehen sollte.



Sie wischte sich den Schweiß aus dem Gesicht, ignorierte einen stechenden Schmerz in ihrer rechten Seite und versuchte ihr Atmen unter Kontrolle zu bringen, um das Laufen durchzuhalten. Wenn sie an die Biegung kamen, mussten sie sich entscheiden, ob sie die Straße überqueren oder doch weiter neben ihr herlaufen sollten. Sie könnten sogar zurückgehen und hinter das Arschloch kommen, um ihn zu erledigen.

Wie ihm das wohl schmecken würde? Ein nie gekannter Hass wallte in ihr hoch, wie schwarzer Dunst, der aus einem Loch in ihrem Herzen kam, von dem sie nicht einmal geahnt hatte, dass es so etwas in ihrem Leben gab.

Sie wollte ihn tot sehen. So tot wie den anderen Dreckskerl. Und dieser Gedanke machte ihr Angst. Ihr Herz pochte dabei bis in die Ohren, als hätte sich das Böse ohne Einverständnis in ihr Leben eingeschlichen und sich dort für immer festgesetzt.



Der Wind wehte aus Richtung der Berge im Norden und rauschte über seinem Kopf, als ob Regen auf Blätter fallen würde. Verwirrt hob Reinhard Frost den Kopf und ärgerte sich zugleich über seine Ungeschicklichkeit, als er ins Stolpern kam. Aber dann sah er genau deswegen das Mädchen, bevor sie hinter der Biegung zwischen den Bäumen verschwand. Sie tauchte noch einmal kurz auf und er schoss, ohne zu überlegen, ohne zu zielen, denn dazu reichte die Zeit nicht. Repetierte durch und feuerte erneut, obwohl er sofort wusste, dass beide Schüsse ihr Ziel verfehlt hatten. Das war zwar ärgerlich, vor allem, weil sie damit gewarnt waren, wie dicht er ihnen auf den Fersen war. Aber andererseits machte sie die Angst auch unvorsichtig. Wer um sein Leben rennt, denkt nicht rational.

Sein Gesicht verfinsterte sich. Er verspürte den unbändigen Wunsch seiner aufgestauten Wut freien Lauf zu lassen und diese Schlampen zu verprügeln, bis sie um Gnade winselten.

Diese dämlichen Tussis laufen doch tatsächlich die Straße lang, dachte er, und grinste mit einem Mal übers ganze Gesicht. Seine Oberarmmuskeln zuckten in der Vorfreude, die er empfand, weil er sie demnächst vor seine Fäuste bekam. Er überquerte den Fahrweg und rannte in den Wald, der zu seiner Erkenntnis, das Glück auf seiner Seite zu haben, durchwegs passierbar war. Somit kam er gut voran und triumphierte innerlich.

Der Ranger und sein Begleiter hatten ihn nicht gesehen. Also konnte ihm niemand etwas nachweisen, sobald sie erledigt waren. Seine Freunde waren abgestürzt und Heimo mit einem Pfeil getötet. Kein Schwein würde ihn damit in Verbindung bringen.

Er musste sich später nur seiner Krag-Jørgensen, Kaliber .30–40 entledigen. Schade um das schöne Gewehr, aber es gab Schlimmeres. Die nächste Zeit würde er ohnehin auf einem Boot in Kroatien verbringen und die Hütte meiden.

Reinhard achtete nicht auf seine unmittelbare Umgebung, sondern konzentrierte sich einzig darauf, die nächste Biegung vor den Frauen zu erreichen. Er wollte vor ihnen da sein, damit er sie wie ein paar Hasen vor die Flinte bekam.

Selbstsicher, beinahe überheblich sprang er in weiten Sätzen den Berg hinab und stoppte nur an dem einen oder anderen Baum, um nicht vom eigenen Schwung mitgerissen zu werden. Durch die einzelnen Stämme konnte er bereits das helle Band der Straße sehen, als er vor Schreck wie angewurzelt stehen blieb.

Ein Pfeil hatte ohne Vorwarnung eine blutige Schramme über seinen Hals gezogen.

Das war höllisch knapp. Fluchend warf er sich zu Boden, rutschte den Hang ein Stück weiter und drehte sich herum, bereit auf alles zu schießen, was sich vor ihm bewegte.

Aber da war nichts.

Er schwitzte und sein Herz hämmerte wie eine außer Kontrolle geratene Lokomotive. Er fühlte sich, als wäre er in einen Strudel geraten und würde vom Waldboden verschluckt. Eine frische Brise wirbelte Blätter um ihn auf und verstärkte diesen Eindruck noch.

»Scheiße! Scheiße! Verdammte Scheiße!«, fluchte Reinhard. Seine Hand ging an den Hals und er betrachtete verstört die blutigen Finger. Die beschissene Indiandertussi hätte ihn um Haaresbreite erwischt. Was bildete die sich bloß ein?

Wütend rollte er herum, zielte mit dem Gewehr in alle Richtungen, konnte aber weder ein Ziel noch irgendeine Bewegung ausmachen. Vorsichtig rappelte er sich hoch, nach allen Seiten Ausschau haltend und tastete sich vorwärts. Irgendwo im Norden, vermutlich einige Kilometer entfernt, konnte er das Motorengeräusch eines Lastwagens hören, der sich durch die engen Kurven quälte, aber er schenkte dem keine Bedeutung. All seine Sinne waren auf die Geräusche von Schritten, das Brechen von Zweigen oder das Rascheln von Blättern durch unachtsame Füße, ausgerichtet.

Vorsichtig wandte er sich wieder bergab, achtete aber diesmal auf alles, was sich bewegte. Dann entdeckte er die Frauen. Sie liefen an die hundert Meter weiter vorne über eine Straße, die breiter war als die vorige. Wahrscheinlich war das die Landstraße, die zwanzig Kilometer später in die Stadt führte. Er konnte sich ein gehässiges Lachen nicht verkneifen.

Auf dieser Straße könnt ihr lange laufen, dachte er. Kniete sich gelassen vor einen Felsen und richtete das Gewehr auf das vorne laufende Mädchen, das sich schwankend vor Erschöpfung durch ein Muster aus Licht und Schatten bewegte. Sein Körper zeichnete sich im tiefen Zwielicht der Bäume wie ein schwarzer Scherenschnitt ohne menschliche Züge als Silhouette gegen den Felsen ab.

Er wartete, bis sie für zwei oder drei Schritte im Sonnenlicht war, hob das Gewehr und legte an.

Das Brummen des Lastwagens kam näher. Reinhard riskierte einen Seitenblick, um einzuschätzen, ob er von der Straße aus zu sehen war und fuhr verblüfft hoch. Der Ranger, auf den er völlig vergessen hatte, stürmte über den Abhang herunter, in der Hand eine großkalibrige Pistole. Noch hatte er ihn nicht gesehen. Reinhard schwenkte das Gewehr herum und schoss auf ihn. Der Ranger stürzte der Länge nach hin, überschlug sich einmal und blieb reglos liegen.

Reinhard sprang auf und rannte auf die Straße. Der Überraschungseffekt war dahin, jetzt kam es darauf an, schnell zu sein und die Schlampen zu erledigen. Er riss das Gewehr hoch und sah keine fünfzig Schritte vor ihm die Frau. Sie stand mit gespanntem Bogen auf der anderen Straßenseite, die Sonne tauchte sie in das goldene Licht des Nachmittags.

Überrascht blieb er stehen und bemerkte, wie sie die Augen aufriss und der Pfeil von ihrer Sehne schnellte.

Er spürte, wie sich sein Bauch in Erwartung des Aufpralls verkrampfte. Sein Mund stand offen. Er atmete schwer und starrte die schöne Frau mit den langen schwarzen Haaren mit fassungslosem Blick an, als könnte er nicht begreifen, was ihm gerade widerfahren war.

Dann lachte er erleichtert, weil der Pfeil in seiner Brust steckte, aber er trotzdem keinen Schmerz spürte. Noch immer lachend trat er ihr zwei Schritte entgegen und hob das Gewehr zum tödlichen Schuss.



Der Fahrer des Lasters kam um die Kurve und sah etwa hundert Schritt voraus eine Frau am Rande der Fahrbahn stehen. Sie hielt einen Bogen in der Hand, mit dem sie auf ihn zielte. Instinktiv wich er nach rechts aus und stieg auf die Bremse. Nicht zu hart, um ein Blockieren der Räder zu verhindern. Das bullige Gefährt, ein schwarzer Neunachser mit lang abfallender Schnauze und chromglänzendem Auspuffrohr auf der Beifahrerseite schlingerte kurz. Dann besann sich der Fahrer, dass ihm ein Pfeil im Wagen eigentlich nichts anhaben konnte, er zog sein Gefährt mit steinerner Miene zurück auf die Straße und ließ die Fanfare ertönen.

Das dreifache Horn hallte im Korridor des Waldes wider und verschluckte jedes andere Geräusch. Wie den entrüsteten Schrei, den Reinhard Frost ausrief, als sich eine kleine Kurbel vor der siebten Achse in seine offene Beintasche bohrte und ihn von den Füßen riss.

Mit voller Wucht knallte er auf den rauen Asphalt, dort wo die Straße ins Bankett überging und wurde vom Laster mitgerissen. Die groben Steine scheuerten in Sekundenschnelle eine drei fingerbreite Schneise in seinen Hinterkopf, die bis auf den Knochen reichte. Brüllend vor Schmerz drehte er sich auf den Bauch und versuchte sich mit den Händen abzustoßen, erreichte aber nur, dass der Asphalt ihm sowohl die Haut von den Händen, sowie der Stirn und die halbe Nase abschabten. Funken stiebend brannte die Gürtelschnalle ein Muster in den Bauch, das Hemd riss auf und er ließ eine blutige Spur zurück. Eine Verkehrstafel, die vor der kommenden Kurve warnte, brach den linken Unterarm und zertrümmerte ein Knie.

Reinhards Schreien war längst in ein gurgelndes Wimmern übergegangen, als ein kleiner Baum seine unsägliche Reise beendete. Das kurze Schlingern des Lasters, als er wieder auf die Straße zog, rollte Reinhards geschundenen Körper herum und er krachte dagegen, brach sich einige Rippen, die Beintasche riss, und er schlitterte über Geröll und Felsen, fiel über eine Klippe und blieb vier Meter tiefer an einer verkümmerten Kiefer hängen.

Der Fahrer, der ganz auf Myra konzentriert, nichts von seinem blinden Passagier auf der rechten Seite des Trucks mitbekommen hatte, hielt an und sprang aus dem Wagen.

»Was sollte denn das?«, schrie er und stieß die geballte Faust in die Luft. Wütend stapfte er zurück zu Myra, wollte sich nicht beruhigen. Das hätte auch schlimm ausgehen können.

»Wie kommen sie dazu, mit einem Pfeil auf mich zu zielen?«

»Da war ein Mann, auf den ich gezielt habe«, erwiderte Myra und hob trotzig den Kopf.

»Wo ist der, und warum haben sie auf ihn gezielt?« Der Fahrer drehte sich herum und schoss wütende Blicke in alle Richtungen ab. Er wollte sich eben wieder an Myra wenden, als Susannas Vater mit einem Gewehr aus dem Wald kam. Sein Atem rasselte, er schaute nach links und nach rechts und stützte sich mit den Ellbogen auf seine Knie. Das Gewehr zielte auf den Fahrer.

»Scheiße. Das habt ihr euch so gedacht«, fluchte der Mann und zog einen Revolver aus seinem Gürtel.

»Wirf das Ding weg und nimm die Hände hoch oder ich schieße sie über den Haufen.«

»Langsam, nur die Ruhe. Da war ein Kerl, der war hinter meiner Tochter her.« Karl Michaelis hob den Kopf. Weder in seiner Stimme noch in seinem Ausdruck lag etwas Großspuriges, da war nur eine unbestimmte Angst zu spüren.

»Was für ein Kerl, da war kein Kerl, nur sie. Wirf das Ding weg«, knurrte der Fahrer und zielte auf Myra.

»Papa, Myra, nicht!« Susanna Michaelis stürmte aus dem Wald und lief über die Straße. »Ich kann es erklären, ich habe alles gesehen.« Sie fuchtelte wild mit den Armen und blieb stehen, sah von einem zum anderen und erschauerte.

»Gesehen?«, fragte der Fahrer verwirrt und zielte nun auf Susanna.


* * *


»Waffen fallen lassen, lasst alle eure Waffen fallen, zum Teufel und stellt euch an den Straßenrand oder ich erschieße den Ersten, der sich bewegt.«

Mit schmerzverzerrtem Gesicht kam Zoran Novak aus dem Wald. Er zog ein Bein nach, aber hielt seine große Pistole so ruhig, als würde er auf dem Schießstand draußen vor der Stadt stehen.

Der Fahrer erkannte sofort, dass er einen Ranger vor sich hatte, und ließ seinen Revolver sinken, ohne ihn aus der Hand zu geben.

»Ein Kerl hat mich entführt. Er wollte mich umbringen. Myra hat uns geholfen«, plapperte Susanna augenblicklich los, offensichtlich froh, die Situation aufzuklären. »Aber er war´s nicht!«

Sie zeigte auf den Fahrer, hörte den Flügelschlag von Wildgänsen über ihr und schaute blinzelnd zum Himmel empor. Eine Schar Gänse folgte in Pfeilformation dem Fluss nach Osten. Und aus irgendeinem Grund hatte sie das eigenartige Gefühl, jeden Moment den Boden unter den Füßen zu verlieren.

»Uns?« Der Ranger runzelte verwirrt die Stirn und trat näher. Schweigend schaute er einen Augenblick abwechselnd Susanna, den Fahrer und Myra an, als müsste er überlegen, wie viel er ihnen glauben durfte.

»Ja. Uns. Die anderen Mädchen sind tot. Er und seine Freunde haben sie umgebracht.« Hilfesuchend wandte Susanna sich an Myra, die ihren Blick mit einem Heben des Kopfes erwiderte.

»Du bist Susanna, nicht wahr?«, fragte der Ranger mit hochgezogenen Brauen und sah kurz auf ihren Vater, der heftig nickte. Unter ihren Augen lagen dunkle Ringe. Ihr Gesicht war schmal und ausgezehrt vor Erschöpfung und den erlittenen Entbehrungen.

»Ja«, sagte sie. »Und sie sind verletzt.«

»Wo ist er, der Kerl, der dich entführt hat? Wo sind seine Freunde?« Zorans Blick wischte die Straße auf und ab, als ob er überlegen würde, wem er den Rücken zukehren durfte, ohne auf Susannas Bemerkung einzugehen.

»Er war eben noch hier«, sagte Myra und zeigte mit dem Kinn auf die Stelle, wo Susannas Vater aus dem Wald gekommen war. Sie wirkte völlig ruhig.

»Neben der Straße. Ich habe mit dem Bogen auf ihn geschossen, als der Lastwagen kam. Ich weiß nicht, ob ich ihn getroffen habe. Vielleicht ist er mittlerweile über alle Berge. Kann aber auch sein, dass er sich im Wald versteckt hält.«

Der Fahrer des Lasters scharrte mit den Füßen auf dem Asphalt, er wirkte plötzlich sehr aufgewühlt. »Möglich, dass ich ihn angefahren habe«, sagte er schuldbewusst. »Ich habe einen Schatten gesehen, aber nicht auf ihn geachtet, dann war er weg. Das war etwa fünfzig Meter weiter hinten.« Er drehte sich um und schaute wie alle anderen in die angegebene Richtung.

Myra trat zur Seite und zuckte widerwillig die Achseln. »Er hat vermutlich einen Pfeil in der Brust und liegt verletzt am Waldrand.«

Der Ranger hob beschwichtigend die Hand und steckte den Revolver weg. »Langsam, langsam«, mahnte er, und schüttelte sich unbewusst eine Zigarette aus der Schachtel. »Da gibt es einen Mann, der dich entführt hat, und seine Freunde. Der Mann hat einen Pfeil in der Brust und wurde überfahren, aber wo sind seine Freunde?« Er zögerte einen Moment, dann drehte er sich nach Karl um und bot ihm auch eine Zigarette an. »Haben sie eine Ahnung, wovon die reden?«

»Nein«, erwiderte Karl. Sie bliesen den Rauch in die Luft und nickten sich zu, wie zwei alte Bekannte.

»Die sind tot, wie die anderen Mädchen«, brach es aus Susanna hervor. Der Ranger schaute sie ungläubig an, sein Gesicht wurde blass.

»Tot? Wie die Mädchen?«, sagte er, und nickte. Er schien damit gar nicht aufhören zu können. »Was soll diese Scheiße? Wir müssen ihn suchen. So viel steht mal fest.«

Schließlich ging er mit dem Fahrer des Lastwagens die Straße zurück, beide hielten ihre Waffen in der Hand, und wies Karl an, bei Susanna und Myra zu bleiben.

»Hier liegt ein Gewehr«, rief kurz darauf der Fahrer und hob, wie zum Beweis, das Ding in die Höhe. Gleich darauf verschwanden die beiden unter den Bäumen.

»Wir sollten den Bereich absichern, damit keiner in den Laster kracht«, sagte Myra mit angewiderter Miene und wandte sich ab. Karl nickte erleichtert, weil er etwas zu tun bekam und nicht herumstehen musste, so hilflos, wie er sich fühlte, und Susanna war plötzlich allein.

Ein Gefühl, für das sie keinen Namen finden konnte, schwemmte in ihr hoch. Sie würgte, ging an den Straßenrand und schaute in die Bäume, ließ den Kopf und die Schulter hängen. In den grob gewalzten Steinen des Banketts vor ihr lief eine gezackte Spur, die aussah wie Blut. Sie ging ihr nach, fand Stofffetzen, eine zerschrammte Feldflasche. Die Spur wurde breiter und verlor sich auf der Straße. Unter einem Strauch lag ein völlig zerstörtes Handy oder Teile davon. Susanna ging näher und hörte in einiger Entfernung ein fremdes Geräusch.

Es klang wie der Wind, wenn er im Gartenhaus ihrer Tante durch das alte Gebälk strich. Unheimlich und fordernd. Wie in Trance ging sie weiter, folgte den Tönen und schaute an der Klippe nach unten.

Da war eine Bewegung.

Susanna wandte sich um und wollte nach ihrem Vater rufen, dann zwang sie sich nach unten zu sehen, konnte aber nur einen knorrigen Baum erkennen. Ein mattgrünes Etwas schwankte im Wind. Neugierig kletterte sie vorsichtig über den Rand, bis sie auf einem handtuchbreiten Felsen zu stehen kam. Drei Meter unter ihr hing der Kerl, der sie den ganzen Tag gehetzt hatte im Baum.

Oder das, was von ihm übrig war.

Er sah grauenvoll aus. Hose und Hemd in Fetzen gerissen und mit einer schmierigen Schicht aus Blut und Staub überzogen. Ein Bein hing herab, wie ein loser Sack. Es war nackt, bis auf einen Stiefel und hüpfte zuckend auf und ab. Der Kopf ihres Peinigers eine blutige Masse aus Knochen, Fleisch und Haaren. Große dunkle Tropfen fielen unter ihm in die Tiefe.

Er drehte sich herum.

»Hilf mir. Bitte hilf mir. Ich verblute«, brabbelte der Kerl, mit blutigem Schaum auf den Lippen. Ein Zittern lief über seinen Körper. Hellrote Zähne leuchteten in seinem blauschwarz gefärbten Gesicht, das mit Kieselsteinen gespickt war. Schmerz und Angst zeigten sich im Weiß seiner Augen.

»Tuts weh?«, fragte Susanna. Sie spürte, wie sich eine eisige Hand um ihr Herz legte. Vor ihren Augen kniete Katja am Boden und flehte um Gnade, Nicoletta lag wimmernd in einer Ecke und Vanessa klammerte sich am Gitter fest und schrie und schrie.

»Ja«, stöhnte der Kerl und hob die Hand.

»Gut. Das ist gut«, sagte sie, ohne eine Emotion zu zeigen, und atmete aus.

In aller Ruhe ließ sie ihre Blicke über das unmenschliche Etwas wandern, um seinen Anblick einzufangen und in das Verließ ihrer Erinnerung zu sperren. Einen Anblick, den sie nie mit jemand anderen teilen, aber für immer behalten würde, um ihn an dunklen Tagen herauszuholen und sich an ihm zu erfreuen.

Mit einem finsteren Lächeln kletterte sie die Klippe hoch und lief den Männern entgegen. Wie unabsichtlich scharrte sie dabei im Kies des Banketts und verwischte die wenigen sichtbaren Spuren.

Der Lastwagenfahrer nahm den Ranger mit in die Stadt, um mit einem Wagen und ein paar Männern zurückzukommen.

»Wir müssen den Kerl finden«, sagte Zoran Novak. »Er ist vermutlich verletzt und wird nicht allzu weit kommen. Ich hoffe, er kann er mir sagen, wo mein Freund Stephan ist.«

Susanna winkte ihm nach. Dann ging sie zu ihrem Vater, lehnte ihre Stirn an seine Brust und atmete den vertrauten Geruch nach Schweiß und Tabak ein. Ihr Vater schien auf undefinierbare Weise gealtert zu sein. So standen sie eine lange Zeit da, sprachen nicht und lauschten auf den Wind, der durch die Bäume raunte. Schließlich legte er seine Arme um ihren Rücken und drückte sie an sich.

Und Susanna konnte endlich weinen. Um die Mädchen, die getötet waren, ihre Kindheit, der sie entrissen wurde, und der Hölle, der sie entronnen war.

In aller Stille sprach sie ein Gebet, nur für sich, und gab ihrer Hoffnung Ausdruck, dass es den Mädchen, die gestorben waren, gutgehen würde, auf der anderen Seite des Flusses oder wo immer sie sich auch befänden. Sie bat sie, eine schützende Hand über sie, ihren Vater und Myra zu halten und sie von all den zukünftigen Kerlen und Widersachern zu befreien, die ihr je wieder zu nahekommen sollten und sie in der Tara zu ertränken, bevor sie anderen schaden könnten.

Hoch über dem Wald kreiste ein Schwarm Geier. Kreischend stürzten sie sich abwechselnd in die Tiefe und kamen wieder hoch. Susanna sah ihnen mit hartem Blick nach.

In ihrem Kopf konnte sie immer noch das leise Flehen ihres Peinigers hören, das in der Schlucht verwehte.

»Lass mich nicht hier sterben. Ich komme nicht runter von dem Scheißbaum, und wenn, dann falle ich in die Schlucht und breche mir das Genick. Hilf mir. Ich wollte das alles nicht. Es war doch nur ein dummes Spiel.«

Möge er nie gefunden werden und seine Knochen zwischen den Steinen verfaulen, dachte sie. Nahm mit einem kraftlosen Lächeln die Hand ihres Vaters und ging mit ihm zu Myra, die in der Kurve auf einem Stein saß und auf sie wartete, während sie interessiert die großen Vögel am Himmel betrachtete.




Schlusswort



Jeden Tag verschwinden Menschen. Aus den unterschiedlichsten Gründen. Manche verschwinden freiwillig, um ein neues Leben zu beginnen, andere um ein altes hinter sich zu lassen. Aber die meisten von ihnen fallen auf die eine oder andere Art einem Verbrechen zum Opfer.

Einige werden wiedergefunden, irgendwann, irgendwie.

Viele verschwinden für immer und ihre Angehörigen finden niemals Frieden.

Wie könnten sie auch?

Wenn jemand deinem Kind, deinem Vater, deiner Mutter, das Leben nimmt, ist es ein bitterer Trost zu wissen, dass sie tatsächlich tot sind. Aber immerhin eine Gewissheit.

Andere hoffen und beten, und wieder andere

haben nicht einmal das.



ENDE




Damit endet die Geschichte. Ich danke für eure Zeit, für euer Interesse und würde mich über Feedback freuen.

Um mich weiter zu entwickeln interessiert mich insbesondere ...
Welche Sequenzen findet ihr gut und welche eher daneben?
Wo fiebert ihr mit und wo langweilt ihr euch?
Wie findet ihr den Schluss?

Schöne Grüße

Fredy
 



 
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