Horst M. Radmacher
Mitglied
Anton Gerlach fühlte sich gut.. Er konnte an einem dunstigen, aber eisfreien Sonntag in den ersten, von seinem Arbeitgeber bezahlten Bildungsurlaub fahren. Darum hatte Anton lange ringen müssen, denn die kleine norddeutsche Lokalzeitung konnte es sich nicht oft erlauben, Mitarbeiter bei fortlaufender Bezahlung freizustellen. Der Herausgeber und Chefredakteur des Blattes, Dirk Stamm, gönnte seinem langjährigen Mitarbeiter diese Bildungsmaßnahme, denn er war sich sicher, nicht nur dieser würde davon profitieren, sondern auch die Zeitung. Anton Gerlach galt journalistisch als ein Allrounder und war nebenher ein angesehener Fotograf. Gut gelaunt machte er sich auf den Weg ins Ruhrgebiet. Er hatte sich für einen mehrtägigen Workshop der Fotografischen Sammlung im Museum Folkwang in Essen eingetragen, Schwerpunkt Schwarzweiß-Fotografie. An dem darauffolgenden Wochenende würde er seinen früheren Studienkollegen Ralf Spengler in Wattenscheid besuchen, nicht allzu weit von Essen entfernt. Ralf hat seit kurzem eine Anstellung bei der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung als Redakteur Inland inne. Anton hatte bislang nie das Ruhrgebiet besucht und freute sich auf das Wochenende mit dem Freund, sowie auf eine Erkundungstour durch Städte, Industriebrachen inklusive einer Kneipentour.
Der Workshop brachte ihm die erhoffte Bereicherung. Selbst für ihn als erfahrenen Fotografen war es spannend, sich mit Gleichgesinnten auszutauschen, Arbeitsweisen und Ergebnisse zu vergleichen. So nahm er viele Anregungen für seine berufliche Tätigkeit mit, fand zusätzlich auch noch neue Aspekte für seine künstlerische Ambitionen in der Schwarzweiß-Fotografie. Den Freitagabend nach dem Seminar verbrachten die beiden Freunde bei Ralf zuhause in Wattenscheid. Dieser war ebenfalls passionierter Fotograf und man fand sich bald tief in einer Fachsimpelei wieder. Der Sonnabend war für dann “Land und Leute” reserviert, so wie Freund Ralf es ausdrückte. Und dieses zu Antons voller Begeisterung. Den Kohlenpott erlebte der Norddeutsche so ganz anders, als er sich ihn vorgestellt hatte: Allein die Anzahl der Parks und Grünflächen hatte er niemals erwartet, und auch das den dortigen Menschen nachgesagte falsche Deutsch hörte er auf dieser Tour nicht. Ein Höhepunkt dieser Reise: eine Tour entlang stillgelegter Zechen und Industriebrachen - geniale Motive, bestes Material für Schwarzweiß-Fotos. Und dann zum Ende des Tages das private Highlight, ein Abend in einer Kneipe am Hellweg in Wattenscheid. Anton, der kühle Norddeutsche, konnte sich zu vorgerückter Stunde nur schwer von den kontaktfreudigen Trinkkumpanen trennen, die ihn, den reservierten Norddeutschen, wie selbstverständlich in ihre Runde aufnahmen; das Wort Kumpel hat hier eine ganz spezielle Bedeutung und bezieht sich nicht ausschließlich auf Bergbau-Folklore. Es wurde eine außerordentlich lange und feuchte Nacht.
Noch von der nächtlichen Kneipentour merklich angeschlagen, startete er in den Sonntag, den Tag seiner geplanten Abreise. Sein Auto hatte er nur wenige Meter neben der Ausfahrt seines Freundes geparkt. Kurz vor Start des Autos suchte er etwas unbeholfen nach einer Dokumentenmappe auf dem Beifahrersitz, und da passierte es. Das Auto fing zu schaukeln an, er fühlte sich, als ob er sich in einem vibrierenden Gefährt, in einer Art Hollywoodschaukel befände. Ihm absolut unbekannte Bewegungsempfindungen erfassten ihn. Ein erster, extrem kurzer Gedankenreflex knüpfte eine Verbindung zu seinem verkaterten Zustand. Das war es aber nicht, ganz und gar nicht. Die Erde unter ihm wackelte, sie bebte, und das mit ihm und dem kompletten Fahrzeug. Und dieses Schaukeln und Rütteln verstärkte sich noch. Da, wo er noch eben mit seinem Auto gestanden hatte, brach die Erde auf und das Gefährt stürzte durch einen Krater in einen darunterliegenden Schacht. Anton Gerlach wurde in wenigen Sekunden von einem dunklen Loch verschluckt, er war vom Erdboden verschwunden. Sein Auto hatte er direkt im Epizentrum eines Erdbebens geparkt – ein für niemanden vorstellbares Ereignis. Anschließend war er samt Auto in einen fünfzehn Meter tiefen Krater gerutscht.
Die Menschen in Wattenscheid, und mit ihnen das gesamte Ruhrgebiet, befanden sich durch diese unvorhergesehene Katastrophe im Ausnahmezustand. Es war der von Fachleuten schon früher zwar rein hypothetisch für möglich gehaltene, aber praktisch nicht zu erwartende Super-Gau. Die zahlreichen Bohrungen, Grabungen und Erschütterungen in diesem Gebiet hatten in vielen Jahren den Untergrund weiträumig destabilisiert und damit dem Kollabieren der unterirdischen Schächte und Gänge durch tektonische Bewegungen im Erdinneren Vorschub geleistet. Menschliche Technik hatte die Natur überfordert. In diesem schrecklichen Chaos konnten die zur Hilfe herbeigerufenen Einsatzkräfte nur schwer ihre Rettungsmaßnahmen durchführen. Ralf Spengler hatte vergeblich versucht, seinen Freund telefonisch zu erreichen, in der Hoffnung, dass dieser noch kurz vor dem Unglück abgefahren sein könnte und sich inzwischen irgendwo in sicherer Entfernung aufhalten könnte. Auch Antons Arbeitgeber konnte ihn tags darauf telefonisch nicht erreichen. Er hatte zwar in den Nachrichten eine Meldung über das Beben im Ruhrgebiet gehört, hatte diese aber nicht mit Anton in Verbindung gebracht.
Erst in der Nacht zum darauffolgenden Dienstag erhielt die Katastropheneinsatzleitung einen Überblick über die Sachlage. Es hatte sich bei dem Beben zwar nicht um ein extrem starkes gehandelt, aber es hatte ausgereicht, die vielen Schächte und Gänge im früheren Kohlerevier zum Einsturz zu bringen. Einer der Überlebenden der glücklicherweise nicht sehr zahlreichen Opfer des Bebens war Anton Gerlach. Und, er hatte es fast unverletzt überstanden. Sein Auto war nach wenigen Fallmetern von einem Gewirr aus stabilen Rohren und Balken aufgefangen worden, dabei verkantet, und eine quer darüber verlaufende, dicke Kanalisationsröhre hatte sich schützend auf das Autodach gelegt. Das auf diese Weise festgeklemmte Fahrzeug konnte von den Erdbewegungen und den Schuttmassen nicht weiter demoliert werden, oder noch tiefer fallen. Das Unglück hatte Anton Gerlach mental stark mitgenommen. Es dauerte einige Tage, bis er das Trauma überwunden hatte. Die Retter und Ärzte waren verblüfft, als der Gerettete von seinem 'Aufenthalt' im Dunklen berichtete. Als er in dieser Situation realisiert hatte, dass seine Lage im Krater stabil war, belasteten ihn in der Folgezeit vorrangig die bedrohliche Dunkelheit. Er schaffte es jedoch, das beklemmende Vorgefühl einer Panik zu unterdrücken; eine solche Attacke hätte seine Situation psychisch erheblich verschlimmert. Um sich abzulenken, fotografierte er blindlings ins Schwarze hinein, mit und ohne Blitz, und natürlich in Schwarzweiß, bis der Akku erschöpft war. Dann irgendwann vernahm er die ersten Geräusche der Retter, zunächst kratzend, dumpf und entfernt, dann immer näher kommend.
Die fotografischen Spontan-Ergebnisse seiner Ablichtungen waren faszinierend: Unwirkliche Formationen, die aus Trümmerteilen bestanden, die sich in dem Gewirr aus Höhlen und Gängen zu bizarren Fantasiegebilden geformt hatten - Surrealismus in Schwarz, Weiß und Grau. Die Bilder wurden eine Sensation - für die Menschen im Ruhrgebiet Erinnerung und Mahnung zugleich.
Der Workshop brachte ihm die erhoffte Bereicherung. Selbst für ihn als erfahrenen Fotografen war es spannend, sich mit Gleichgesinnten auszutauschen, Arbeitsweisen und Ergebnisse zu vergleichen. So nahm er viele Anregungen für seine berufliche Tätigkeit mit, fand zusätzlich auch noch neue Aspekte für seine künstlerische Ambitionen in der Schwarzweiß-Fotografie. Den Freitagabend nach dem Seminar verbrachten die beiden Freunde bei Ralf zuhause in Wattenscheid. Dieser war ebenfalls passionierter Fotograf und man fand sich bald tief in einer Fachsimpelei wieder. Der Sonnabend war für dann “Land und Leute” reserviert, so wie Freund Ralf es ausdrückte. Und dieses zu Antons voller Begeisterung. Den Kohlenpott erlebte der Norddeutsche so ganz anders, als er sich ihn vorgestellt hatte: Allein die Anzahl der Parks und Grünflächen hatte er niemals erwartet, und auch das den dortigen Menschen nachgesagte falsche Deutsch hörte er auf dieser Tour nicht. Ein Höhepunkt dieser Reise: eine Tour entlang stillgelegter Zechen und Industriebrachen - geniale Motive, bestes Material für Schwarzweiß-Fotos. Und dann zum Ende des Tages das private Highlight, ein Abend in einer Kneipe am Hellweg in Wattenscheid. Anton, der kühle Norddeutsche, konnte sich zu vorgerückter Stunde nur schwer von den kontaktfreudigen Trinkkumpanen trennen, die ihn, den reservierten Norddeutschen, wie selbstverständlich in ihre Runde aufnahmen; das Wort Kumpel hat hier eine ganz spezielle Bedeutung und bezieht sich nicht ausschließlich auf Bergbau-Folklore. Es wurde eine außerordentlich lange und feuchte Nacht.
Noch von der nächtlichen Kneipentour merklich angeschlagen, startete er in den Sonntag, den Tag seiner geplanten Abreise. Sein Auto hatte er nur wenige Meter neben der Ausfahrt seines Freundes geparkt. Kurz vor Start des Autos suchte er etwas unbeholfen nach einer Dokumentenmappe auf dem Beifahrersitz, und da passierte es. Das Auto fing zu schaukeln an, er fühlte sich, als ob er sich in einem vibrierenden Gefährt, in einer Art Hollywoodschaukel befände. Ihm absolut unbekannte Bewegungsempfindungen erfassten ihn. Ein erster, extrem kurzer Gedankenreflex knüpfte eine Verbindung zu seinem verkaterten Zustand. Das war es aber nicht, ganz und gar nicht. Die Erde unter ihm wackelte, sie bebte, und das mit ihm und dem kompletten Fahrzeug. Und dieses Schaukeln und Rütteln verstärkte sich noch. Da, wo er noch eben mit seinem Auto gestanden hatte, brach die Erde auf und das Gefährt stürzte durch einen Krater in einen darunterliegenden Schacht. Anton Gerlach wurde in wenigen Sekunden von einem dunklen Loch verschluckt, er war vom Erdboden verschwunden. Sein Auto hatte er direkt im Epizentrum eines Erdbebens geparkt – ein für niemanden vorstellbares Ereignis. Anschließend war er samt Auto in einen fünfzehn Meter tiefen Krater gerutscht.
Die Menschen in Wattenscheid, und mit ihnen das gesamte Ruhrgebiet, befanden sich durch diese unvorhergesehene Katastrophe im Ausnahmezustand. Es war der von Fachleuten schon früher zwar rein hypothetisch für möglich gehaltene, aber praktisch nicht zu erwartende Super-Gau. Die zahlreichen Bohrungen, Grabungen und Erschütterungen in diesem Gebiet hatten in vielen Jahren den Untergrund weiträumig destabilisiert und damit dem Kollabieren der unterirdischen Schächte und Gänge durch tektonische Bewegungen im Erdinneren Vorschub geleistet. Menschliche Technik hatte die Natur überfordert. In diesem schrecklichen Chaos konnten die zur Hilfe herbeigerufenen Einsatzkräfte nur schwer ihre Rettungsmaßnahmen durchführen. Ralf Spengler hatte vergeblich versucht, seinen Freund telefonisch zu erreichen, in der Hoffnung, dass dieser noch kurz vor dem Unglück abgefahren sein könnte und sich inzwischen irgendwo in sicherer Entfernung aufhalten könnte. Auch Antons Arbeitgeber konnte ihn tags darauf telefonisch nicht erreichen. Er hatte zwar in den Nachrichten eine Meldung über das Beben im Ruhrgebiet gehört, hatte diese aber nicht mit Anton in Verbindung gebracht.
Erst in der Nacht zum darauffolgenden Dienstag erhielt die Katastropheneinsatzleitung einen Überblick über die Sachlage. Es hatte sich bei dem Beben zwar nicht um ein extrem starkes gehandelt, aber es hatte ausgereicht, die vielen Schächte und Gänge im früheren Kohlerevier zum Einsturz zu bringen. Einer der Überlebenden der glücklicherweise nicht sehr zahlreichen Opfer des Bebens war Anton Gerlach. Und, er hatte es fast unverletzt überstanden. Sein Auto war nach wenigen Fallmetern von einem Gewirr aus stabilen Rohren und Balken aufgefangen worden, dabei verkantet, und eine quer darüber verlaufende, dicke Kanalisationsröhre hatte sich schützend auf das Autodach gelegt. Das auf diese Weise festgeklemmte Fahrzeug konnte von den Erdbewegungen und den Schuttmassen nicht weiter demoliert werden, oder noch tiefer fallen. Das Unglück hatte Anton Gerlach mental stark mitgenommen. Es dauerte einige Tage, bis er das Trauma überwunden hatte. Die Retter und Ärzte waren verblüfft, als der Gerettete von seinem 'Aufenthalt' im Dunklen berichtete. Als er in dieser Situation realisiert hatte, dass seine Lage im Krater stabil war, belasteten ihn in der Folgezeit vorrangig die bedrohliche Dunkelheit. Er schaffte es jedoch, das beklemmende Vorgefühl einer Panik zu unterdrücken; eine solche Attacke hätte seine Situation psychisch erheblich verschlimmert. Um sich abzulenken, fotografierte er blindlings ins Schwarze hinein, mit und ohne Blitz, und natürlich in Schwarzweiß, bis der Akku erschöpft war. Dann irgendwann vernahm er die ersten Geräusche der Retter, zunächst kratzend, dumpf und entfernt, dann immer näher kommend.
Die fotografischen Spontan-Ergebnisse seiner Ablichtungen waren faszinierend: Unwirkliche Formationen, die aus Trümmerteilen bestanden, die sich in dem Gewirr aus Höhlen und Gängen zu bizarren Fantasiegebilden geformt hatten - Surrealismus in Schwarz, Weiß und Grau. Die Bilder wurden eine Sensation - für die Menschen im Ruhrgebiet Erinnerung und Mahnung zugleich.