Versetzung

Um der Stille meines Schreibtisches zu entfliehen, beschloss ich mit einer Freundin einen gemeinsamen Ausflug ins Strandlokal. Meine Intention bestand darin, ein bisschen zu plaudern und nebenher ein schmackhaftes Essen zu genießen. Außerdem dürstete ich nach Belebung und neuen Energien, die meine Fantasie ein wenig belüften sollten. Meine Freundin versprach sich ebenfalls neue Energien in Form einer erregenden Bekanntschaft. Dabei liebäugelte sie mit einem männlichen Hausvorstand, nicht mit mir. Mich kannte sie ja bereits und ich bin weder männlich, noch an ihrem Hausvorsitz sonderlich interessiert.

Nachdem wir unsere Motive erörtert und mehrere Varianten einer auf unsere Absichten ausgerichtete Garderobe durchgespielt hatten - mit dem Ergebnis übrigens, dass ich in einem jutesackähnlichen, graumelierten Hängerkleid Vorlieb nehmen und meine Freundin sich in kurzen Shorts und klatschengem Mieder bekennen würde – nachdem die Aufzugsordnung also feststand, verabredeten wir uns für den nächsten Tag um sechs Uhr am Abend im Restaurant „Strandidyll“.

„Wenn’s ein bisschen später wird, verzweifele nicht“, sagte meine Freundin noch ins Telefon. Sie würde sich wirklich beeilen wollen, aber man wüsste ja nie, der Verkehr oder so. Dann beratschlagten wir noch, einen einzelnen Tisch zu besetzen, weil wir uns lange nicht ausgetauscht hätten und sicherlich allerlei Pikantes den Mitwisser wechseln würde.

Ich überlegte kurz, mit welch scharfen Zoten ich würde aufwarten können, erkannte schnell die Mangelware und die Arbeit, die ich bis morgen Abend zu bewältigen hatte, in dem ich nach Unanständigkeiten und Anekdoten suchen müsste. Ich konnte ja schließlich nicht mit leeren Händen kommen und meine Freundin den ganzen Abend allein bestreiten lassen.
Wir sagten uns „Adè“ und legten auf.

Nach einer halben Stunde klingelte das Telefon und meine Freundin fragte mich, ob ich etwas dagegen hätte, wenn sie ihren langjährigen Bekannten – der sie partout nicht ehelichen wollte, aber gelegentlich mit ihr schlief oder sie mit ihm, ganz drauf ankommend, von welchem Standpunkt aus man es betrachtete – ob sie jenen beischlafenden Drückeberger wohl auch zu unserem gemeinsamen Ausflug würde einladen können. Ich hatte nichts dagegen, gab aber zu bedenken, dass Frauengespräche nicht unbedingt etwas zur Stärkung der männlichen Potenz beitrügen. Außerdem wollte ich bei dieser Konstellation meinen eigenen Mann dabei haben.

Erstens war es mir unangenehm, das dritte Rad am Wagen zu sein und zweitens verfüge ich nicht über männliche Schlafbekanntschaften. Es musste also mein Ehemann sein.
Nach zwanzigminütigem Hin und Her stand fest, dass wir uns die erste Stunde unseres Treffens allein und somit vertraulich unterhalten und unsere männlichen Pendants später zustoßen würden.
Gesagt getan.

Heute, nun, ist also morgen Abend, sechs Uhr, „Strandidyll“ und somit unsere Verabredung in vollem Gange. Mit dem kleinen Makel versehen, dass ich jetzt, und zwar zehn Minuten nach sechs Uhr, immer noch allein unter einem knallbunten Sonnenschirm herumsitze, der das weiße Tischtuch vor mir gelbstichig färbt. Um die Warterei zu überbrücken, bestelle ich mir ein großes Glas Wasser. Ich würde viel lieber ein großes Bier trinken, denn es ist heiß und windstill und ich sehe die Segler auf dem glatten See ausharren und die Schweißtropfen in den Stirnfurchen der Kellnerin sich sammeln.

Aber ich geniere mich, so in aller Öffentlichkeit und auch noch ungesellschaftet, ein männliches Getränk zu bestellen und verlange züchtig nach einem Wasser. Die Kellnerin lässt ihren transpiranten Geruch stehen und zieht mürrisch von dannen.

Ich überlege gerade – schon sechs Uhr zwölf! – dass dieser knallbunte Sonnenschirm über mir seine belebende Farbgestaltung wohl auch und soeben an meinem Gesicht vornimmt und dieses wahrscheinlich genauso gelbstichig aussehen lässt, wie das von Grund auf weiße, aber nun gelbstichige Tischtuch vor mir, als ich von einer schwacher Stimme aus meiner Warteschleife gerissen werde.

„Entschuldigung, ist hier wohl noch ein Platz frei?“
Die Frau vor mir steht mit dem Rücken zur untergehenden Sonne. Ich kann ihr Gesicht nicht sehen, registriere nur die Umrisse einer schlanken Gestalt, die hängenden Schultern und einen ziemlich ausladenden Hut.

„Wo haben Sie denn diesen Hut her?“ frage ich sie.
Das war, genau genommen, keine Antwort auf ihre Frage. Aber ich versuche, Zeit zu schinden und um nicht unhöflich zu wirken, vermeide ich ein schweigsames Nachdenken, in dem ich gegenfrage.

Die Zeit, die ich schinden will, brauche ich dazu, mir eine passende Rechtfertigung auszudenken, warum an meinem leeren Tisch kein Platz mehr frei ist.

Wenn ich nämlich nun einfach sagen würde: „Nein, tut mir leid!“ dann würde sie es mit Sicherheit als eine ungezogene Abfuhr bewerten und sich entweder beleidigt, aber still zurück ziehen oder ein Fass aufmachen. Beides wäre mir unangenehm. Letzteres mehr.

Wie aber kann ich diese behütete Gestalt vor mir glaubhaft davon überzeugen, dass die drei Stühle an meinem Tisch nicht mehr frei, dass heißt, nur noch für wenige Minuten, also gut, zwei von drei Stühlen zwar noch für eine Stunde – fünfzehn Minuten nach sechs! – also nur noch eine knappe Stunde zwar nicht besetzt, aber auch nicht ganz frei sind?

„Ich habe ihn in Ravenna gesehen!“ sagt die schattenhafte Unbekannte jetzt.
„Wen?“
„Sie fragten doch nach meinem Hut!“ kommt es mich ein wenig ungeduldig an und schon vernehme ich das gänsehäutende Kratzen von Stuhlbeinen auf sandigem Terrazzo.

Ich mache eine Bewegung, als wolle ich eine lästige Biene verscheuchen.
„Und“, frage ich schnell, um sie in ihrem Sitzenwollen-Eifer aufzuhalten, „haben Sie ihn gekauft?“
„Bitte?“

Die Kellnerin platzt ungerührt in unser informatives Gespräch und knallt ein Wasserglas auf den Tisch. „Noch eins?“ fragt sie und belauert meine halbversenkte Gesprächspartnerin. Die ist nämlich gerade im Begriff, sich auf den zurecht gerückten Stuhl nieder zu lassen und verharrt nun, so drakonisch angesprochen, in einer devoten Bückstellung.

Das ist mein Stichwort. Ich kläre ausführlich auf, und zwar beide, dass ein Wasser mir genüge und ich auf die Ankunft meiner Bekanntschaft warten, bevor ich weitere Bestellungen vornehmen würde und dass sich damit auch die Fragen nach frei oder nicht frei und noch eins oder keins und überhaupt erledigt hätten.

Zu meiner Überraschung schlage ich zwei Fliegen mit einer Klappe.
Die Damen eilen schlagartig auseinander und ich habe drei Minuten Wartezeit überbrückt. Ein Blick zur Uhr sagt mir, es ist achtzehn Minuten nach sechs.

Ich beuge mich über mein Wasserglas, nicht, ohne meine Peiniger aus den Augen zu lassen, bis ich restlos überzeugt bin, dass sie mich so schnell nicht mehr behelligen werden. Mit dem bekannten Augenwinkelblick kann ich ausmachen, dass sich die unbekannte Dame an einem weit weniger attraktiven, dafür aber weit genug von mir entfernt stehenden Tisch niederlässt. Zu meinem Bedauern entscheidet sie sich ihrerseits, mich im Auge zu behalten.

Ich nippe an meinem Wasserglas. Neunzehn Minuten nach sechs.
Ich studiere die Eiskarte.
Immer noch.
Zwanzig Minuten nach sechs.

Die abgewiesene Dame sieht zu mir herüber. Ich deute einen Gruß an. Sie deutet zurück.
Zwanzig und eine halbe Minute!

Schöne alte Bäume haben die hier. Und schöne Tische. Schöne Stühle auch. Sogar mit Armlehnen. Da kann ich mich ganz locker zurück lehnen und das Geschehen beobachten. Das Wasser schmeckt. Lauwarm. Aber eiskalt ist nicht gut für den Magen.

Warum wollte sie auch unbedingt an meinen Tisch? Rund herum ist jede Menge Platz. Da muss man auf eine Abfuhr vorbereitet sein, wenn man sich einfach bei jemand Unbekanntes an den Tisch setzen will!

Bestimmt denkt sie, ich hätte eine Verabredung vorgeschoben, um sie abzuwimmeln. Sicher hält sie mich für arrogant oder, schlimmer noch, für überspannt. Dabei bin ich grundsätzlich ein geselliger Typ. Meine Freunde charakterisieren mich als aufgeschlossen und kontaktfreudig. Ich bin für Neues immer zu haben, für neue Bekanntschaften erst recht. Mit mir kann man Pferde stehlen! Ich teile noch das letzte Hemd, sowieso jeden Gartentisch, wenn’s drauf ankommt. Was kann ich dafür, dass diese Plätze reserviert sind?

Einundzwanzig Minuten nach sechs, neun Minuten vor halb sieben, neununddreißig vor um.
Achtunddreißigeinhalb.
Ich bin ganz ruhig.

Eigentlich könnte ich rüber gehen und ihr sagen, dass sie sich so lange an meinen Tisch setzen dürfe, bis meine Verabredung endlich da sei. Und selbst wenn wir dann zu dritt wären, könne sie ja so lange sitzen bleiben, bis auch unsere Männer einträfen. Wenn die dann kämen, würde sie sicher niemand des Platzes verweisen. Man würde einen Stuhl herbei ziehen, um gemütlich und zu fünft den lauen Abend zu genießen.
Ich könnte jetzt aufstehen und zu ihr rüber gehen.
Oder ich winke einfach. Ich winke sie einfach kameradschaftlich herbei. Wir Frauen müssen schließlich zusammen halten. Und der Waschbärtyp von gegenüber wirft schon lüsterne Blicke auf sie.
Das muss sie doch merken!
Aber sie kann sich ja nicht schützen. Völlig schutzlos, die Ärmste. Dem wässrigen Blick des Dickens ausgeliefert. Sie kann sich nicht in ein Gespräch verwickeln, kann sich nicht hinter ihrem Tischgefährten verstecken, nur hinter der Speisekarte.
Macht sie aber nicht.
Wieso tut sie das?
Wieso sitzt sie einfach nur so da und guckt in den Abendhimmel? Will sie provozieren? Warum schiebt sie nicht kurzerhand eine grenzbedeutende Speisekarte zwischen sich und diesem Lustmolch?
Also, ich stehe jetzt auf und gehe zu ihr rüber. Ich kann mich ja so lange an ihren Tisch setzen, bis meine Freundin kommt. Der Kellnerin sage ich, sie soll ein Reserviert-Schild aufstellen. Oder besser: wir setzen uns alle zu der einsamen, umlüsterten Dame an den Tisch. Wem sollte das schon etwas ausmachen?
Also, mir nicht. Ganz bestimmt nicht.
Da, jetzt guckt sie rüber! Soll ich winken? Nun winke schon! Ist doch ganz einfach. Hand heben und wedeln, winke, winke.
Statt dessen beuge mich über den Tisch und verrenke meinen Hals in Richtung Strandpromenade. Von dort muss sie kommen, meine Freundin. Ist bestimmt schon auf dem Weg. Vielleicht ist ihr etwas passiert! Etwas Unfassbares, Unerhörtes, Unmögliches. Dann könnte ich ihr verzeihen. Wenn sie mich jetzt, in diesem Augenblick anriefe und aufklärte, würde ich ihr verzeihen. Dann könnte ich ganz gönnerhaft zu der Dame rüber gehen und ihr sagen, dass nun doch ein Platz an meinem Tisch frei sei. Für den Rest des Abends. Für immer, wenn sie will.
Ich schaue schnell zu der einsamen Dame zurück. Sie starrt mich an. Ich gebe ihr handzeichnend zu verstehen, dass ich nach meiner Verabredung Ausschau halte. Die Dame rückt sich ein wenig zurecht und blinzelt wieder in die Wolken.
An meinen Erklärungen scheint sie nicht interessiert zu sein. Mit keiner noch so kleinen Andeutung gibt sie mir zu verstehen, dass sie mein Verhalten sehr wohl einzuordnen weiß. Sie könnte ja wenigstens lächeln oder zwinkern oder huldvoll, bitte, meinetwegen, die Hand heben.

Aber nichts da! Lässt mich einfach abblitzen, mit diesem vorgerecktem Kinn und dem albernen Ravenna-Hut!
Sieh mal einer an!
Was denkt sie sich denn, wer sie wohl ist?
Dieses abweisende Profil! Dieser ignorierende Wegblick! Typisches Lehrerverhalten. Wahrscheinlich ist sie Unterstufenlehrerin, verknöchert sieht sie ja aus. So was in der Art Fräulein Pingelschnitz.

Ein passender Name: Pingelschnitz. Klingt nach Staub und wilhelminischer Drillzeit. Unter ihrem Ravenna-Hut trägt sie mit Sicherheit einen strengen Haarknoten, einen künstlich aufgepeppten, versteht sich. Und die Schläfenlocken kämmt sie sich jeden Abend sorgfältig, ölt sie und klemmt sie mit Haarnadeln fest, bevor sie zu Bett geht. Zuvor muss sie sich natürlich ihrer brusthohen Schlüpfer entledigen. Und dem Leibchen und dem Hüfthalter, das Fräulein Pingelschnitz, ...

„Was ist nun, wollen Sie noch was bestellen oder nicht?“
Die Kellnerin heißt Drahtbein. Ganz bestimmt. Oder Hühnermörder oder Giftschnalle, vielleicht auch Steinbeißer.
„Ich warte noch!“
„Worauf? Auf Kneipenschluss?“ Kellnerin Drahtbein stemmt ihre Fäuste in die Hüften und funkelt mich mit schmalen Augen an.
Ich hab’s! Sie heißt Babajaguschka.
Ich bestelle nun doch ein Bier.
Es ist siebenunddreißig Minuten nach achtzehn Uhr. Ich bin erledigt. Meine Freundin ist auch erledigt. In Gedanken spiele ich mein erstes Tötungsdelikt durch.

Und dann ist sie plötzlich da. Aus dem Nichts fällt sie mir um den Hals, entkorkt ihr Stimmwunder, sprudelt mich voll und schnippst mit lockerem Handgelenk die Kellnerin herbei. Ihre Leibhaftigkeit erwischt mich mit voller Wucht. Ich falle zusammen wie ein entstöpseltes Schlauchboot. Schweiß trocknet auf meiner Stirn, Erleichterung breitet sich aus, die Hände entkrampfen. Nun ist sie ja da.

Die uns verbleibenden zwanzig Minuten nutzen wir atemlos uns auszutauschen. Das heißt, meine Freundin erzählt und ich höre ihr dankbar zu.
Sie hat wirklich eine Menge zu berichten, nur nicht darüber, warum sie mich so lange warten ließ. Ich bin geduldig, Hauptsache, sie ist da.
Ihre Schilderungen sind blumig bis unverblümt, dazu gestenreich veranschaulicht.
Zum Beispiel, wie sie erst neulich ihrer Schwägerin beibrachte, die Brust abzupumpen.

„Stell dir vor“, empört sie sich, „dieses dumme Ding ist schon zweimal Mutter und weiß bis heute nicht, wie man das Letzte aus sich heraus holt.“ Und dann zeigt sie mir, wie sie es ihrer Schwägerin aber gezeigt hat und quetscht und rüttelt an ihrem Busen herum, dass die umstehenden Stühle schon zu knarzen beginnen.
„So was aber auch“, bekräftige ich sie und schule über ihre Schulter hinweg auf Fräulein Pingelschnitz.
Die nippt an einem Weinglas.
Jetzt schaut sie auf und zu uns herüber.

Ich lege mich leicht zur Seite und winke an meiner Freundin vorbei einen Gruß.
Fräulein Pingelschnitz lächelt! Sie weiß Bescheid. Fräulein Pingelschnitz lächelt!!

Ich bin geneigt, ihr herzlich zuzurufen „Das ist meine Freundin!“, beherrsche mich aber rechtzeitig und flüstere es ihr mit großartiger Lippenbewegung entgegen und zeige mit dem Finger auf Besagte.
Fräulein Pingelschnitz nickt!
Sie hat mich verstanden. Fräulein Pingelschnitz hat genickt!
Ich lache befreit.
„Was ist los?“ fragt meine Freundin, die gerade beim Kamasutra war.
„Ach, nur eine alte Bekannte. Fräulein Pingelschnitz. Ein bisschen altmodisch. Unterstufenlehrerin. Hat ihren letzten Urlaub in Ravenna verbracht.“ Ich beuge mich leutselig über den Tisch. „Stell dir vor: Sie trägt noch Leibchen und Strumpfhalter.“
„Tatsächlich? So was gibt es noch?“

Ruckartig wendet sie sich in die von mir bewunkene Richtung und sucht mit Blicken den Biergarten nach Leibchen und Strümpfen ab.
„Wer ist es denn?“ fragt sie ungeduldig.

Eben setze ich an, sie einzuweihen, da überschlagen sich die Ereignisse.
Von links durch die Gartenpforte geschlendert, kommen unsere Männer herbei. Ich erfasse sie aus den Augenwinkeln, gerade, als meine Freundin mit einem spitzen Schrei in die Höhe schnellt und – sieh nur! - in Richtung Fräulein Pingelschnitz davon stürzt. Durch dieses auffällige Verhalten alarmiert, stemmt sich das Angriffsopfer entschlossen in die Höhe. Der verwegene Hut signalisiert Kampfbereitschaft.

Nur eine winzige Schrecksekunde hält es mich auf dem Stuhl.
„Ich muss sie aufhalten!“ saust es mir durch den Kopf. Gleich fahre ich auf und will zum Sprung ansetzen, da kommen mir zwei Salatschüsseln und ein Hefeweizen in die Quere. Ich rempele die Kellnerin beiseite und schlage ihr das volle Tablett aus der Hand. Mit zielstrebiger Genauigkeit schießen Oliven und Hüttenkäse auf umsitzende Gäste zu, verteilen sich über Haar und Glatzen und stürzen sich geöffnete Hemdkragen hinab. Das Bierglas fällt scheppernd zu Boden. Der Inhalt platscht mir an die Beine.

Egal. Ich hetze vorwärts und fuchtele mit den Armen einen Rettungsversuch. Mit einem hastigen Seitenblick sehe ich die Männer mir zu Hilfe eilen. Jetzt heißt es handeln, und zwar rasch. Wer weiß, welches Hühnchen meine Freundin mit Fräulein Pingelschnitz zu rupfen hat. Und wenn die erst aus dem Häuschen ist, dann lässt sie sich so schnell nicht wieder einkriegen.

Schon ist sie Fräulein Pingelschnitz’ Kehle gefährlich nahe, schon sehe ich sie ihre Arme drohend öffnen. Jetzt, in diesem Augenblick, befällt sie ihren Hals!
Ich komme zu spät, mein Gott, was für ein Drama!
Und das alles wegen einer einzigen schlechten Note!
In Deutsch.

Keuchend erreiche ich die Ringenden. Was bleibt mir, als mich dazwischen werfen? Da höre ich meine Freundin jauchzen: „Ich bin Ihnen so dankbar für die Eintrittskarten, Sie können gar nicht ermessen, wie sehr.“
Sie knutscht und herzt an Fräulein Pingelschnitz herum und lässt die Dame gar nicht mehr los. Der Hut fällt zu Boden, ein Haargummi löst sich, glänzendes Blond im Abendlicht.

Ich glotze fassungslos, mit angewinkelten Armen, die Hände noch zu errettenden Fäusten geballt, im Laufschritt erstarrt. Mein Brustkorb pumpt. Die Augen brennen. Die Ohren gleich mit. Hinter mir bellt die Kellnerin ein Stakkato.

Nun sind auch die Männer da. Sie lachen und dienern, grüßen wortgewandt, heben auf und säubern und reichen Fräulein Pingelschnitz ihren gefallenen Hut.
Ich stehe da und glotze. Immer noch.

Bis meine Freundin sich mir zuwendet und mit einem Watte gefüllten Mund spricht: „Das ist Frau Schubert vom Veranstaltungszentrum! Mensch“, sie haut mir mächtig auf die Schulter und versucht so meinem Gedächtnis auf die Sprünge zu helfen. „Die Karten für die Philharmonie!“
Die Dame nimmt meine Hand.
„Setzen Sie sich doch alle zu mir. An meinem Tisch ist jede Menge Platz.“
Meine Freundin findet das toll und sitzt schon und fragt mich, was denn mit meiner alten Bekannten sei. Vielleicht wolle das Leibchen - sie betont es zu sehr, wie ich finde - ja auch an unserer kleinen Gesellschaft teilnehmen, gibt sie mir zu bedenken.

„Ja, bitte. Fragen Sie sie ruhig! Ich würde so jemanden auch gerne kennen lernen.“ Fräulein Pingelschnitz alias Frau Schubert lächelt. Umd unter ihrem treuen Blick windet sich ein Regenwurm und sucht in einem Erdloch zu verschwinden.
 

Ralph Ronneberger

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo Katrin,

da eilt man nun von Text zu Text - von Geschichte zu Geschichte und versucht hin und wieder, einen mehr oder minder geistreichen Kommentar los zu werden. Auch diesmal legte ich voller Begeisterung die Finger auf die Tasten, wollte gerade loslegen und... da schoß es mir durch den Kopf: "Laß es sein! Was du hier an die Frau zu bringen versuchst, ist durchaus entbehrlich."
Ja, es gibt Texte, die kann man nur genießen und sagen: "Kommentar überflüssig."
Könnte es sein, daß all die anderen (ausgenommen die kurz und knapp den Nagel auf den Kopf treffende flammarion), die diese Geschichte gelesen haben, genauso dachten und sich unbemerkt und vielleicht ein wenig ehrfurchtsvoll davon schlichen, ohne Laut zu geben? Muß wohl so gewesen sein. Anders kann ich mir die magere Reaktion auf deine quirlige Geschichte wahrlich nicht vorstellen.

Gruß Ralph
 



 
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