Verstörte Aufzüge

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rolfreist

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Es war das höchste, das größte, das modernste Hochhaus des Landes. Bei Sonnenuntergang glitzerte es wie ein fremder Planet, und sein Schatten legte sich über die ganze Stadt. Es war ein Symbol für Macht, Fortschritt und Zukunft.Der imposante Eingang mit Marmorboden, riesigen Fenstern und großen expressionistischen Bildern sollte den Besuchern das Gefühl von Zuversicht, Vertrauen und Stärke vermitteln.

In den oberen Stockwerken befanden sich Banken, Versicherungen, Anwaltskanzleien und bedeutende Unternehmen. In den unteren Etagen waren sowohl Handwerksbetriebe wie Tischler, Schuster, Uhrmacher, Schlosser, Fotografen und Friseure als auch kleine Händler untergebracht, die Dekoartikel, Naturkosmetik, Kunsthandwerk, Modeartikel und zahlreiche Gebrauchtwaren verkauften. Praktisch alles konnte man in den untersten Stockwerken kaufen oder reparieren lassen. Neben den Handwerkern und Händlern gab es zudem eine Cafeteria, ein Musikstudio, ein kleines Theater und ein Altersheim. Es herrschte eine bunte Mischung verschiedener Kulturen.

Zehn Aufzüge bewegten Tonnen von Menschen nach oben und nach unten, manchmal auch ganz weit nach unten, in die Katakomben des Kolosses, wo sich Lager- und Maschinenräume befanden. Norbert war einer der Aufzugsführer. Seine Aufgabe bestand darin, das gewünschte Stockwerk per Knopfdruck anzufahren und sicherzustellen, dass alle Passagiere wohlbehalten ihr Ziel erreichten. Bei einer Panne sollte Norbert stets die Ruhe bewahren und dafür sorgen, dass die Gäste sicher aus dem Schacht klettern konnten.

Er kannte seine Gäste gut, doch er unterhielt sich nie mit ihnen. Die Erfolgreichen der obersten Etagen nannte er die Uniformierten. Sie sahen alle gleich aus. Bei den jungen Männern waren es die kurz geschnittenen Haare, der dunkle Anzug – höchstens dunkelblau –, das weiße Hemd, blank polierte Schuhe und immer das Gefühl, etwas erledigen zu müssen. Die meisten trugen Ohrstöpsel und unterhielten sich mit Unbekannten. Der Satz, den er am häufigsten von ihnen hörte, war: „Dann haben wir sie im Sack.“

Bei den jungen Frauen sah es etwas anders aus. Sie waren modischer gekleidet und verzichteten meist auf Ohrstöpsel. Dennoch nutzten sie die Aufzugsfahrt, um ihr Make-up zu retuschieren und tippten fleißig auf ihren Handys. Beide Geschlechter waren perfekt auf die Ansprüche ihrer Gesellschaften angepasst und dachten nur an eines: die Karriere.
Doch nicht nur ihr Aussehen war gleich, sie verhielten sich auch ganz ähnlich. Tag für Tag fuhren sie mit demselben Aufzug, zur selben Uhrzeit, immer in dasselbe Stockwerk. Am Abend, wiederum zur exakt gleichen Zeit, verließen sie das Gebäude wieder mit dem gleichen Aufzug, vom gleichen Stockwerk. Eine unsichtbare Hand lenkte sie Tag für Tag, sogar am Wochenende, um ihre Arbeit zu erledigen. Ihre Vorgesetzten fuhren nicht mit dem Aufzug. Sie landeten mit dem Hubschrauber auf dem Dach und mieden die Enge der Straßen, das Gedränge der Menschen und den Zwang, sich zu sozialisieren.

An einem Sonntagabend ging das Gewitter in einen Sturm über. Winde von bis zu zweihundert Stundenkilometern fegten über die Stadt und ließen Dachhäuser, Äste und Müllcontainer über die Straßen fliegen. Dann kam der Regen, gefolgt von hunderten Blitzeinschlägen und Donner.Einer dieser Blitze traf den Wolkenkratzer, und die Energie durchdrang das Innere des Gebäudes bis zu den Schaltschränken der Aufzüge, reprogrammierte alle Systeme und verursachte an mehreren Stellen Kurzschlüsse, die das Gebäude in Dunkelheit versetzten.

Wegen der Überflutung kamen die ersten Uniformierten bereits um sechs Uhr drei, drei Minuten zu spät, und mussten anstehen, da nur drei Aufzüge betriebsfähig waren. Margot hatte es eilig. Sie war eine erfolgreiche Anwältin und wollte mit ihrem Boss noch die letzten Züge der Strategie eines Patentfalls durchgehen, der einen Großkonzern vor dem Konkurs retten konnte. Sie drängte sich nach vorne und erreichte mit letzter Kraft und geschickt eingesetzten Ellbogen den Aufzugschacht. Dort saß Norbert, der Margot gut kannte, und drückte den Knopf für das 63. Stockwerk. Sie sprach nicht mit ihm, doch er teilte allen Gästen mit, dass der Aufzug zwar Licht hatte, das Gebäude durch den Stromausfall aber völlig dunkel sei. Sogar die Notlichtanlage war durch den Blitzeinschlag beschädigt worden.

Die Arbeiter der untersten Stockwerke sollten an diesem Tag ihren Arbeitsplatz über die Treppen erreichen. Sie wurden angewiesen, die hintere Tür des Gebäudes zu benutzen, damit sich der Haupteingang nicht überfüllte.

Der Aufzug schloss die Tür und schoss wie eine Rakete nach oben. Margot war erleichtert. Die paar Minuten, die sie zu spät gekommen war, würde sie mit einem schnelleren Schritt und einem strahlenden Lächeln wieder gutmachen. Der Aufzug hielt an, sie stieg sofort aus und rannte los in den dunklen Flur. Plötzlich stolperte sie über etwas und fiel. Ihre sorgfältig sortierten Papiere flogen auf den Boden, und sie bemerkte, dass einer ihrer Absatzschuhe kaputt war. Sie war gegen etwas gestoßen, das sich an der Ecke versteckt hatte. Neugierig ging sie hin und sah ein kleines, verängstigtes Mädchen. Das Mädchen hatte sich im Dunkeln verlaufen und wollte zurück zu ihren Großeltern. Margot beruhigte das Mädchen und bat sie, ihr zu helfen, die Papiere im dunklen Raum aufzusammeln. Beide knieten sich hin und wühlten in den Papieren. Das kleine Mädchen hatte Angst vor dem Dunkeln und suchte immer Margots Nähe. Jetzt erst realisierte Margot, dass sie im falschen Stockwerk ausgestiegen war.
Nach einer Weile suchten beide gemeinsam den Weg im Dunkeln und fanden einen Eingang. Es war ein Altersheim. Das kleine Mädchen rannte zu ihren Großeltern und sagte, sie habe eine neue Freundin gefunden, und stellte Margot der Familie vor. Sie alle umarmten sich, und plötzlich fühlte sich Margot wie zu Hause. Es war eine Geburtstagsfeier: Die älteste Bewohnerin im Altersheim wurde stolze 103 Jahre alt. Neben Kuchen, Getränken und Schlagermusik hatten die Bewohner der Jubilarin zahlreiche Geschenke gemacht und für sie ein Theaterstück eingeübt, das ihr Leben darstellen sollte.
Margot war fasziniert von dieser Welt. Schon immer mochte sie Kinder. Mit siebzehn hatte sie sogar ein Volontariat mit Kindern aus ärmeren Verhältnissen gemacht.
Doch die Karriere stand immer im Vordergrund, und sie hatte eigentlich keine Zeit, jemanden zu finden. Wo und wie denn auch? Dafür fehlte ihr einfach die Zeit.
Sie wollte sich gerade verabschieden, doch das Theaterstück begann. Es zeigte die Geschichte einer Frau, die ein Jahrhundert gelebt hatte. Margot sah, wie vergänglich alles war. Was früher ein Highlight war, war heute bereits „mega out“. Alles so schnelllebig, und doch dreht sich die Welt unendlich weiter.

Die Zeit für die Menschen ist so viel wichtiger als... als was? Sie konnte ihre Gedanken nicht zu Ende führen, denn sie selbst hatte nichts oder wusste nicht, wonach sie suchen sollte.
Was machte sie sonst noch außer zu arbeiten? Der Gedanke setzte sich jetzt fest. Sie genoss die Atmosphäre, auch wenn alle fremd waren. Das kleine Mädchen saß neben ihr, hielt ihre Hand, lachte und klatschte. Wie lange war es her, dass sie sich nicht mehr so geborgen gefühlt hatte?Plötzlich klatschten alle, standen auf und umarmten das Geburtstagskind. Für Margot war das die beste Gelegenheit, sich zu verabschieden. Das kleine Mädchen führte sie bis zum Ausgang, rannte dann die Treppe hoch, öffnete die Tür und umarmte Margot.

Als die Tür zur Treppe zuschlug, kam ein Mann die Treppe herunter und blieb vor Margot stehen. Beide schauten sich im Licht der Notlampe an. Sie wollten etwas sagen, konnten es im Moment aber nicht. Er lud sie zu einem Kaffee ein.
Margot hatte völlig das Zeitgefühl verloren und genoss jetzt die neue Bekanntschaft. Eine Stunde später war sie endlich wieder an ihrem Arbeitsplatz – verwirrt, mit den Dokumenten, die keine Ordnung aufwiesen, und auf ihren Lippen spürte sie den Geschmack eines Kusses, der sie träumen ließ. Sie wusste nicht mehr, was sie als Nächstes tun sollte. Die Ordnung, die Disziplin, die Richtung – all das war dahin.

Am Morgen erging es allen uniformierten Mitarbeitern ähnlich wie Margot. Sie besuchten die unteren Etagen und entdeckten eine für sie völlig neue Welt. Dort ließen sie sich die Haare schneiden, färben und Locken anbringen, schmückten ihre Haut mit Tattoos und kauften Kleidung, die sie deutlich jünger erscheinen ließ. Einige nahmen an einer Probe einer Theateraufführung teil und spielten live mit. Sie unterhielten sich mit Menschen außerhalb ihres Arbeitskreises, und die meisten wollten gar nicht mehr von dort weg. Sie lernten Trommeln, Kochen, verschiedene Handarbeiten und Handwerke. Dabei schmutzten sie sich ein und ließen ihrer Lebensfreude freien Lauf.

Nach diesem Morgen wurden die Besuche in den untersten Etagen zum Alltag. Sie schlossen Freundschaften und lernten voneinander.

In den obersten Etagen wurde bemerkt, dass sich die uniformierten Teams verändert hatten. Die Krawatten wurden nicht mehr millimetergenau gebunden, einige Männer ließen sich Tagesbärte wachsen, und hier und da tauchte sogar ein hellblauer Anzug auf. Ein Oberhaupt behauptete, auf einer Glatze ein Tattoo entdeckt zu haben. Es handelte sich um subtile, fast minimale Veränderungen, doch die Unruhe in den Köpfen der Antreiber und Hubschrauberflieger war sehr beunruhigend. Die Mitarbeiter traten anders auf, irgendwie selbstbewusster.

Das sollte – nein, das musste – unterbunden werden. Die erste Warnung waren Mitarbeitergespräche, später folgten Entlassungen. Als das alles nicht richtig funktionierte, suchte man die Ursache des Problems.

Alle Aufzugsführer, auch Norbert, wurden mit sofortiger Wirkung entlassen und durch eine Hightech-Maschine ersetzt. Diese erkannte die Gesichter der Mitarbeiter und gewährte den Zugang ausschließlich zu ihren Arbeitsplätzen. Dazu wurden die Treppen gesperrt.Der Algorithmus, der alles steuerte, ließ nur ein Stockwerk pro Mitarbeiter zu, sodass der Pizzabote, der Einzige, der jeden im Gebäude kannte, der Zutritt verweigert wurde.
Das neue System war außerdem mit einer KI verbunden, die tausende Datenpunkte von jedem Mitarbeiter verfügte und somit jederzeit wusste, was dieser gerade vorhatte. Bei minimalen Abweichungen wurden automatisch Korrekturen vorgenommen, um das Leben jedes Einzelnen so zu steuern, dass nichts und wieder nichts aus den Fugen geriet.

Jetzt flogen wieder die Hubschrauber wie Götter über den Wolken. Die Welt, die sie erschaffen hatten, war wieder in Ordnung. Das Trauma vom Blitzeinschlag war mit modernster Technik überwunden, und die Menschen konnten ohne Ablenkung ihrer Arbeit und ihrer Karriere nachgehen.
 

Aniella

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Hallo Rolf,

wieder eine interessante, kleine Geschichte von Dir.

Sie könnte als Metapher dafür stehen, dass einem – ausgelöst durch etwas Unverhersehbares – die Augen geöffnet werden, für einen Blick hinter die Kulissen der Gewohnheit. Schade, dass am Ende alles zurückfällt und "sie" sich das alles gefallen lassen (müssen).

Ein paar kleine Fehlerchen sind noch enthalten (als das Gewitter beginnt, fehlt eine Leerstelle nach dem Punkt und bei den Auslassungszeichen (…) ebenfalls davor, und ich bin nicht sicher, aber ich würde das "s" bei den Aufzugführern weglassen, jeder kann doch nur einen führen?), außerdem stolpere ich noch über andere Kleinigkeiten:
Der Titel spricht von "verstörten Aufzügen". Damit vermenschlichst Du die Aufzüge, die zwar eine Rolle spielen, aber nicht solch eine, oder? Gestört würde besser passen nach meinem Empfinden.
Die Einführung, Beschreibung zu Beginn ist mir ein wenig zu lang, aber das kann persönliches Empfinden sein. Treffend ist sie in jedem Fall.
Dafür stören mich kleine unlogischen Folgerungen. Wenn ich noch nachvollziehen kann, dass Margot im allgemeinen Durcheinander an dem Morgen im falschen Stockwerk aussteigt, so häufen sich die Zufälle danach auffällig. Auch der Mann (wo gehört der hin?) müsste sich verfahren haben. Hat Norbert so oft nicht aufgepasst? Warum ist das Kind ausgerechnet nach einem Gewitter allein unterwegs? Okay, kann alles sein.
Merkwürdig finde ich, dass Margot nicht nach dem Namen des Kindes fragt, tut man das nicht automatisch, um Vertrauene aufzubauen?
Am Morgen erging es allen uniformierten Mitarbeitern ähnlich wie Margot. Sie besuchten die unteren Etagen und entdeckten eine für sie völlig neue Welt.
An dieser Stelle war ich dann ziemlich überrascht, denn wieso fühlen sich plötzlich alle Uniformierten bemüßigt, die unteren Etagen zu inspizieren? Sie hatten doch keine Begegnung im falschen Stockwerk und Margot wird von ihrer nichts erzählt haben. Mir fehlt da der ausschlaggebende Moment, die drei Minuten (oder ein paar mehr) Verspätung werden es nicht gewesen sein.

Die Säuberungsaktion war wieder folgerichtig und hat ja leider auch problemlos funktioniert.

Am Ende aber schleicht sich wieder etwas ein, was ich unfreiwillig komisch fand:
Jetzt flogen wieder die Hubschrauber wie Götter über den Wolken. Die Welt, die sie erschaffen hatten, war wieder in Ordnung.
In diesem so aufgestellten Bezug, erscheinen plötzlich die Hubschrauber als die "denkenden Oberen", die alles erdacht und gelenkt haben. Dabei sind es doch die Insassen in ihnen, die sich "ihr Werk" wieder zufrieden von oben betrachten, nachdem alles wieder seine Ordnung hat.

Alles in allem hat mir die Geschichte aber gefallen und sie regt zum Nachdenken an. Ich habe auch immer mal das Gefühl, dass aufgehört wird nachzudenken, wenn doch alles so schön einfach von oben geregelt wird. Wo führt es hin? Warum laufen alle wie die Schäfchen zur Schlachtebank hinterher, weil gerade etwas so schön glänzt vor der Nase? Ist es Bequemlichkeit, Verblendung oder Unwissenheit?

LG Aniella
 

rolfreist

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Hallo Aniella,
danke für dein Feedback. Über den Titel habe ich mir nicht allzu viele Gedanken gemacht. Im Kern ging es mir um das Prinzip der Durchmischung und Neuordnung – eine Idee, die ich einmal in einem Kunstwerk gesehen habe.

Das Mädchen sollte tatsächlich einen Namen tragen, und sie sollte sich sogar wieder verabreden. Der Mann, dem sie an der Treppe begegnet, gehört ebenfalls zu den unteren Stockwerken. Mädchen, Großmutter und Mann stehen als Symbole für Familie, Liebe und Zugehörigkeit.

Doch wie viel wird für eine Karriere, für den Halt in einer Routine aufgegeben? Unser Erbgut repliziert sich fast ein Leben lang auf dieselbe Weise. Erst wenn sich Fehler einschleichen, beginnt das Sterben. Am Ende bleibt also nichts wirklich gleich. Viele wurden entlassen, und die Kontrolle durch die Uniformierten wurde noch strenger. Nicht einmal der Pizza-Bote erhält noch Zutritt.

Der Mensch der Routine, der Mensch der Karriere – beide werden fremdgesteuert. Früher gab es Ideale, heute herrschen Systeme.

Liebe Grüße
 



 
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