Verstrickt mit Hedwig

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Foenix

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Der Name der Stadt, in der ich die letzten sechseinhalb Jahre meines Lebens gewohnt und – wenn Sie so wollen – gearbeitet habe, tut nichts zur Sache. Abgesehen davon natürlich, dass ich dort die letzten vier Jahre ein Stockwerk über der Wohnung von Hedwig Kremer untergebracht war, jener quasi „Hauptperson“ in dieser – wie soll ich sagen - „Begebenheit?“ kurz vor jenem Herbst, der in die deutsche Geschichte eingehen sollte. Sie können ihn auch aus der Akte entnehmen, er ist kein Geheimnis im Gegensatz zu vielem anderen, was in diesen Akten steht. Es war – und ist – einer dieser Orte, den diejenigen, welche ihn zum ersten Mal betreten – zumal wenn sie aus Westdeutschland kommen - mit einer ungläubigen Mischung aus Erstaunen und Ekel betrachten: welches menschliche Hirn war imstande gewesen, diese scheußlichen giftgrünen Fassaden zu einem erstrebenswerten Ideal sozialistischer Stadtplanung zu erklären? Einige dieser arroganten Eroberer lassen ihrem Abscheu freien Lauf, spucken aus, schütteln sich und wenden sich dann kopfschüttelnd ab um wieder in ihren Mercedes oder ihren BMW zu steigen – bereit, diese in ihren Augen monströsen Bauten für einen nach ihren Maßstäben geringen Betrag zu kaufen um dann auf eine Art und Weise damit „Profit zu erwirtschaften“, die mir bis heute fremd und unverständlich geblieben ist. Andere dagegen versuchen sich in falsch verstandener Pietät, murmeln etwas von „und darin müssen diese armen Menschen leben“ und suchen dann schleunigst das Weite in diesem neuen Teil ihrer alten Bundesrepublik – denn das Enge, so wie hier, wollen sie nicht sehen, das einzig Erstrebenswerte hier im Osten sind in ihren Augen die Felder, Wälder und natürlich die Seen, ja, die Seen, da fangen sie dann an zu schwärmen: „Warst Du schon am Rangsdorfer See? Mein Gott, so was Schönes, das würde man hier gar nicht vermuten, ganz klares Wasser und die vielen Zugvögel im Herbst, da solltest Du auch mal...“

Ich schweife ab, vielleicht, weil mir die „Begebenheit“ mit Hedwig – und natürlich auch Wolfgang - unangenehm ist, ich mich nicht erinnern mag und die „Sache“ gerne „auf sich beruhen lassen würde.“ Sie denken vielleicht, dass es sich hierbei nur um so eine Eifersuchtssache unter Frauen handele, die um denselben Mann konkurrieren. Glauben Sie mir, so verhält es sich nicht, mein Verhältnis zu Hedwig – und erst recht zu Wolfgang, dem Mann in dieser Geschichte – ist ein anderes, es ist distanzierter und zugleich intimer und gerade deshalb so prekär.
Ich verstehe Ihren ungläubigen Blick, spüre auch Ihre langsam wachsende Ungeduld, die nur zu verständlich ist, denn aus dem bisher Gesagten ergibt sich noch nicht zwangsläufig die Dringlichkeit meines Anliegens. Doch ich weiß etwas, was Hedwig noch nicht weiß und wenn die Geschichte anders verlaufen wäre, auch nie erfahren hätte. Nun droht ans Licht zu kommen, außer Kontrolle zu geraten, was sich jahrelang in einem gut austarierten Gleichgewicht befunden hat – ein Gleichgewicht aus wohl proportioniertem Misstrauen, Neid, Sehnsucht und Kalkül.
Doch der Reihe nach, es muss alles der Reihe nach beschrieben und nichts Wichtiges darf ausgelassen werden, damit Sie die Situation richtig einschätzen und bewerten können. Ich werde Ihnen auch das eine oder andere – wie würden Sie das nennen? - „schlüpfrige“ Detail nicht ersparen können. Es liegt sozusagen in der Natur der Sache bzw. meines Berufsstandes. Das überrascht Menschen aus Westdeutschland ja manchmal: das es hier so etwas wie Prostitution gab, unter den Augen und mit Billigung des Staates. Die Aufgeklärten unter Ihnen behaupten ja gerne, sie wüssten Bescheid darüber, dass in der DDR eine größere „sexuelle Liberalität vorherrschte“ – so sagte das letztens einer in einer Fernsehsendung, die ich gesehen habe. Daraufhin meinte ein anderer Diskussionsteilnehmer: „Natürlich ha´m die mehr gevögelt als wir. Die hatten ja sonst wenig Spaß und nix zu tun. Außerdem war ein Kind ja die Eintrittskarte zu ´ner eigenen Wohnung.“ Ich wundere mich, wie viele Menschen plötzlich über uns Bescheid zu wissen glauben, die Zeit ihres Lebens nie in der DDR gelebt haben. Doch ich bin ja nicht hier um Ihnen von meinen Irritationen vorzujammern. Es gilt vielmehr rasch und entschlossen zu handeln. Die Zeit drängt, deshalb nun ohne weitere Umschweife zur Sache: Vor ein paar Wochen traf ich Hedwig im Treppenhaus auf dem Weg in den Keller, wo sie sich - mit Schippe und Kohleneimer bewaffnet – die nötige Wärme für diesen frostigen Februar in ihre Wohnung schaufeln wollte. Über ihren verwaschenen Arbeitskittel hatte sie eine dunkelblaue Strickjacke gezogen, außerdem den bordeauxroten Schal um den Hals geschlungen. „Bordeauxrot“ - das hatte sie in einer West-Zeitschrift gelesen, genauer gesagt stand es auf der Strickanleitung, die ihre Cousine aus Hamburg ihr geschickt hatte. „Das ist bordeauxrot“, sagte sie stolz als sie den Schal zum ersten Mal außerhalb der Wohnung zur Schau stellte, „so was trägt man jetzt in Hamburg“. Das war immer ein kritischer Moment für sie, wenn sie wieder ein neues Strickwerk vollendet hatte und es nun den skeptischen Augen der Nachbarschaft aussetzte.

Ich komme schon wieder vom Thema ab, es tut mir leid, ich stehle Ihre Zeit, dabei will ich ja etwas von Ihnen, wie ungeschickt von mir, bitte entschuldigen Sie. Also, Hedwig Kremer, wie sie mit dem Kohleneimer und ihren Stricksachen – gestrickt hat die Hedwig schon immer, das war schon von Kindheit an ihr ein und alles, zumindest soweit ich das beurteilen kann, ich lernte sie ja erst kennen als wir beide schon Mitte zwanzig waren. An jenem Tag jedenfalls eröffnete sie mir, dass sie bei der Behörde Einsicht in ihre Akte nehmen wolle. Ich nahm diese Information äußerlich unbeeindruckt zur Kenntnis. Zugleich aber wurde mir schlagartig klar, was dies für das unsichtbare Dreieck, dieses Beziehungsgeflecht, von dem Hedwig nichts ahnte, bedeuten würde. Nach zwei Tagen Bedenkzeit kam ich zu dem Schluss, dass ich mich einmischen, sie selbst wie auch Wolfgang und mich vor Hedwigs Wissensdurst beschützen müsse – die Geschichte von König Oedipus kam mir mehr als einmal in den Sinn! Dieser Mythos hat mich schon früher fasziniert, in der Schule – aber nicht wegen des Vatermordes oder der Schändung der eigenen Mutter, das war mir stets zu psychologisch überladen. Nein, mich interessierte die Frage, wann die Wahrheit dem Menschen mehr schade als nutze. Der König forschte und forschte ja auch immer weiter und brachte sich selbst mit dieser Unbestechlichkeit, diesem allzu gründlichen Aufklärungswillen dazu, die Wahrheit zu entdecken, die er dann nicht zu ertragen im Stande war. Ich will nicht, dass Hedwig sich – oder jemand anderem - die Augen aussticht!
Es ist notwendig, dass Sie mich – trotz Ihrer gewiss plausiblen moralischen Vorbehalte – anhören, damit das, worum ich Sie bitten werde, auch in Ihren Augen nachvollziehbar, ja unumgänglich erscheint und Sie – ich sehe Ihnen an, dass Sie ein gutes Herz und einen scharfen Verstand haben – Sie sich also bereit erklären, etwas verschwinden zu lassen, was zur Aufklärung über die Geschehnisse in der DDR wenig beiträgt, für das Leben von Hedwig und mir aber von immenser Bedeutung ist. Deshalb bin ich hier und habe mir unter Vorspiegelung falscher Tatsachen – denn die von mir behauptete Dringlichkeit ist so objektiv betrachtet natürlich nicht gegeben – diesen Termin bei Ihnen erschlichen. Ich hoffe, Sie können mir verzeihen.
Ich wurde damals, also 1984 vom Ministerium des Inneren abgeordnet um in diesem Bezirk Funktionären der Partei und insbesondere Mitarbeitern des MfS das Leben zu „versüßen“. Natürlich war es auch meine Aufgabe, Informationen zu sammeln, was – so die Vorstellung meiner Vorgesetzten – bei Männern im Zustand sexueller Erregung umso einfacher sei, weil sie dann unvorsichtig und nicht „Herr ihrer Sinne“ sind, wie der Bezirkssekretär einmal meinte. Er benutzte dabei allerdings konkretere Sprachbilder und drastischere Worte, die ich hier nicht wiederholen möchte.
Wolfgang war einer meiner ersten Kunden und besuchte mich schon ungefähr eine Woche, nachdem ich meine Wohnung im vierten Stock des Plattenbaus bezogen und mich an die Farbe der Fassade nur so eben und eben gewöhnt hatte. Dieser nette, scheinbar etwas einfältige Mittfünfziger war auch im Zustand nicht-sexueller Erregung über die Maßen naiv. Das machte ihn wohl auch in Hedwigs Augen besonders schützens- und damit begehrenswert. Sie hatte auf diesen alleinstehenden Herren aus dem Nachbarblock offenbar schon länger ein Auge geworfen. Für mich bedeutete diese Unbedarftheit – die ich mir angesichts seiner riskanten Absichten bis heute kaum erklären kann - vor allem, dass ich mich – während er nach unserem Beischlaf unter der Dusche stand – in aller Ruhe seiner Kleidung und seiner Aktentasche widmen konnte. Dabei fiel mir dann auch jenes Schriftstück in die Hände, von dem ich eine handschriftliche Kopie erstellte, die sich nun in Hedwigs Akte befindet. Dieser Brief belegt, dass er sich Hedwig in der Absicht näherte, mit Hilfe eines Fluchthelfers - einem Bekannten jener Cousine aus Hamburg - die DDR widerrechtlich zu verlassen. Sie werden verstehen, dass eine solche Information eine Frau wie Hedwig – die Zeit ihres Lebens weder einen Gatten noch Kinder hatte und deren ganzes Hoffen und Verlangen sich auf diesen einen Mann, diesen „ihren“ Wolfgang konzentrierte –, dass eine solche Information sie in eine tiefe Krise stürzen und zu unüberlegten Handlungen führen kann, die auch mich betreffen, vielleicht gar treffen würden (denken Sie an die Augen!). Wolfgang hat sich gleich nach der Maueröffnung in den Westen abgesetzt. Ich selbst sehe mich zu einem solchen Schritt nicht in der Lage. Deshalb bitte ich Sie flehentlich, aus Hedwig´s Akte die Abschrift dieses Briefes und sämtliche sonstigen Hinweise zu tilgen, die eine Verbindung von Wolfgang und mir belegen würden (Bedenken Sie: Sie retten damit Existenzen, vielleicht sogar Menschenleben!).
Für diese humane Geste wäre ich Ihnen zu tiefstem Dank verpflichtet. Bitte entscheiden Sie selbst.
 
Ja, nun ja, schwierig. Was mir sehr gefällt, ist diese Verzögerungstaktik: „ich spüre auch Ihre langsam wachsende Ungeduld, die nur zu verständlich ist, denn aus dem bisher Gesagten ergibt sich noch nicht zwangsläufig die Dringlichkeit meines Anliegens“ und "Ich komme schon wieder vom Thema ab, es tut mir leid, ich stehle Ihre Zeit". Auch die umständlich vorgetragene Bitte hat ihren literarischen Reiz. Was aber dem Text aus meiner Sicht massiv schadet, ist der tumbe Blick auf die Mitmenschen, in dem Fall auf Westdeutsche. Die darf man gerne angreifen und soll man sogar. Es ist aber immer sehr, sehr langweilig, wenn man den Gegner dümmer macht als er ist, ihn also letztlich zur Witzfigur degradiert. Eroberer, die vor Abscheu angesichts giftgrüner Fassaden auf den Boden spucken, das ist einfach blöd, weil albern übertrieben. Auch nicht gut sind solche Sachen wie „wie würden Sie das nennen? - „schlüpfrige““.Ein bisschen mehr gedankliche Schärfe und ein bisschen weniger Selbstgerechtigkeit - dann wäre das hier vielleicht ein guter Text geworden.
 



 
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