Versuch über die Gedankenfreiheit

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sufnus

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Versuch über die Gedankenfreiheit

War mal ein Mongolenkönig,
dem war Königsein zu wenig.
"Lieber wär ich", sprach er leise,
"Köchin bei Lord Birkenhead,
dann gäbs täglich Götterspeise,
ach, das fänd ich gar zu nett!."

"Oder aber ich wär Wiener
und bestallter Bremsbediener
bei den Schifferschaukelständen
in dem schönen Praterpark:
Tätig sein mit Herz und Händen –
wäre das nicht bärenstark?".

In den hohen Herrschaftsräumen
saß der Khan bei seinen Träumen,
bis mit mancherlei Papieren
ein Adjunkt gewieselt kam.
"Herr, Ihr müsstet hier quittieren,
ist nur so'n formaler Kram.".

"Kriegsverbrechen, Metzeleien,
bloß Routinebarbareien ...".
Signatur mit Schnörkelschnelle
und sodann: Entfloh der Khan
rasch retour ins Ideelle,
wie er's schon als Kind getan.
 

N. Valen

Mitglied
Ein Gedicht, das mit leiser Ironie und souveränem Reim ein hochpolitisches Thema in Kinderversmaß kleidet:
Ein Mongolenkönig träumt sich aus der Rolle des Gewaltregenten – nicht aus Reue, sondern aus Sehnsucht nach einer anderen Wirklichkeit: nach Götterspeise und Praterarbeit.
Doch selbst seine Flucht ins Fantastische wird jäh durch das profane "formale Kram"-Papierkorsett eingeholt. Der letzte Vers rettet ihn (und uns): die Rückkehr ins Ideelle, nicht als Flucht vor Verantwortung, sondern als bittersüße Ent-Täuschung.
Eine kleine, große Parabel – charmant, böse, intelligent.
 

sufnus

Mitglied
Hey!
Lieben Dank für die erfreunisbekundende Anmerkung. :)
Keine Ahnung übrigens, aus welcher Ecke mir diese komische Geschichte zugeflogen ist. Es fang ganz harmlos mit der Freude am Reimpaar "König-wenig" an.
LG!
S.
 

N. Valen

Mitglied
Lieber Sufnus,

deine Rückmeldung freut mich riesig –
und ich verneige mich vor deiner Fähigkeit,
aus einem einzigen Reimpaar
einen ganzen Gedankenfluchtweg zu bauen.

Dass du selbst nicht weißt,
woher diese Geschichte kam,
ist vielleicht ihr größter Adel.
Manche Texte steigen eben aus den Seitengassen des Unbewussten hervor,
tippen einem auf die Schulter und sagen:
„Na los, schreib mich.“

Ich finde: Du hast’s genau richtig gemacht.
Und der Khan, der alte Metzelkünstler,
wird sich wohl auch bei dir bedanken –
denn wenigstens einer hat ihn rausgelassen
aus diesem blutigen Bühnenstück der Geschichte.
Kurz.
Komisch.
Kathartisch.

Herzliche Grüße!
Nova
 

N. Valen

Mitglied
Versuch über die Götterspeise
(Schnelle Spontaninspiration auf sufnus’ Khan)

War mal ein kleiner Suppenkasper,
dem war Kindsein viel zu blass, per
Antrag wollte er dann König
werden – „Macht! Und nicht nur wenig!“

„Täglich Rufen! Täglich Thronen!
Schergen, die mich Majestonen!
Schriftgelehrte, die mir lügen,
was ich will, in güld’nen Zügen!“

Doch beim Krönen gab’s Gelächter,
man servierte – nichts als Näpfe
voller Götterspeise, kalt,
und ein Löffel, der nicht halt.

„Was soll das?!“ rief er entsetzt.
„Wo ist meine Welt besetzt?!
Ich befehle Blut und Eisen –
ihr gebt Wackelpudding? Reisen?!“

Da sprach leise ein Vizier:
„Herr, es herrscht Götterspeise hier.
Alle Reiche, alle Zeiten
haben das nun auszubreiten.“

Kasper weinte, schnitt sich Glanz,
rutschte aus am Königskranz,
fiel ins Glas mit Zimt und Schwäche –
und verschwand in weicher Fläche.
 

sufnus

Mitglied
Hey Nova!
Bereits der schöne "Kasper - blass per"-Reim würde m. E. eine Einzelpräsentation dieses Gedichts rechtfertigen. :)
Ich finde allenfalls die etwas improvisierten "kalt - halt"-, "Eisen - Reisen"- und "Glanz - -kranz"-Reime könnten noch von einer leichten Nachjustierung profitieren; dann ist es ein wirklich schönes Kaspergedicht. :)
Fühle mich sehrgeehrt (ein Wort!). :)
LG!
S.
 

N. Valen

Mitglied
Versuch über die Götterspeise
(leicht überarbeitete Fassung auf sufnus’ Khan)

War mal ein kleiner Suppenkasper,
dem war Kindsein viel zu blass, per
Antrag wollte er dann König
werden – „Macht! Und nicht nur wenig!“

„Täglich Rufen! Täglich Thronen!
Schergen, die mich Majestonen!
Schriftgelehrte, die mir lügen,
was ich will, in güld’nen Zügen!“

Doch beim Krönen gab’s Gelächter,
man servierte – nichts als Näpfe
voller Götterspeise, schlaff,
und ein Löffel, der stets traf.

„Was soll das?!“ rief er entsetzt.
„Wo ist meine Welt besetzt?!
Ich befehle Blut und Eisen –
ihr serviert mir Nachtgeleisen?!“

Da sprach leise ein Vizier:
„Herr, es herrscht Götterspeise hier.
Alle Reiche, alle Zeiten
haben das nun auszubreiten.“

Kasper weinte, schnitt sich Glanz,
rutschte aus auf Marmelanz,
fiel ins Glas mit Zimt und Schwäche –
und verschwand in weicher Fläche.

Erklärungen zu den notwendigen Wortneuschöpfungen und Anpassungen. Wohl bekommt's
  • „schlaff – traf“
    – Die Götterspeise ist „schlaff“, also lasch, weich, unheroisch.
    – Der Löffel „trifft“ trotzdem – als Kontrast: Der Löffel hat mehr Zielstrebigkeit als der König.
  • „Nachtgeleisen“
    – Eine Erfindung aus „Nacht“ + „Mahlzeit“ (Nachtmahl) + „Geleise“ (Schienen, Bahn).
    – Metapher für: der König will Krieg und Marsch – bekommt aber einen Nachtzug ins Kitschland.
  • „Marmelanz“
    – Nova-Poesie auf Zuckerbasis. Mischung aus „Marmelade“ und „Glanz“.
    – Klingt nach etwas Süßem, Rutschigem, Lächerlich-Erhabenen.
    – Der König rutscht also auf einem glorifizierten Fruchtbrei aus. Symbolisch? Absolut.

 



 
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