Verwachsen werden

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Kolle Jander

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Das Gegenteil von Nackt

Wir lagen da. Beide schwitzend. Beide atmend. Erfüllt leer. Von Leere erfüllt? Wir lagen so noch eine ganze Weile, bis sie schließlich sagte: „Zigarette?“
Auf dem Balkon war es kalt. Die Zigarette tat gut. Der Wein auch. Das Gespräch kreiste erneut um Vergangenes und die schönen, ach die so wunderbaren Dinge im Leben.
Was ist es doch ein Privileg in dieser Zeit, an diesem Ort geboren zu sein. Hier zu leben, wo andere sich wünschen zu sein. Der ganze verdrehte Kram.
Ich hatte mich bereits angezogen, sie hatte sich bloß eine Decke umgehangen. Sie lag noch einmal für eine kurze Zeit in meinem Arm, dann ging ich.
Abschied an der Tür. Kurz und Schmerzlos. Türe zu und raus bin ich.
Das Treppenhaus still und verlassen. Meine Schritte darin hallend und fast unangenehm laut. Ich pfeife ein Lied, doch es will nichts Erhebendes heraus.
Erst als ich mit meinem Fahrrad um die Ecke gebogen bin, befreit mich der Abstand, befreit mich das Alleine sein. Fast schön, diese Nacht.
Im Grunde tue ich das bloß um wieder Nähe zu spüren. Um gebraucht zu werden. Um einmal in der Woche den Druck abzulassen ohne gleich im Rausch zu versinken.
Vielleicht sollte ich doch mehr Sport machen. Mal in einen Boxclub gehen.
Es macht Spaß, keine Frage. Es ist entspannt mit ihr. Irgendwie vertraut.
Vertraut wie der Geruch von Tomatensoße.
Nicht die original Italienische. Irgendeine. Die im ersten Moment supermegaklasse ist. Die aber schon beim zweiten Löffel irgendwie die Einzigartigkeit verliert. Die mit jedem Mal schwächer wird, bis sie sich einfach in Luft auflöst.
Suchen wir nicht alle jemanden, bei dem wir einfach nackt sein können? Nicht bloß physisch, sondern so komplett emotional Menschlich. Das Gegenteil davon wäre wohl das, was ich gerade hinter mir habe.
Nackt sein, ohne es zu sein. Ein Geheimnis zu bleiben, und es bloß aus Spaß an der Konversation aufzulösen oder zu vertiefen. Nicht weil es nicht anders geht, als völlig offen auf diesen Menschen zuzugehen. Ihm alle Geheimnisse auf die Haut und darunter zu schreiben. Nächtelang zu reden oder zu schweigen. Vielleicht auch mal über Belangloses. Aber nie wirklich. Selbst Schweigen erzählt Geheimnisse, wenn die Ohren die lauschen dafür empfänglich sind.
Nur einmal fliegen. Nur noch einmal. Selbst für einen Augenblick. Wie ein Junkie lechze ich nach dem Kick der Erfüllung durch jemand anderen. Ist das verkehrt?
Alle predigen von Selbstliebe als Grundlage für Nächstenliebe. Versteh ich ja. Aber trotzdem braucht es des Anderen Liebe um das Gefühl des Fliegens vollständig zu machen.
Einmal noch. Nur einmal noch. Gerne für Immer.
Die Nacht bringt meine Gedanken langsam zur Ruhe. Die wilden Zwanziger eines Lebens. Rumficken und Rauschen bis das Leben einen einholt. Irgendwie ist es schwer zu sagen, ob das alles seinen Sinn hat, oder bloße Flucht ist. Je länger ich nachdenke, desto mehr finde ich die Situation wie sie ist eigentlich ganz in Ordnung. Ich bin soweit davon entfernt sie zu lieben, wie ein Schwarzes Loch davon entfernt ist, ein liebes, kleines Kätzchen zu sein; das stimmt schon. Aber was ist das Leben ohne Fehler und Unausgeglichenheit? Bloß ein weißes Strahlendes Licht in das Gesicht des Orakels.
 

NJSeifert

Mitglied
Hi Kolle Jander,
Wirklich toll geschriebener Text, der wieder so ganz klassisch die Probleme und das denken einer Generation aufgreift. Mir gefällt das leichte Durcheinander und die Frage, was tatsächlich Nackt sein bedeutet.

VG NJSeifert
 



 
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