Verwaltungsfehler auf höherer Ebene (Urban Fantasy)

Miya

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Verwaltungsfehler auf höherer Ebene


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Autsch, mein Kopf - nein, mein ganzer Körper … Warum tut mir alles weh? Ich muss wohl eingeschlafen sein. Irritiert öffne ich meine Augen …
Was soll das? Irgendetwas stimmt hier nicht. Warum wirkt alles so dumpf und verschwommen? Ich will mich umsehen, aber kann mich nicht bewegen. Wo zum Teufel bin ich?! Angestrengt versuche ich etwas zu erkennen. Was ist das vor mir? Ein Spinnennetz? Moment – nein, das ist Glas. Ja, zerbrochenes Glas …
Das Dröhnen in meinen Ohren lässt langsam nach und das Gehupe ringsum bereitet mir noch größere Kopfschmerzen. Gehupe … Befinde ich mich etwa in einem Auto? Verdammt, wie komme ich hierher?! Mein Blick wird wieder etwas klarer und ich erkenne die Windschutzscheibe. Sie ist völlig hinüber und der Airbag vor mir hat auch schon eine ganz Menge Luft verloren.
„Hast du das gesehen?!“, höre ich eine weit entfernte Stimme rufen. „Die Karre hat sich bestimmt dreimal überschlagen!“
Hatte ich einen Unfall? Aber wie ist das möglich? Warum zur Hölle sitze ich in einem Auto?! Erinnere dich, Alex! Was ist passiert? Und wie komme ich hierher? Ich war doch gerade noch zu Hause … im Wohnzimmer … vor dem … Fern-se-her …
Was?! Bin ich gerade weggetreten? Meine Augen – ich kann sie nur mit großer Mühe offen halten. Der Geruch von Benzin steigt mir in die Nase und ich glaube, ich schmecke Blut.
Was – was war das?! Ein leises Wimmern … Sitzt noch jemand mit mir in diesem Wagen?! Oh mein Gott, was ist mit mir passiert?!
„Hey! Hey, halten Sie durch – die sind schon unterwegs!“, ertönt eine männliche Stimme neben mir.
'Halten Sie durch' – der hat leicht reden! Wenn diese schrecklichen Schmerzen nicht wären … Ich kann kaum etwas erkennen und immer wieder fallen mir die Augen zu. Warum kann ich mich nicht bewegen? Ich … ich bin so müde.
Marc, hilf mir …

Etwa eine Stunde zuvor …

Nicht schon wieder! Ich hasse diese dämlichen Werbeunterbrechungen! Ich hätte doch auf Netflix bleiben sollen. Gähnend strecke ich mich und schnappe mir eines meiner Kissen. Wie spät ist es? Kurz nach zehn schon und Marc ist immer noch nicht zurück. Ich freue mich ja für ihn, dass er befördert worden ist und er hat auch gesagt, dass es heute später als sonst werden kann, aber mir wäre lieber, er würde langsam nach Hause kommen. Schnaubend lege ich mich quer über das Sofa und platziere das Kissen unter meinem Kopf.
Morgen muss ich unbedingt einkaufen – oder wir gehen essen. Wir könnten aber auch etwas bestellen. Ich hab weder Lust auf die überfüllten Supermärkte, noch will ich mich nach der Arbeit dann eine Stunde lang in die Küche stellen.
Ich seufze. Arbeit … Die kann mir auch gestohlen bleiben …

Nanu, was ist denn jetzt los? Wo bin ich auf einmal? Und was fliegt da für ein Ding vor mir? Ist das … eine Blase? Hey, da sind ja noch mehr! Da schweben vier merkwürdig leuchtende Blasen vor mir! Ich wünschte, Marc könnte das sehen!
Oh nein, bin ich etwa auch eine Blase? Was für eine verfluchte Scheiße ist das hier?! Bitte verzeih´ meine Ausdrucksweise, aber wo sind meine verdammten Arme – und meine Beine?! Wo zum Teufel ist mein Körper?!
Ich träume, ja, das muss es sein! Ein komischer Traum. Ganz ruhig, Alex, alles wird gut! Ich bin auf dem Sofa eingeschlafen …
Und was nun? Was mache ich jetzt, bis ich wieder aufwache? Ich könnte mich ein wenig umsehen.
Wir befinden uns hier in einem Gang und vor uns ist eine Tür – eine seltsame rote Tür. Aber was tun wir hier? Warten wir auf etwas? Wenn ich mich umdrehe, sind da noch mehr Blasen. Alle schweben in Reih’ und Glied.
Davon muss ich morgen unbedingt meinem Therapeuten erzählen! Hab ich morgen überhaupt eine Sitzung? Was ist heute für ein Tag? Egal, in Träumen existiert ja sowieso keine logische Zeit …
Vielleicht sollte ich irgendetwas tun. „Entschuldigung!“, wende ich mich an die Leuchtblase vor mir. Kann sie mich hören? „Hallo! Entschuldigung! Ich rede mit dir!“
„Was denn?“, klingt es nervös in meine Richtung.
Sie hat mich gehört! Sie kann mich verstehen! „Wo sind wir hier?“, frage ich direkt.
„Ich hoffe, nicht in der Hölle! Oh, bitte Herr, ich will nicht in die Hölle!“, piepst das runde Lichtgebilde hysterisch. „Ich will auf die Blumenwiese! Ich will Regenbögen – viele Farben, Glück, Freude und Sonnenschein! Bitte, lass es die Blumenwiese sein!“
Na toll, ausgerechnet vor mir muss so eine Irre herumfliegen. Von dieser verrückten Blase werde ich wohl kaum eine vernünftige Antwort erhalten. Ich drehe mich lieber um. „Hallo! Weißt du vielleicht, wo wir sind?“, versuche ich mein Glück bei der Leuchtkugel hinter mir.
„Dort, wo wir alle einmal hingehen“, erklärt diese fast singend mit mitteltiefer männlicher Stimme.
Gut, die scheint mir schon ein wenig pragmatischer zu reagieren, auch wenn sie etwas musikalisch auf mich wirkt. Ich versuche mehr herauszufinden. „Und wo gehen wir alle einmal hin?“
„Wo du hingehst, kann ich dir leider nicht sagen. Das hängt davon ab, ob du ein guter Mensch warst“, entgegnet mir die Bariton-Blase.
Wie?! Das kann doch nicht sein Ernst sein! „Was genau meinst du? Du willst damit jetzt aber nicht behaupten, dass wir tot sind, oder?“
„Du armes Ding! Kannst du dich etwa nicht mehr erinnern, wie es mit dir zu Ende gegangen ist?“, fragt die Lichtblase mich bemitleidend.
„Nein, ich bin nicht tot, ich träume nur! Ich habe gerade noch ferngesehen, als – ja, genau! Daran ist bestimmt diese komische Serie schuld!“ Ich bin eingeschlafen und jetzt träume ich diesen Schwachsinn!
„Also ich erinnere mich genau“, summt die Blase richtig harmonisch, als ob sie darüber glücklich wäre. „Ich bin gerade auf dem Weg in mein Bett gewesen, da hat der Nachbarshund mit seinem Gebell meine Katze verschreckt, die dann den Blumentopf auf der Anrichte umgestoßen hat. Als ich habe nachsehen wollen, ob dieser noch ganz geblieben ist, bin ich gestolpert und hab mir den Kopf an der Tischkante angeschlagen. Da ist es dann wohl vorbei gewesen“, erzählt mir das schwebende Lichtgebilde.
„Ich bin nicht gestorben!“ Das wüsste ich doch, oder nicht?
„Armes Ding!“, seufzt die männliche Singstimme abermals. „Du bist mit deinem Leben wohl nicht zufrieden gewesen …“
Ich bin nicht tot! Warum will er mir das einreden?
„Also ich habe ein erfülltes Leben gehabt. Ich kann reinen Gewissens sagen, dass ich bestimmt an einen guten Ort kommen werde.“
Langsam geht mir diese Blase furchtbar auf die Nerven.
„Ich wünsche dir, dass deine Seele auch Frieden finden wird“, sagt er zu mir und obwohl er es bestimmt nett meint, kommt es mir momentan total überheblich vor.
„Ach, sei still! Ich will nicht mehr mit dir reden!“ Ohne seine Reaktion abzuwarten, drehe ich mich wieder um. Was?! Nur noch eine Lichtblase vor mir!
„Gleich ist es soweit, gleich bin ich dran! Ich will nicht dort runter – nein, ich will nicht! Nicht an diesen Ort! Es tut mir so leid, dass ich den Müll nicht getrennt und Fleisch gegessen habe!“, zetert die Hippie-Blase vor mir und schwebt unruhig hin und her.
Wie lange dauert dieser verrückte Traum denn noch? Ich muss irgendwie die surreale Zeit totschlagen. Nachdem ich mir nun eingestehe, dass der Gesprächspartner von zuvor doch die bessere Wahl gewesen ist, drehe ich mich wieder um.
„Hey, tut mir wirklich leid, dass ich vorhin …“
„Nein, mit dir rede ich nicht mehr!“, jault mir die Bariton-Blase beleidigt ins Gesicht.
Moment! Habe ich überhaupt noch ein Gesicht? Die anderen Lichtblasen haben ja auch keines. Als ich mich von dem pikierten runden Leuchtding abwende, befinde ich mich direkt vor der roten Tür.
Die aufgedrehte Hippie-Blase vor mir ist verschwunden.
Heißt das, dass ich jetzt an der Reihe bin?

Die Tür – sie ist weg! Oh, und ich bin auch woanders!
Sieht aus, wie ein Büro – ein sehr dunkles Büro. Ah, da ist ja die rote Tür – hinter mir. Jetzt weiß ich auch, warum sie mir so seltsam vorgekommen ist. Sie hat keine Klinke.
Okay, dieser Traum hat wirklich Potential, mich meine Psyche aus einem ganz anderen Licht betrachten zu lassen und ich beginne mich zu fragen, welche unaufgearbeiteten Probleme sich in meinem Unterbewusstsein versteckt halten.
Na ja, wie dem auch sei – jedenfalls ist es sehr ordentlich in diesem Büro … Nur ein wenig düster.
Ich, die Lichtblase, oder was auch immer mich gerade darstellen soll, sitze auf einem Stuhl – oder schwebe darüber, besser gesagt. Vielleicht ist es ein Ledersessel. Sieht nach dunkelgrünem Leder aus. Leider kann ich es nicht mit Bestimmtheit sagen, da ich ihn nicht berühren kann. Mein Gehirn hat dummerweise vergessen, meinen Körper herbeizuträumen. Das ist aber eigentlich auch völlig egal. Was zum Teufel mache ich hier?!
Vor mir steht ein Arbeitstisch, auf dem nichts außer einer Akte liegt. Und was mich stutzig macht: Dieser Raum ist völlig dunkel und dennoch – ich kann die rote Tür, den Stuhl unter mir und den Arbeitstisch, hinter dem silberfarbene Aktenschränke stehen, ohne eine mir ersichtliche Lichtquelle deutlich erkennen.
Die Akte, richtig! Ich schwebe hinauf über den Tisch, um sie in Augenschein zu nehmen. Oh, toll! Wenigstens eine Begebenheit, die in diesem Traum Sinn macht – das heutige Datum, der dritte Oktober, steht auf dem Deckblatt. Wie gerne würde ich einen Blick hineinwerfen, aber hallo – keine Hände! Das hier ist ein richtig frustrierender Traum. Mein Seelenklempner hätte seine Freude damit.
Was ist das?! Ein Klicken? Moment mal! Dort zwischen den Aktenschränken ist noch eine Tür, eine blaue Tür – und verdammt, die hier hat eine Klinke! Wieso hat die blaue Tür eine Klinke und die rote nicht?! Diese bewegt sich im Übrigen gerade nach unten.
Schnell schwebe ich zurück auf den Vielleicht-Ledersessel und behalte die blaue Tür im Auge, während sie sich langsam öffnet.
Ein Mann – oder eine Frau! Wer oder was ist das? Da steht eine Person in der Tür. Eine graue Person ohne Gesicht. Dem Körperbau nach zu urteilen, würde ich sagen, dass es sich um einen Mann handelt – einen sehr schmächtigen Mann. Er kommt zum Arbeitstisch und nimmt mir gegenüber Platz. Mit seinen Händen, an denen man keine einzelnen Finger erkennen kann, greift er nach der Akte und öffnet sie.
„Bitte entschuldigen Sie. Ich wollte Sie nicht warten lassen“, ertönt schließlich eine sanfte männliche Stimme.
Ich wusste es! Es ist ein Mann!
„Ihren Namen, bitte“, verlangt er jetzt.
Da ich mir ohnehin die Zeit vertreiben muss, bis ich wieder aufwache, kann ich ja mitspielen. „Alexandra Kira West“, antworte ich ihm gespannt.
Die graue Gestalt blättert durch die Akte und gibt ein brummendes Geräusch von sich. Es ist mir unmöglich, ohne erkennbare Mimik seine Laune zu deuten. „Seltsam …“, murmelt er und es scheint so, als würde er in der Akte nach etwas suchen.
Kann er etwa meinen Namen nicht finden?
„Ich kann Ihren Namen nicht finden“, meint er.
Na, hab ich’s nicht gesagt?!
„Und Sie sind heute hier angekommen?“
Hier! Wo ist hier?! Vielleicht kann mir diese graue Gestalt mehr sagen. „Ja, vor geschätzten fünfzehn Minuten. Aber sagen Sie, wo bin ich hier eigentlich und wie bin ich hierher gekommen? Und bitte erzählen Sie mir nichts von wegen, ich wäre gestorben! Das hat mir diese Tonleiterakrobaten-Blase vorhin schon weismachen wollen“, stelle ich im Vorhinein klar.
„Sie sind hier bei der Anmeldung für das Jenseits, wie ihr es nennt“, erklärt er mir.
„Nicht Sie auch noch! Ich weiß genau, dass das nur ein verrückter Traum ist. Ich meine, haben Sie jemals von jemandem gehört, der ins Jenseits gekommen ist, ohne vorher gestorben zu sein?“
„Sie sind nicht gestorben?“ Der graue Mann sieht mich eindringlich an. Ja, ich weiß, er hat kein Gesicht, aber dennoch kann ich seinen bohrenden Blick spüren.
„Nein, verdammt! Ich habe ferngesehen und auf einmal war ich hier!“
„Ich verstehe. Das ist einmal etwas Neues.“ Jetzt kichert er.
Warum kichert er? Ich finde das nicht lustig!
„Mir sind ja wirklich schon viele Ausreden untergekommen, aber so etwas bisher noch nicht. Sie sind sehr kreativ, muss ich schon sagen.“
Will der mich verarschen?
„Nun aber genug. Alle müssen diesen Weg eines Tages gehen und Ihre Zeit ist jetzt leider gekommen. Mein herzliches Beileid“, meint die fratzenlose graue Person mit ernstem Ton.
Da kann er noch so seriös daherreden! Wenn ich nicht gestorben bin, dann bin ich es eben nicht!
„Also, teilen Sie mir nun bitte Ihren richtigen Namen mit“, fordert er mich erneut auf und blättert durch seine Akte.
Gut, wenn ihr weiter dieses Spiel spielen wollt – das kann ich auch! „Amy Winehouse“, gebe ich als Antwort.
„Miss Winehouse ist schon registriert. Hören Sie …“ Oh, er steht auf!
Muss ich jetzt Angst haben?
„Es ist fast Feierabend und ich habe heute noch 3.492 weitere Seelen abzufertigen. Wenn von denen jede so einfallsreich beziehungsweise unkooperativ ist, dann muss ich wieder Überstunden machen.“ Er seufzt. „Wenn Sie mir Ihren Namen nicht verraten wollen, muss ich Sie im Keller unterbringen, und das wollen Sie doch bestimmt nicht.“
„Im Keller? Heißt das das, was ich glaube, dass es heißt?“, frage ich ihn.
„Ihr nennt es Hölle und dort ist es wirklich nicht sehr angenehm.“
Langsam aber sicher macht dieser Traum keinen Spaß mehr. Kann ich jetzt bitte wieder aufwachen?
„Sie träumen nicht“, versucht er mir einzureden und setzt sich wieder.
Hab ich das etwa laut gesagt? Nein, oder? Er kann doch nicht etwa …
„Gedankenlesen – doch, wenn ich es für notwendig erachte.“
Ja, scheiß die Wand an!
„Nein, tun Sie das bitte nicht. Die Sanitäranlagen befinden sich dann im jeweiligen Bereich, dem Sie zugewiesen werden.“
Aber das kann doch nicht stimmen! „Wie soll ich denn bitteschön gestorben sein?“ Ich will verdammt noch mal eine Erklärung!
„Das wissen Sie wirklich nicht mehr?“
„Nein! Lesen Sie doch meine Gedanken!“
„Gut, um das nachprüfen zu können, benötige ich bitte Ihren richtigen Namen.“ Er neigt den Kopf zur Seite und ich bin mir sicher, dass er mich ungeduldig anglotzen würde, wenn er ein Gesicht hätte.
„Den habe ich Ihnen schon gesagt – Alexandra Kira West.“
„Da kann etwas nicht stimmen. Dieser Name ist nicht in der Akte“, meint er und überprüft es erneut. „Warten Sie einen Moment. Ich werde sofort in der zuständigen Abteilung nachfragen“, bittet er mich gleich darauf.
In der zuständigen Abteilung? Das scheint mir immer weniger ein Traum zu sein. Für ein so absurdes Szenario fehlt meinem Verstand die nötige Portion Wahnsinn.
Die graue Gestalt holt ein längliches leuchtendes Ding aus einer Schublade des Arbeitstisches und hält es sich ans Ohr. „Ja, hier ist Yaahen von der Abfertigungsstelle. Die Sektion Seeleneintreibung bitte.“
Seeleneintreibung? Bin ich wirklich tot?
„Ja, ich habe hier eine Seele, Alexandra Kira West aus – einen Moment, bitte …“ Er wendet sich an mich „Woher kommen Sie?“
„Ähm, aus Brooklyn, New York.“ Haben die etwa auch verschiedene Zweigstellen?
„Die Dame kommt aus New York, ja … Das ist Keefurs Territorium – ja, das habe ich befürchtet. Gut, verbinden Sie mich. Ich warte.“ Er wirkt irgendwie gestresst. „Das haben wir gleich, haben Sie bitte noch etwas Geduld, Miss – oder Misses West? Sind – also, waren Sie verheiratet?“
Was tut das jetzt noch zur Sache? Ich will den Kopf schütteln, um meiner Fassungslosigkeit Ausdruck zu verleihen, was aber dazu führt, dass ich mich unkontrolliert im Kreis drehe.
„Keefur! Ich bin’s, Yaahen. Hör mal, bei mir ist gerade eine Seele, deren Namen … Ach, ja? … Und dann? … Keefur, du kannst doch nicht …! Aber was soll ich dieser armen Seele jetzt …?! Warte kurz!“ Der einfarbige Sesselpupser widmet sich nun wieder mir. „Bitte verzeihen Sie, ich werde mich sofort um Sie kümmern.“ Er scheint aufgebracht, was er hinter seinem Grau zu verstecken versucht.
Was ist denn nun?
„Keefur, ich schwöre dir, bei der nächsten Betriebsfeier werde ich dich …! Ja, aber was soll ich denn – ich meine, so etwas lässt sich nicht rückgängig machen! Du kannst doch nicht aus einer Laune heraus …! Egal, was dieser Mensch getan hat! … Nein! Keefur, dafür kann man uns zur Rechenschaft ziehen! Wenn … Wie bitte?! Ich höre … Paragraf 6, Absatz 6, Regelung Nummer 6? Denkst du, das ist in diesem Fall …? Wenn du meinst. Gut. Du hörst von mir!“ Der konturlose Graue beendet das Gespräch, legt das längliche Leuchtding vor sich auf den Tisch und beugt sich zu mir nach vorne. „So, Miss West, ich habe mich nun mit meinem Kollegen beraten. Wie es scheint, ist der Verwaltung ein wirklich unangenehmer Fehler unterlaufen. Wir haben aber bereits eine Lösung gefunden.“
„Was soll das heißen, ein Fehler?“ Bedeutet das, dass ich also doch nicht gestorben bin?
„Es ist mir wirklich äußerst unangenehm“, beginnt sich der obskure Mann mit dem offensichtlichen Farbdefizit zu entschuldigen. „Wie es scheint, wurde Ihre Seele irrtümlich eingetrieben.“
„Sehen Sie?! Ich habe doch gleich gesagt, dass ich nicht gestorben bin! Sie hören mir ja nicht zu!“, beschwere ich mich. Ich habe gewusst, dass da etwas nicht stimmen kann. Es gibt keinen vernünftigen Grund, warum ich beim Fernsehen hätte zu Tode kommen können.
„Es tut mir außerordentlich leid.“
„Gut! Also, da wir das nun geklärt haben – schicken Sie mich jetzt wieder in meinen Körper zurück!“
Der Graue – wie war noch gleich sein Name – Yaa…irgendwas erhebt sich vom Tisch. „Das ist leider nicht möglich.“
„Wie bitte?!“ Das kann nicht sein Ernst sein! Und was gedenken diese Stümper, jetzt zu unternehmen?!
Er geht zu einem der silbernen Aktenschränke, holt einen weiteren Ordner heraus und setzt sich wieder hin – ganz seelenruhig. Still hockt er da und sieht mich mit seinen nicht vorhandenen Augen an.
Hallo?! Beweg deinen Arsch! Tu gefälligst irgendwas! Diese unfähigen Lichtblasenfänger schnappen sich fälschlicherweise meine Seele und jetzt bin ich tot? Aus, finito, Pech gehabt, das Leben ist zu Ende?!
„Ich weiß, das ist schwer zu begreifen. Ich verstehe es vollkommen, wenn Sie aufgebracht sind.“
„Aufgebracht?! Ich?! Lächerlich! Wie kommen Sie denn darauf?!“, keife ich ihn an.
„Ich nehme an, das war Ironie, nicht wahr? Oder Sarkasmus? Das bringe ich immer durcheinander. Darüber habe ich bereits so viel gelesen. Ihr Menschen seid überaus interessant.“ Er öffnet abermals die Schublade und nimmt ein dickes Buch mit einem makellosen beigefarbenen Einband heraus. „Bitte gestatten Sie mir, kurz nachzuschlagen.“ Gelassen lehnt er sich auf seinem Stuhl zurück und legt die Beine übereinander. Nein, das sind gar keine richtigen Beine. Genau wie bei den Fingern an seinen Händen ist sein gesamter Unterkörper nur als einzige monochrome Masse wahrzunehmen. Es sieht beinahe so aus, als würde er einen langen Rock tragen, dessen Grau seine Füße verschlingt.
Als er das Buch öffnet, fällt mir sofort der Titel ins Auge. 'Menschliche Verhaltensmuster: Der Ratgeber für eskalierende Situationen'.
Ich glaub, ich spinn’! Für was hält der sich?! Ein Ratgeber? Sind wir Menschen etwa Tiere?! Das ist unfassbar - aber gut, ich muss mich jetzt erst einmal beruhigen. Aufregen hilft mir hier nicht weiter. Tief durchatmen! Ja, ich weiß sehr wohl, dass ich momentan keine Lunge habe – das sagt man doch nur so! Und wie verdammt noch mal soll ich mich ohne Atemübungen beruhigen können?
Komm, Alex, du schaffst das!
Was soll’s, ich bin also tot. Schlimmer kann es nicht mehr kommen.
„Kann es theoretisch schon. Wenn Sie unter einem Punktedurchschnitt von fünfundzwanzig liegen, werden Sie im Keller einquartiert …“
„Lassen Sie das! Raus aus meinen Gedanken!“ Das ist doch wirklich unerhört! Man muss doch irgendetwas tun können. „Haben Sie einen Vorgesetzten oder so etwas? Ich würde mich gerne mit einer höheren Instanz unterhalten! Wo ist Gott?!“, will ich jetzt wissen.
„Es tut mir wirklich leid, Miss West. Momentan kann nur ich Ihnen weiterhelfen. Derjenige oder besser gesagt das, was ihr Menschen als 'Gott' bezeichnet, ist unser Betriebsrat. Dessen Mitglieder befinden sich aber momentan auf einer Dienstreise.“
„Dienstreise?! Ja, leck mich! Wollen Sie mich verarschen?! Sie können doch nicht erwarten, dass ich das einfach so hinnehme!“
„Ich verstehe Sie voll und ganz …“, spricht er mit seiner sanften Stimme ganz langsam, als wolle er mich betören, was seltsamerweise tatsächlich einen leicht beruhigenden Effekt auf mich hat. „Ich wäre an Ihrer Stelle auch ungehalten, Miss West. Hören Sie, wir haben für Sie zwei Lösungsvorschläge. Der erste ist unkompliziert und, meiner Meinung nach, das Vernünftigste.“ Er legt den dicken Wälzer auf dem Tisch ab und räuspert sich. „Sie finden sich damit ab, dass Ihr Leben in jungen Jahren, nehme ich an, beendet wurde - wenn auch zu Unrecht - und lassen sich hier bei uns einweisen. In diesem Fall würden wir selbstverständlich versuchen, Sie bestmöglich zu entschädigen. Sie bekämen VIP-Rechte zugesprochen und autorisierten Zutritt zu unserem Dimensionsschauraum.“
„Aber ich wäre weiterhin tot …“
„Das ist richtig“, bestätigt das graue Etwas nickend.
„Und ich müsste hier bleiben und würde meine Familie, Freunde und Bekannte nie wieder sehen?“
„Nur so lange, bis diese ebenfalls sterben … Wobei auch dann nicht sicher wäre, ob sie in die gleiche Etage kommen würden wie Sie selbst, Miss West.“
Verdammt, schon wieder drehe ich mich im Kreis. Ich muss damit aufhören, meinen Kopf schütteln zu wollen. „Das – das will ich nicht …“, sage ich leise. Wie würde Marcus reagieren? Ich frage mich, ob er schon zu Hause ist und es gemerkt hat. Oh, Marc! Wir wollten an Weihnachten wieder Urlaub auf Hawaii machen. Nachdem wir uns von ein paar Tiefs nicht unterkriegen lassen und uns wieder zusammengerauft haben, wollten wir ein paar stressfreie Tage genießen. Er hat mir erst vor einer Woche beim Abendessen verraten, dass er jetzt bereit für Nachwuchs wäre.
„Das tut mir wirklich leid für Sie, Miss West!“
„Verschwinden Sie aus meinem Kopf! Das ist privat, verdammt! Haben Sie kein Benehmen? Und zu Ihrer Frage von vorhin – ja, ich bin verheiratet!“ Diese graue Nervensäge treibt mich noch in den Wahnsinn.
„War.“
„Wie bitte?!“
„Sie 'waren' verheiratet“, korrigiert er mich so sensibel wie ein Presslufthammer.
„Und was ist mit der zweiten Möglichkeit?“, will ich entnervt wissen.
„Nun, Misses West …“ Er nimmt die Akte zur Hand, die er vorher aus dem Schrank geholt hat.
Jetzt bemerke ich die Aufschrift auf dem Deckblatt. Der vierte Oktober, das morgige Datum.
„Wir können Ihre Seele wieder zurückbringen … allerdings nicht in Ihren eigenen Körper.“ Der graue Aktenfetischist beginnt in dem Ordner zu blättern.
„Wieso nicht?“
„Sie sind schon zu lange hier. Ihre Seele hat Ihren Körper bereits für einen zu großen Zeitraum verlassen, daher müssen wir Sie in einen neuen Körper transferieren. Dies ist die Akte all jener, die morgen sterben werden. Ich bin bemüht, eine geeignete Hülle für Ihre Seele zu finden – möglichst in der Umgebung, in der Sie gelebt haben und ungefähr in Ihrem Alter …“ Er verstummt.
Was? Sieht er mich etwa an? Was will der graue gesichtslose Mann jetzt schon wieder von mir?! Auch, wenn er weder Nase, Mund noch Augen hat, ist es dennoch unangenehm, so angestarrt zu werden!
„Wie wir zuvor schon festgestellt haben, sind Sie nicht in der heutigen Akte vermerkt, Misses West.“
„Ja, und?“ Ah, mein Alter! Jetzt verstehe ich!
Immer noch wartet er auf eine Antwort.
„Einundzwanzig.“
„Misses West …“ Er neigt den Kopf zur Seite und attackiert mich erneut mit seinem optisch nicht vorhandenen Blick, der mich sein Zweifeln dennoch spüren lässt.
„Einen Versuch war es wert“, seufze ich nachgiebig. „Einunddreißig.“
Die graue Spaßbremse blättert weiter. Ganz vertieft in die Akte studiert er deren Inhalt und nach gefühlten zehn Minuten sieht er zu mir auf.
„Was denn nun?“, frage ich ungeduldig.
„Sie haben Glück. Ich habe in Brooklyn einen geeigneten Körper für Sie gefunden, Misses West. Er wird in etwa fünf Minuten frei werden.“ Seine Stimme klingt plötzlich so zufrieden.
„Frei werden? Sie meinen …“
„Die Person wird in fünf Minuten sterben“, entgegnet er ohne Umschweife.
„In fünf Minuten schon?“
„Es ist jetzt eine Minute vor Mitternacht.“ Mister Grau-Gesicht erhebt sich mitsamt der Akte aus seinem Stuhl.
„Und wie? Ich meine, können Sie mir irgendetwas über diese Frau sagen? Woran stirbt sie? Hat sie irgendwelche Krankheiten? Es hätte ja wohl keinen Sinn, mich in ihren Körper zu schicken, wenn sie krank wäre. Ich würde dann vielleicht gleich wieder sterben!“
„Dafür haben wir keine Zeit. Ich habe Ihnen einen gesunden Körper ausgesucht, aber Sie müssen sich jetzt sofort entscheiden! Sie haben noch genau drei Minuten! Wenn Sie diesen Weg wählen, muss ich umgehend Vorkehrungen treffen!“
Verdammt! Natürlich will ich wieder zurück! Hier zu bleiben, ist keine Option. „Ja, ich will leben!“
Ohne zu zögern, nimmt er wieder das längliche Leuchttelefon zur Hand und hält es sich ans Ohr. „Keefur? Ja, ich bin’s. Lower Manhattan, null Uhr vier, Autounfall, Seele Nummer 487X-H395-B037 … Ja, wie besprochen. Regelung Nummer 6. Tu es!“
Autounfall?! Das klingt gar nicht gut! Der Graue kommt auf mich zu. Jetzt ist es wohl soweit. Aber ich habe noch so viele Fragen! Muss ich den Namen der Frau benutzen? Kann ich meine Familie gleich aufsuchen? Wird mich Marc erkennen?
Die gesichtslose Gestalt streckt ihre grauen fingerlosen Hände nach mir aus und umschließt mich.
Dann ist es dunkel.
 



 
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