Aniella
Mitglied
Verwirrt an der langen Leine
Calenberger Land, im Februar 1859
Noch bevor Carolin blinzeln konnte, würgte sie heftig, weil ihr speiübel war. Sie lag auf dem Bauch und drehte sofort den Kopf zur Seite. Der Schmerz, der sie augenblicklich überkam, verschlimmerte für einen Moment den Brechreiz. Das Kind hörte ein lautes Stöhnen und erschrak, ehe sie bemerkte, dass es von ihren eigenen Lippen herrührte. Es war dunkel und sie ertastete neben sich schlammigen Untergrund und viele nasse Blätter. Mühselig stemmte sie sich auf die Knie und trotz des Drecks wanderten die kleinen nassen und eiskalten Hände zu ihrer Stirn.
Sie erfühlte sehr vorsichtig eine dicke Beule mit einer Kruste obenauf. Ob es sich dabei um Blut oder nur Dreck handelte, vermochte die Kleine im schummerigen Mondlicht zwischen den Bäumen nicht zu erkennen. Sie krabbelte auf den nächsten Baum zu und lehnte sich erschöpft an den Stamm. In ihrem Kopf hämmerte es schmerzhaft, aber wenigstens verschwand die Übelkeit langsam.
Carolin traten die Tränen in die Augen und sie kämpfte mit ihrer unbändigen Angst, die sie wegen der Dunkelheit und ihrer Schmerzen empfand. Bis auf ein leises Plätschern in der Nähe war es gespenstisch still um sie herum. Während sie sich zwischen den Bäumen zu orientieren versuchte, überlegte sie verzweifelt, wo sie hier war und wie sie hierhergekommen war. Carolin kniff die Augen zusammen, aber soviel wie sie auch darüber nachdachte, sie konnte sich nicht erinnern, was passiert war.
Versuch dich zu erinnern! Was hat Mama immer gesagt? Versuche, dich daran zu erinnern, was du als Letztes getan hast und wo du da warst! Aber was zum Henker, hatte sie getan?
Das Letzte, an das sie sich erinnerte, war, dass ihre Mutter ihr Geld gegeben hatte, mit dem sie am Bahnhof in Hannover in einem kleinen Kräuterladen ein Medikament für ihren kleinen kranken Bruder besorgen sollte. Sie musste die größte Strecke bereits zurückgelegt haben, denn sie erinnerte sich noch gut an die schmerzenden Füße bei beginnender Dämmerung und den anschließend einsetzenden Schneeregen, der sie in kürzester Zeit ordentlich durchnässte. Das merkte sie jetzt noch, denn ihr war kalt.
Sie war weiter durch die dunklen Straßen gelaufen, dann traf sie plötzlich ein harter Schlag an ihrem Kopf. Dann musste sie gefallen sein, aber erinnern konnte sie sich daran schon nicht mehr. Ab diesem Zeitpunkt existierte nur noch ein großes schwarzes Loch in ihrem Gedächtnis. Wie lange mochte sie hier wohl gelegen haben? Ihre Mutter machte sich bestimmt schon Sorgen, wo sie blieb und das Baby brauchte dringend seine Medizin.
Carolin öffnete die Augen wieder und konnte jetzt ein wenig mehr erkennen. Ihre Augen hatten sich an die Dunkelheit gewöhnt und sie sah vor sich ein abschüssiges Gelände, welches in einer helleren Fläche endete. Von dort kam auch das plätschernde Geräusch her, was sie schon die gesamte Zeit vernahm. Dort unten musste Wasser sein!
Carolin stand mit zitternden Beinen auf. Wohin sollte sie jetzt gehen? Am einfachsten vermutlich zu dem Wasser vor ihr, vielleicht fand sie von dort aus leichter einen Weg aus diesem Dickicht, zumindest konnte man sich daran irgendwie orientieren, dachte sie.
Sie fühlte sich magisch angezogen von dieser freundlichen Helle in der Dunkelheit, sodass sie sich hochrappelte und auf die Helligkeit zuhielt, aber sehr langsam und vorsichtig. Schritt für Schritt, mit den Händen nach den Baumstämmen tastend, bewegte sie sich vorwärts, ohne ein Geräusch zu verursachen.
Ein lautes Knacken hinter ihr und sie zuckte zusammen. Wie angewurzelt blieb sie stehen und lauschte in die dunklen Schatten hinter sich. Keuchen drang zu ihr durch, ebenso ein lautes Atmen von mindestens einer zweiten Person und jedes Geräusch kam auf sie zu, auch wenn sie zwischen den Bäumen nicht viel erkennen konnte. Hinter einem Baumstamm versteckt starrte Carolin in den Wald zurück, aber außer hin und wieder einen Schatten, der sich auf sie zubewegte, konnte sie nichts erkennen.
Auch wenn sie keinen Laut von sich gab, sie konnte auch nicht hier stehen bleiben, wenn sie nicht wie ein Schäfchen auf die Schlachtbank warten wollte. Also stahl sie sich rückwärts in die Richtung, die sie sowieso einschlagen wollte. Als sie dennoch auf einen Ast trat und der laut in die Stille knackte, drehte sie sich blitzschnell um und rannte auf die helle Fläche zu, in der Hoffnung, dass sich ihr dort ein Ausweg auftun würde.
Endlich erreichte sie das Ende der Baumsiedlung und stoppte abrupt, denn unmittelbar vor ihr plätscherte ein Fluss, und nur der Vollmond sorgte für die Helligkeit, weil er sich auf der Wasseroberfläche spiegelte. Ohne ihre Verfolger hätte sie den Anblick genießen können, aber mit dem Herannahen der Personen geriet sie in Panik. Gerade wollte sie am Flussufer weiter laufen, da packte sie jemand von hinten an ihrem Arm und riss sie herum.
»Aua«, schrie sie und versuchte, sich verzweifelt loszureißen.
»Na, wen haben wir denn da? Nun zappel mal nicht so rum, du dummes Ding. Wir wollen uns doch nur mit dir unterhalten.«
Carolin stemmte ihre Füße in den weichen Boden und zerrte an ihrem Arm, aber die Hand des Mannes hielt sie wie in einem Schraubstock fest.
»Du hast ihn erwischt - gut«, schnaufte eine andere Stimme hinter dem ersten Mann.
»Ach, das ist ja eine Mieke. Noch besser.« Er tauchte in Carolins Blickfeld auf und grinste sie hämisch an. Beide Kerle trugen lange verschlissene Mäntel, ihre Haare sahen dreckig und verfilzt aus und ihre Gesichter wurden von zauseligen Bärten verdeckt. Nur die Augen stachen gemein unter ihren buschigen Augenbrauen hervor und schienen Carolin aufspießen zu wollen.
»Was wollt ihr von mir? Ich habe doch gar nichts getan? Bitte lasst mich gehen, ich möchte nur nach Hause ...«, flehte sie und merkte selbst, dass ihre Stimme ganz dünn vor Angst klang.
Da packte sie jemand von hinten an den Haaren und riss ihren Kopf so brutal zurück, dass sie laut aufschrie. In diesem Moment ließ der Mann, der sie bis dahin festgehalten hatte, ihren Arm los. Sie stolperte rückwärts und fiel hin, weil sie dem Zug folgte, keinen Widerstand leistete, um den Schmerz so gering wie möglich zu halten. Über ihr stand ein dritter Mann - ach was, ein Riese - mit wildem Gesichtsausdruck und langen schwarzen und zotteligen Haaren, die bei jeder Bewegung um sein Gesicht wippten. Er hob einen Fuß hoch und ehe Carolin sich versah, trat er kräftig auf ihr Handgelenk und lachte dröhnend, weil sie wimmerte. Das Mädchen fühlte sich hilflos eingekreist von den drei Männern und während der Riese sie mit seinem bestiefelten Fuß festhielt, begannen die beiden anderen, ihren Beutel, den sie über Kopf und Schulter umgehängt trug und ihre Kleidung zu durchsuchen. Sie gingen dabei nicht gerade zimperlich mit ihr um.
Gleich finden sie das Geld und dann nehmen sie es mir weg. Was soll ich nur machen?
Carolin drehte und wand sich immer wieder weg von den suchenden Pranken und hämmerte mit ihrer freien Faust auf den Stiefel, der sich schmerzhaft auf ihrer Hand bewegte und sie zerquetschte. Panisch schrie sie wieder und wieder aus vollem Halse und trat wild um sich, während unablässig hilflos Tränen aus ihren Augen strömten.
Vorbei. Es ist vorbei. Ich kann sie nicht länger abwehren, ich bin verloren.
Als sie ihre Hand unter dem Stiefel hervorzog, brauchte sie nur eine Sekunde, um sich instinktiv blitzschnell von den Männern wegzurollen. Sie rappelte sich hoch und rannte stolpernd und tränenblind los, nur weg von ihren Peinigern.
Sie stockte erst, als ihre Füße ins Wasser platschten. Ängstlich warf sie einen Blick über ihre Schulter. Verblüfft drehte sie sich um und starrte auf die drei Räuber, die gleich Salzsäulen an der Stelle des Überfalls stehengeblieben waren und sich nicht rührten. Sie erschienen ihr wie festgewachsen und machten keinerlei Anstalten, Carolin weiter zu verfolgen. Staunend stand das Mädchen da und betrachtete das merkwürdige Bild, als eine sanfte Frauenstimme hinter ihr, sie ansprach.
»Carolin, du brauchst dich nicht mehr zu fürchten. Sie werden dir nichts mehr antun.«
Das Mädchen fuhr erschrocken herum. Eine wunderschöne Frau stand vor ihr. Lange braune Haare fielen wallend über ihre Schultern und umrahmten ein gütiges Gesicht mit einem freundlichen Lächeln. Sie trug ein fantastisches bodenlanges Kleid, dessen Farbe ein undefinierbares blaugrün war und glänzte, als wäre es lebendig. Es glitzerte bei jeder Bewegung und dann erschien an einigen wenigen Stellen weißer Schaum, der wie kostbare Spitze aussah. Carolin war fasziniert und widerstand ihrem ersten Impuls, auch vor dieser Frau einfach davon zu laufen. Irgendetwas hielt sie davon ab.
»Wer sind Sie?«, fragte sie stattdessen. Sie rieb sich ihre verletzte Hand und ließ dabei die leuchtende Frau nicht aus den Augen. Die geheimnisvolle Frau lachte leise.
»Ich bin die Wasserfrau von der Leine. Das ist dieser Fluss hier, in dem ich lebe. Mein Name ist Idrica. Ich liebe alle Menschen und wenn jemand in Not ist, versuche ich zu helfen. Als du gegen den dicken Ast gelaufen und den Abhang hinunter gerollt bist, habe ich dich schon von Weitem bewacht. Ich hörte dich schreien, als du überfallen wurdest und kam sofort hierher, um dir beizustehen.«
Verstohlen sah Carolin wieder hinüber zu den Männern, die sich jedoch immer noch nicht von der Stelle gerührt hatten.
»Wie ging das so einfach?«, fragte das Mädchen erstaunt.
»Ich unterziehe sie in den nächsten Stunden einer inneren Reinigung. Mein Einfluss auf Wasser befähigt mich dazu. Danach werden sie sich nicht mehr an ihr schändliches Leben erinnern und geläutert in die Zukunft gehen. So etwas, wie mit dir, werden sie niemandem mehr antun.«
Sie strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und sah sie weiter eindringlich an.
»Sag Kind, vertraust du mir? Wenn ja, dann komm zu mir in meine Umarmung und alles wird gut ...«
Sie breitete ihre Arme aus und sah Carolin erwartungsvoll an, nickte ihr mit liebevollem Blick zu. Carolin überlegte nicht lange, diese Frau hatte sie gerettet, sie konnte nicht böse sein! Idrica schloss Carolin in ihre Arme und sofort umschmiegte das Mädchen das Kleid der Wasserfrau und jetzt erkannte sie, dass es sich um pures Wasser handelte, welches sie zwar wärmend einhüllte, jedoch nicht benetzte, sodass sie sogar trocknete einschließlich ihrer Kleidung. Carolin schwebte in einem Sog von leuchtendem Nass, wie in einem Behältnis in den Farben Idricas Kleides, die jedoch nicht mehr zu sehen war. Stattdessen nahm die Fließgeschwindigkeit des Wassers zu und die Kleine schloss verzückt die Augen. Neben dem Rauschen des Wassers meinte sie, aus der Ferne einen Gesang zu hören, und sie summte leise mit. Dann wurde es allmählich ruhiger und als Carolin die Augen wieder öffnete, befand sie sich mitten auf einer Brücke.
Verwundert sah sie sich um, und konnte auf der einen Seite von Weitem das Gebäude des Hauptbahnhofs erkennen. Sie fror nicht mehr, ihre Sachen waren trocken und sie hatte keinerlei Schmerzen mehr, weder an der Hand noch an ihrem Kopf. Sie blickte hinunter zu dem Fluss, der unter der Brücke hindurch floss. An einem Ufer sah sie die drei Räuber stehen, die sich weiterhin nicht rührten. Auf gleicher Höhe in der Mitte der Leine erkannte Carolin die Wasserfrau auf der Wasseroberfläche schweben.
Sie winkte ihr mit einem Tuch, welches dieselbe Farbe wie ihr Kleid hatte.
Carolin hob ihre Hand, winkte zurück und die Wasserfrau versank langsam in der Leine. Nach einer Weile drehte sie sich um und machte sich auf den Weg zum Bahnhof. Als sie ihre Hand in ihre Tasche schob, bemerkte sie ein Stück Tuch darin, was vorher nicht darin gewesen war.
Als sie es hervorzog, hatte sie das Tuch von Idrica in ihrer Hand.
Calenberger Land, im Februar 1859
Noch bevor Carolin blinzeln konnte, würgte sie heftig, weil ihr speiübel war. Sie lag auf dem Bauch und drehte sofort den Kopf zur Seite. Der Schmerz, der sie augenblicklich überkam, verschlimmerte für einen Moment den Brechreiz. Das Kind hörte ein lautes Stöhnen und erschrak, ehe sie bemerkte, dass es von ihren eigenen Lippen herrührte. Es war dunkel und sie ertastete neben sich schlammigen Untergrund und viele nasse Blätter. Mühselig stemmte sie sich auf die Knie und trotz des Drecks wanderten die kleinen nassen und eiskalten Hände zu ihrer Stirn.
Sie erfühlte sehr vorsichtig eine dicke Beule mit einer Kruste obenauf. Ob es sich dabei um Blut oder nur Dreck handelte, vermochte die Kleine im schummerigen Mondlicht zwischen den Bäumen nicht zu erkennen. Sie krabbelte auf den nächsten Baum zu und lehnte sich erschöpft an den Stamm. In ihrem Kopf hämmerte es schmerzhaft, aber wenigstens verschwand die Übelkeit langsam.
Carolin traten die Tränen in die Augen und sie kämpfte mit ihrer unbändigen Angst, die sie wegen der Dunkelheit und ihrer Schmerzen empfand. Bis auf ein leises Plätschern in der Nähe war es gespenstisch still um sie herum. Während sie sich zwischen den Bäumen zu orientieren versuchte, überlegte sie verzweifelt, wo sie hier war und wie sie hierhergekommen war. Carolin kniff die Augen zusammen, aber soviel wie sie auch darüber nachdachte, sie konnte sich nicht erinnern, was passiert war.
Versuch dich zu erinnern! Was hat Mama immer gesagt? Versuche, dich daran zu erinnern, was du als Letztes getan hast und wo du da warst! Aber was zum Henker, hatte sie getan?
Das Letzte, an das sie sich erinnerte, war, dass ihre Mutter ihr Geld gegeben hatte, mit dem sie am Bahnhof in Hannover in einem kleinen Kräuterladen ein Medikament für ihren kleinen kranken Bruder besorgen sollte. Sie musste die größte Strecke bereits zurückgelegt haben, denn sie erinnerte sich noch gut an die schmerzenden Füße bei beginnender Dämmerung und den anschließend einsetzenden Schneeregen, der sie in kürzester Zeit ordentlich durchnässte. Das merkte sie jetzt noch, denn ihr war kalt.
Sie war weiter durch die dunklen Straßen gelaufen, dann traf sie plötzlich ein harter Schlag an ihrem Kopf. Dann musste sie gefallen sein, aber erinnern konnte sie sich daran schon nicht mehr. Ab diesem Zeitpunkt existierte nur noch ein großes schwarzes Loch in ihrem Gedächtnis. Wie lange mochte sie hier wohl gelegen haben? Ihre Mutter machte sich bestimmt schon Sorgen, wo sie blieb und das Baby brauchte dringend seine Medizin.
Carolin öffnete die Augen wieder und konnte jetzt ein wenig mehr erkennen. Ihre Augen hatten sich an die Dunkelheit gewöhnt und sie sah vor sich ein abschüssiges Gelände, welches in einer helleren Fläche endete. Von dort kam auch das plätschernde Geräusch her, was sie schon die gesamte Zeit vernahm. Dort unten musste Wasser sein!
Carolin stand mit zitternden Beinen auf. Wohin sollte sie jetzt gehen? Am einfachsten vermutlich zu dem Wasser vor ihr, vielleicht fand sie von dort aus leichter einen Weg aus diesem Dickicht, zumindest konnte man sich daran irgendwie orientieren, dachte sie.
Sie fühlte sich magisch angezogen von dieser freundlichen Helle in der Dunkelheit, sodass sie sich hochrappelte und auf die Helligkeit zuhielt, aber sehr langsam und vorsichtig. Schritt für Schritt, mit den Händen nach den Baumstämmen tastend, bewegte sie sich vorwärts, ohne ein Geräusch zu verursachen.
Ein lautes Knacken hinter ihr und sie zuckte zusammen. Wie angewurzelt blieb sie stehen und lauschte in die dunklen Schatten hinter sich. Keuchen drang zu ihr durch, ebenso ein lautes Atmen von mindestens einer zweiten Person und jedes Geräusch kam auf sie zu, auch wenn sie zwischen den Bäumen nicht viel erkennen konnte. Hinter einem Baumstamm versteckt starrte Carolin in den Wald zurück, aber außer hin und wieder einen Schatten, der sich auf sie zubewegte, konnte sie nichts erkennen.
Auch wenn sie keinen Laut von sich gab, sie konnte auch nicht hier stehen bleiben, wenn sie nicht wie ein Schäfchen auf die Schlachtbank warten wollte. Also stahl sie sich rückwärts in die Richtung, die sie sowieso einschlagen wollte. Als sie dennoch auf einen Ast trat und der laut in die Stille knackte, drehte sie sich blitzschnell um und rannte auf die helle Fläche zu, in der Hoffnung, dass sich ihr dort ein Ausweg auftun würde.
Endlich erreichte sie das Ende der Baumsiedlung und stoppte abrupt, denn unmittelbar vor ihr plätscherte ein Fluss, und nur der Vollmond sorgte für die Helligkeit, weil er sich auf der Wasseroberfläche spiegelte. Ohne ihre Verfolger hätte sie den Anblick genießen können, aber mit dem Herannahen der Personen geriet sie in Panik. Gerade wollte sie am Flussufer weiter laufen, da packte sie jemand von hinten an ihrem Arm und riss sie herum.
»Aua«, schrie sie und versuchte, sich verzweifelt loszureißen.
»Na, wen haben wir denn da? Nun zappel mal nicht so rum, du dummes Ding. Wir wollen uns doch nur mit dir unterhalten.«
Carolin stemmte ihre Füße in den weichen Boden und zerrte an ihrem Arm, aber die Hand des Mannes hielt sie wie in einem Schraubstock fest.
»Du hast ihn erwischt - gut«, schnaufte eine andere Stimme hinter dem ersten Mann.
»Ach, das ist ja eine Mieke. Noch besser.« Er tauchte in Carolins Blickfeld auf und grinste sie hämisch an. Beide Kerle trugen lange verschlissene Mäntel, ihre Haare sahen dreckig und verfilzt aus und ihre Gesichter wurden von zauseligen Bärten verdeckt. Nur die Augen stachen gemein unter ihren buschigen Augenbrauen hervor und schienen Carolin aufspießen zu wollen.
»Was wollt ihr von mir? Ich habe doch gar nichts getan? Bitte lasst mich gehen, ich möchte nur nach Hause ...«, flehte sie und merkte selbst, dass ihre Stimme ganz dünn vor Angst klang.
Da packte sie jemand von hinten an den Haaren und riss ihren Kopf so brutal zurück, dass sie laut aufschrie. In diesem Moment ließ der Mann, der sie bis dahin festgehalten hatte, ihren Arm los. Sie stolperte rückwärts und fiel hin, weil sie dem Zug folgte, keinen Widerstand leistete, um den Schmerz so gering wie möglich zu halten. Über ihr stand ein dritter Mann - ach was, ein Riese - mit wildem Gesichtsausdruck und langen schwarzen und zotteligen Haaren, die bei jeder Bewegung um sein Gesicht wippten. Er hob einen Fuß hoch und ehe Carolin sich versah, trat er kräftig auf ihr Handgelenk und lachte dröhnend, weil sie wimmerte. Das Mädchen fühlte sich hilflos eingekreist von den drei Männern und während der Riese sie mit seinem bestiefelten Fuß festhielt, begannen die beiden anderen, ihren Beutel, den sie über Kopf und Schulter umgehängt trug und ihre Kleidung zu durchsuchen. Sie gingen dabei nicht gerade zimperlich mit ihr um.
Gleich finden sie das Geld und dann nehmen sie es mir weg. Was soll ich nur machen?
Carolin drehte und wand sich immer wieder weg von den suchenden Pranken und hämmerte mit ihrer freien Faust auf den Stiefel, der sich schmerzhaft auf ihrer Hand bewegte und sie zerquetschte. Panisch schrie sie wieder und wieder aus vollem Halse und trat wild um sich, während unablässig hilflos Tränen aus ihren Augen strömten.
Vorbei. Es ist vorbei. Ich kann sie nicht länger abwehren, ich bin verloren.
Als sie ihre Hand unter dem Stiefel hervorzog, brauchte sie nur eine Sekunde, um sich instinktiv blitzschnell von den Männern wegzurollen. Sie rappelte sich hoch und rannte stolpernd und tränenblind los, nur weg von ihren Peinigern.
Sie stockte erst, als ihre Füße ins Wasser platschten. Ängstlich warf sie einen Blick über ihre Schulter. Verblüfft drehte sie sich um und starrte auf die drei Räuber, die gleich Salzsäulen an der Stelle des Überfalls stehengeblieben waren und sich nicht rührten. Sie erschienen ihr wie festgewachsen und machten keinerlei Anstalten, Carolin weiter zu verfolgen. Staunend stand das Mädchen da und betrachtete das merkwürdige Bild, als eine sanfte Frauenstimme hinter ihr, sie ansprach.
»Carolin, du brauchst dich nicht mehr zu fürchten. Sie werden dir nichts mehr antun.«
Das Mädchen fuhr erschrocken herum. Eine wunderschöne Frau stand vor ihr. Lange braune Haare fielen wallend über ihre Schultern und umrahmten ein gütiges Gesicht mit einem freundlichen Lächeln. Sie trug ein fantastisches bodenlanges Kleid, dessen Farbe ein undefinierbares blaugrün war und glänzte, als wäre es lebendig. Es glitzerte bei jeder Bewegung und dann erschien an einigen wenigen Stellen weißer Schaum, der wie kostbare Spitze aussah. Carolin war fasziniert und widerstand ihrem ersten Impuls, auch vor dieser Frau einfach davon zu laufen. Irgendetwas hielt sie davon ab.
»Wer sind Sie?«, fragte sie stattdessen. Sie rieb sich ihre verletzte Hand und ließ dabei die leuchtende Frau nicht aus den Augen. Die geheimnisvolle Frau lachte leise.
»Ich bin die Wasserfrau von der Leine. Das ist dieser Fluss hier, in dem ich lebe. Mein Name ist Idrica. Ich liebe alle Menschen und wenn jemand in Not ist, versuche ich zu helfen. Als du gegen den dicken Ast gelaufen und den Abhang hinunter gerollt bist, habe ich dich schon von Weitem bewacht. Ich hörte dich schreien, als du überfallen wurdest und kam sofort hierher, um dir beizustehen.«
Verstohlen sah Carolin wieder hinüber zu den Männern, die sich jedoch immer noch nicht von der Stelle gerührt hatten.
»Wie ging das so einfach?«, fragte das Mädchen erstaunt.
»Ich unterziehe sie in den nächsten Stunden einer inneren Reinigung. Mein Einfluss auf Wasser befähigt mich dazu. Danach werden sie sich nicht mehr an ihr schändliches Leben erinnern und geläutert in die Zukunft gehen. So etwas, wie mit dir, werden sie niemandem mehr antun.«
Sie strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und sah sie weiter eindringlich an.
»Sag Kind, vertraust du mir? Wenn ja, dann komm zu mir in meine Umarmung und alles wird gut ...«
Sie breitete ihre Arme aus und sah Carolin erwartungsvoll an, nickte ihr mit liebevollem Blick zu. Carolin überlegte nicht lange, diese Frau hatte sie gerettet, sie konnte nicht böse sein! Idrica schloss Carolin in ihre Arme und sofort umschmiegte das Mädchen das Kleid der Wasserfrau und jetzt erkannte sie, dass es sich um pures Wasser handelte, welches sie zwar wärmend einhüllte, jedoch nicht benetzte, sodass sie sogar trocknete einschließlich ihrer Kleidung. Carolin schwebte in einem Sog von leuchtendem Nass, wie in einem Behältnis in den Farben Idricas Kleides, die jedoch nicht mehr zu sehen war. Stattdessen nahm die Fließgeschwindigkeit des Wassers zu und die Kleine schloss verzückt die Augen. Neben dem Rauschen des Wassers meinte sie, aus der Ferne einen Gesang zu hören, und sie summte leise mit. Dann wurde es allmählich ruhiger und als Carolin die Augen wieder öffnete, befand sie sich mitten auf einer Brücke.
Verwundert sah sie sich um, und konnte auf der einen Seite von Weitem das Gebäude des Hauptbahnhofs erkennen. Sie fror nicht mehr, ihre Sachen waren trocken und sie hatte keinerlei Schmerzen mehr, weder an der Hand noch an ihrem Kopf. Sie blickte hinunter zu dem Fluss, der unter der Brücke hindurch floss. An einem Ufer sah sie die drei Räuber stehen, die sich weiterhin nicht rührten. Auf gleicher Höhe in der Mitte der Leine erkannte Carolin die Wasserfrau auf der Wasseroberfläche schweben.
Sie winkte ihr mit einem Tuch, welches dieselbe Farbe wie ihr Kleid hatte.
Carolin hob ihre Hand, winkte zurück und die Wasserfrau versank langsam in der Leine. Nach einer Weile drehte sie sich um und machte sich auf den Weg zum Bahnhof. Als sie ihre Hand in ihre Tasche schob, bemerkte sie ein Stück Tuch darin, was vorher nicht darin gewesen war.
Als sie es hervorzog, hatte sie das Tuch von Idrica in ihrer Hand.
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