Verwunschener Ort

Apolonia

Mitglied
Die Begegnung


Am Rand der kleinen Stadt lag ein verwilderter Garten. In diesem Garten stand ein altes Haus. Da wohnte ER, der Bucklige.

Von mehreren Baumreihen umsäumt war das kleine Anwesen von der Strasse her kaum zu sehen. Die dichten Baumkronen schirmten es ab, als wollten sie das Haus und seinen Bewohner vor den neugierigen Blicken schützen. Erst im Herbst, wenn der von Wind und Sturm gefegtes Laub die Sicht freigab, konnte man die ungewöhnliche Lage und die Kraft, die dieser verzauberte Ort ausstrahlte, erkennen.

Als Jakob plötzlich hinter dem Buschwerk durch das Geäst verdecktes bläulich schimmerndes Holzhaus entdeckte, blieb er wie angewurzelt stehen.

Wie oft war er diesen Weg, etwas abseits der Hauptstrasse, umhergezogen, ohne etwas gemerkt zu haben?

Wie oft war er zusammen mit Mutter zum nahen Wald um nach Pilzen oder Waldbeeren zu suchen hier vorbei gegangen? Ja, jetzt war ihm aufgefallen, die Mutter hat jedes mal die Straßenseite gewechselt.

Wie ist es möglich, dass erst heute, am ersten Tag der Herbstferien ihm diese Gegend so anders erschienen ist?

Ohne nachzudenken verließ er die Strasse und begab sich auf die Entdeckungstour. Vorsichtig und mit Bedacht schritt er durch verzweigte Äste, knisternde Reisighaufen und morsche Baumstämme. Nein, keine Waldpfade, dafür viele

von buntem Laub bedeckt feuchte Erdlöcher.

Er war fasziniert und überwältigt von der geheimnisvollen Aura, dem Geruch und Waldgeräuschen, als er hinter dem Dickicht das Wasser plätschern hörte.

Ja, tatsächlich, ein Bach, eher einem Festungsgraben ähnlich, umschlang im Halbkreis einen verwilderten Garten. Von den scheinbar chaotisch angelegten Dufthecken am Haus erkannte er nur den japanischen Gold-Ahorn. Die anderen Ziergehölze trieben üppig und durcheinander von der Natur zu bizarren Gebilden geformt.

An dem anderen Ufer sah er halb vertrocknete Bambuspflanzen. Sie bildeten zusätzlich einen Sichtschutz. Lediglich ein kleiner Durchgang von niedrig wachsenden Pflanzen gab ihm den Blick auf das Haus frei. Es war sehr alt und mehr einer Scheune ähnlich. Man konnte an der Fassade erkennen, dass es oft nur notdürftig renoviert und teilweise modernisiert wurde.

Die Giebelseite war gut zu sehen und auch der anschaulichste Teil des Hauses. In der Mitte befand sich ein breites und sehr hohes Panoramafenster, das die verringerte Form des Giebels behielt und von Fundament über zwei Ebenen in gleicher Breite sich fast bis zur Dachkante zog und in Form eines Dreiecks endete. Diese wunderschöne Verglasung mit blau gestrichenen Rahmen verlieh dieser Scheune wohnlichen Charakter. Die niedrige Nebengebäude mit modernen Doppeltüren versehen verstärkte noch den Kontrast zwischen modernen Akzenten und den alten Gemäuern.

Hier ist die Zeit stehen geblieben. Kein Lebenszeichen, kein Laut. Totale Stille. Die Behausung wirkte einsam und verlassen, schien gerade unbewohnt zu sein.

Wahrlich, ein magischer Ort, der mit seiner tiefen Stille und Ruhe beängstigt und entzückt.

Also hier lebt ER, der „schwarze Mann“ und Kinderschreck.

Über dem Buckligen kreisten im Dorf unzählige Gruselgeschichten. Kaum jemand kannte den Einsiedler, geschweige mit ihm jemals gesprochen zu haben. In der Stadt wusste man, dass er in dieser Gegend lebt. Manche behaupteten, dass sie ihn in umliegenden Wäldern beim Pilze sammeln oder Beeren pflücken getroffen haben.

Oh, was für ein Wunder, die haben diese Begegnung überlebt. Mutig und heldenhaft erschienen sie in den Augen der Zuhörer.

Die Eltern ermahnten ihre Kinder sich fern von dem Buckligen zu halten, da er ein Ungeheuer sein sollte. Niemand wußte etwas Genaues über den Alten und so wurden viele weitere Geschichten gesponnen.

Freilich, hier ist ein Ort, an dem man in aller Abgeschiedenheit leben, beten und meditieren könnte.

Die ideale Gegend, um ein zurückgezogenes Leben zu führen.

Das dachte auch Jakob und seine Neugier wuchs. Die Alte-Weiber-Geschichten interessierten ihn nicht. Er ist schon alt genug, um eine eigene Meinung zu vertreten. Gerade vor ein paar Tagen, genau vor einer Woche, feierte er seinen 13. Geburtstag. Von seinem Vater hat er ein Geschenk bekommen, das er sich innig wünschte. Ein Schnitzmesser. Extra für ihn bestellt. Mit Gravur - „Für meinen Sohn Jakob“. Eine Schleifmaus und halbrunde Pfeile konnte er von dem Taschengeld bezahlen. Für ein echtes Schnitzmesser hätte er wenigstens ein Jahr sparen müssen. So tastete er ununterbrochen seine Hosentaschen ab, um zwischen den seltenen bunten Steinen und anderen „Kostbarkeiten“ Vaters Geschenk zu erspüren.

Jedes Mal schlug sein Herz höher, wenn er die schwere, griffige Last in den Fingern hielt. Es wird Zeit auch die Beschaffenheit der Klinge zu prüfen. Er setzte sich auf einen freiliegenden Baumstamm und zog aus der Lederscheide das schöne Stück. Der Griff aus Palisanderholz, passend zur Kinderhand geformt, lag sicher in seiner Hand. Er spuckte auf seinen rechten Zeigefinger und fuhr vorsichtig entlang der Klinge, bis zur Spitze. Der rostfreie Stahl glänzte in den letzten herbstlichen Sonnenstrahlen. Seine Augen leuchteten, ein Lächeln umspielte seine Lippen.

Geblendet vom Glück und von der Sonne kniff der Junge die Augen zusammen und ließ sein Juwel in die weiche Lederscheide zurück. Diesmal hat er das Messer nicht in die Hosentasche gesteckt, weil sie nicht genug tief war. Er mußte immer daran denken, es nicht zu verlieren. Also befestigte er es an den Hosengurt mit zwei dazu an der Lederscheide vorgesehenen Druckknöpfen. So, sicher ist sicher.

Der trockene Laub knisterte unter seinen Füßen. Jetzt noch passendes Schnitzholz zu finden. Nicht ganz einfach. Die stämmigen uralten Bäume mit den recht stabilen Ästen eigneten sich sichich nicht dafür. Was auf dem Boden lag war vertrocknet oder schon ganz morsch.

Mit eigenen Gedanken beschäftigt merkte er gar nicht, wie weit er sich schon von der Strasse entfernte. Plötzlich stand er am Ufer des Weihers, der den Wald von dem Garten trennte. Noch ein Schritt und er wäre fast in den Bach hineingestolpert. Ein wenig erschrocken blickte er sich um. Genau die Richtung, in der der Bambus in herbstlicher Sonne mit seinen goldig schimmerten Blättern lockte. Nein, nicht die Blätter, die Rohre fand er interessant. Ohne viel nachzudenken ließ er die Schuhe am Ufer stehen. Schnell noch die Hose hochkrempeln und das andere Ufer stramm in den Augen behalten. Es wird schon gut gehen. Schwimmen kann er schließlich auch.

Vorsichtig tastete er den Grund ab. Das Wasser war recht warm und gar nicht so tief. Lästig war nur die Entengrütze, die wie ein grüner Teppich die Gewässer überzog. Von lauten Grün hat er fast das Ufer nicht bemerkt. Jetzt musste er noch sich nur ein paar Meter durchkämpfen.

Langsam watete er mit gestreckten Armen Richtung Garten, die grüne Brühe vor sich her schiebend. Die Sonne blendete ihn fast zornig, als wollte sie ihn aufhalten, warnen. Der Garten und die ganze Natur verschmolz zu einem Gefüge in allen möglichen Grüntönen. Noch ein paar Schritte und das Ufer war bald erreicht. Übermutig machte er einen Sprung ...und rutschte aus.
 



 
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