Verzeih mir, Mama

GerRey

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Heute Morgen war ich auf dem Grab meiner Mutter, und es war, als hätte es da im Verborgenen eine jener Lehren der Demut gegeben, die Mütter manchmal wirksam zustande bringen. Der Friedhof liegt zwar in dem Bezirk, in dem ich wohne, dennoch brauchte ich etwa eine Stunde, bis ich mit Bus, U-Bahn und Straßenbahn dorthin kam. Sie liegt nicht weit von ihrer letzten Wohnung, die jetzt den Töchtern meines Bruders gehört, und an der ich mit der Straßenbahn vorbei kam. Ja, direkt vor dem Hauseingang ist sogar eine Straßenbahnhaltestelle, wo eine ältere Frau, die als Gehhilfe einen Rollator benutzte, einstieg und sich gleich in Einstiegsnähe auf einen der Versehrtensitze setzte.

Um diese Zeit - halb acht - waren an diesem Samstag nur wenige Leute unterwegs, die stadtauswärts fuhren, und ich muss gestehen, dass ich auch mehr an den jüngeren Frauen interessiert war als an dieser Alten, die wahrscheinlich altersmäßig aber doch näher bei mir lag als die anderen. Mea culpa! In meinem Rucksack hatte ich zwei pompöse Kerzen, die bis Allerheiligen brennen sollten, und am Friedhof wollte ich noch ein schönes Gesteck kaufen, das ich ebenfalls am Grab niederlegen wollte. Als wir auf der Fahrt das Bezirkskrankenhaus passiert hatten, waren schon fast keine Leute mehr in der Straßenbahn, die meine Aufmerksamkeit an sich ziehen hätten können - nur noch das Mütterchen, das in etwa vier, fünf Metern Entfernung von mir saß, und ich hielten bis zur Endstation am Friedhof durch. Ich nahm an, sie würde ebenso das Grab eines Verwandten besuchen wie ich. Während ich zum Zebrastreifen ging, bemerkte ich, dass sie in einer Abkürzung zum Friedhofseingang gleich die Fahrbahn überquerte.

Links und rechts des Eingangs waren Blumenhändler eben dabei, ihre Allerheiligengestecke und Blumen an Ständen aufzubauen. Dafür war ich also etwas zu früh, beschloss aber, inzwischen in den eben geöffneten Friedhof zu gehen, nach dem Grab zu schauen, die Kerzen anzuzünden …

“Guten Morgen!” sagte die alte Frau laut wie eine Mahnung, schon an der Einmündung des Weges, an der wir fast zusammentrafen. Ich schreckte hoch. War ich gemeint? Kannte sie mich? Sie war an der Station, an der meine Mutter die Wohnung gehabt hatte, in die Straßenbahn gestiegen!

Aber ich war nicht gemeint. Sie hatte es zu den Händlern gesagt, denn von da wurde der Gruß in einem Ton wie in Bekanntschaftsverhältnissen üblich erwidert, und richtete auch ihren weiteren Weg zu einem der Stände. Im Vorbeigehen dachte ich noch: “Die Chefin auf Kontrollgang!”

Das Grab sah herbstlich aus. Es liegt am Rande des Friedhofs, gleich an einem grau verwitterten Bretterzaun, dazwischen nur noch ein schmaler Streifen Sträucher und vereinzelt Bäume, und hinter dem Zaun ein Abstand und Raum haltendes, unbebautes Feld. Und von da kam soeben ein heller Sonnenstrahl über die rissige, alte Zaunkrone. als ich mit den Fingern das von den Bäumen gefallene Laub vom Grab fasste und es - nachdem ich mich umgeblickt und festgestellt hatte, allein zu sein -, ungehörig wie ich war, hinter den Grabstein warf, wo bereits bis zum Zaun hin genügend Laub im Wind von den Bäumen “gesegelt” war und sich gesammelt hatte. Was täten da zwei, drei Handvoll (oder mehr) mehr? Das Schuldbewusstsein kam, als ich an den Abfallsammelstellen vorbeikam und die abgelegten Laubberge sah.

“Verzeih, Mama!” murmelte ich und setzte meinen Weg fort, um nach den Gestecken der Gärtner zu schauen, die hoffentlich schon mit dem Auslegen an ihren Ständen fertig waren.

Hier traf ich die alte Frau, die bei näherem Besehen so alt gar nicht war. Und sie war auch keine Chefin, denn sie verabschiedete sich gerade von ihrem Chef, der die Gestecke ausgelegt hatte und eben im Begriff war in seinem Auto davon zu fahren.

“Grüß’ Sie, der Herr” sagte sie zu mir. “Schauen Sie sich nur um! Ich werd' einmal hinter den Verkaufsstand gehen …”

Dabei ließ sie von dem Rollator ab und zwängte sich zwischen Ladentisch und dem Holzgestänge, das eine Plane als Regenschutz trug, hindurch, während mir moosbelegte Kreuze ins Auge stachen, wovon ich eines für das Grab meiner Großeltern kaufen wollte. Aber sie gefielen mir so gut … warum sollte ich nicht auch eines für das Grab meiner Mutter kaufen?

“Geben Sie mir gleich die ersten beiden Kreuze, die Sie da hängen haben … das zu 23 und das zu 25 Euro”, sagt ich zu der Frau.

Sie wandte sich in die Richtung, in die meine Hand zeigte und sagte:

“Nein, nein, die kosten beide jeweils 23 Euro - die Bepreisung des einen ist ein Irrtum. Aber dafür werden sie einen Beutel brauchen, denn das Moos an den Kreuzen wird ihnen den Rucksack versauen … Warten Sie, ich hab einen im Rollator! Den gebe ich Ihnen. Sehen Sie, das hätte ich dem Chef sagen können, dass ich Beutel brauche … Aber die meisten Leute, die hier kaufen, bringen das Gesteck nur hinein auf den Friedhof und brauchen keinen Beutel.”

Ich wollte schon sagen, sie solle sich keine Umstände machen, aber da zwängte sie sich schon wieder zwischen dem Ladentisch hervor und griff in ihren Rollator, aus dem sie einen Beutel zum Vorschein brachte, der kaum eines der Kreuze abdeckte. Das machte sie ein wenig enttäuscht.

“Ich bringe das andere ohnehin gleich hinein”, sagte ich, um sie zu beruhigen und deutete nach dem Friedhofseingang. Dann gab ich ihr 50 Euro.

Während sie eine Geldbörse hervor zog, um mir das Wechselgeld zu geben, schnappte ich die beiden Kreuze und rannte davon.

“Aber der Herr … 46 Euro bekomme ich nur!” rief sie hinter mir her.

“Nein, das stimmt schon so”, antwortete ich über die Schulter. Und während sie sich bedankte, fürchtete sie noch, dass ich zu viel bezahlt hätte ... Und ich dachte, dass bei ihr alle Verkäufer der Stadt ausgebildet werden müssten.

Als ich wieder ans Grab meiner Mutter kam, fiel mir ein, dass meine Mutter, die vor 6 Jahren im Alter von 72 Jahren an Bauchspeicheldrüsenkrebs gestorben war, bereits mit 30 aus der Kirche ausgetreten war. An ihrem Begräbnis war kein Priester - und ich … ich hatte jetzt ein moosbesetztes Kreuz für sie gekauft!

“Verzeih mir, Mama!”
 



 
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