Vexierbild

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Tula

Mitglied
Vexierbild

Frontalansicht – der tägliche Blick auf dich selbst:
ein routinierter Kämpfer, dressierte Miene, ginge durchaus
als Büste durch, warum nicht? auch du beherrschst die Kunst
der Befehle, im modernen Sprachgebrauch: Motivieren ...

einblendend – die gelegentliche Reflexion:
du gehörst zur alten Garde des Kaisers; der sendet dir
hin und wieder ein neues Pferd, dem du beflissen folgst
wärst du nur Feldherr, du würdest tapfer
Grenzflüsse überqueren, Städte errichten
lassen und dich auf den roten Drachen stürzen, denn
der gallische Markt allein ist viel zu klein für dich

abschweifend – die befindliche Durchsicht:
stattdessen würfelst du im Hinterland; sieht nur so aus wie
ein langweiliges Spiel, du trägst Verantwortung und
schnelle Antworten mit dir herum; du bist sogar dabei, wenn sie
einmal pro Woche in Delphi am Tisch sitzen

die Vogelperspektive – Stillleben:
die verlassene Front, Schauplatz irgendeiner Vorgeschichte,
jede Falte ein Strich in einer drögen Landschaft ohne
nennenswerte Erhebungen, ein halb-verdorrtes Stoppelfeld und
an seinen Flanken ein paar Büschel graues Heiligenkraut

aber
die Sonne spiegelt sich
noch immer in den zwei blauen Seen
aber
unter der Kruste!
 

wiesner

Mitglied
Sehr interessante Bilder mit ihren Geschichten dazu!

die Vogelperspektive ... hat's mir angetan mit ihren Landschaftsangeboten!

Toll!

Gruß
Béla
 
im modernen sprachgebrauch - schon das ist fünf sternchen wert.
gefällt mir wirklich gut, lieber tula. sehr viel gehalt für so kurzen text.
aber gemeistert.
liebe grüße
charlotte
 

Tula

Mitglied
Hallo Béla
Danke fürs positive feedback. Ja, die Vogelperspektive ist wohl jene, die man(n) weniger gern von sich selbst hat.
Aber unter der Kruste ... ;)

LG Tula
 

sufnus

Mitglied
Hey Tula,
diese Vierseiten-Ansicht ist wirklich originell, hat einen sehr schönen Verschmitztheitsfaktor und sprachschön und nachdenklich ist sie auch noch. Also bei mir bleiben keine Wünsche übrig. :) Der ergraute Heiligenkrautkranz ist natürlich eine ganz besonders schöne Idee.
Im Prinzip hätte ich die allerletzte Strophe nicht zwingend gebraucht; die wechselt ja von der offeneren Anschauung in einen etwas "engeren" Kommentiermodus, da verliert das Gedicht um ein Minimü den Pluralismus der unterschiedlichen Ansichten (ha - was für ein schön doppeldeutiges Wort). Andererseits bleibt mehr als genug Lese- und Rezipierspielraum übrig. Ich mag es wirklich sehr sehr sehr! :)
LG!
S.
 

Tula

Mitglied
Hallo sufnus
Herzlichen Dank fürs feedback, insbesondere der Verschmitztheitsfaktor hat mich gefreut.
Zur letzten Strophe: die Absicht hier ist auch der Kontrast zur ersten, d.h. zum narzisstischen Büsten-Traum und, im Vergleich, der realen Bedeutungslosigkeit des Selbstbetrachters. Wenn man(n) natürlich ganz genau hinschaut, ist der 'ganz der alte' tolle Kerl unter der Kruste noch gut erkennbar :cool:

Liebe Grüße aus dem Hinterzimmer des Lebens
Tula
 



 
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