Via Sanguis – Friedrich und Stine - 1 - Aufbruch

Tessy

Mitglied
Via Sanguis – Friedrich und Stine - 1 - Aufbruch

© Tessy

So stolz blickt er in den Spiegel.
Bewundert seine Uniform,
die glänzenden Knöpfe,
und den Helm.
Kein Stäubchen trübt den Anblick.

Morgen wird er seinen Dienst beginnen,
am Samstag, den ersten April des Jahres 1905.
Bei der Criminal Polizei in Hamburg,
in dieser bunten Stadt
mit den lebhaft daher eilenden Menschen.

Anders als hier,
anders als in diesem preußischen Ort,
diesem langweiligen, verschlafenen Flecken
an der Bahnlinie von Lübeck nach Hamburg,
in dem der Herzschlag des Lebens nur leise pocht.

Das Pendel der Standuhr schlägt
den ruhigen aber bestimmten Takt
im Hause von August Ahrens, seinem Vater.
Ein preußischer Amtmann, seinem Kaiser ergeben,
seiner Aufgabe treu, seinem Dienst verpflichtet.

Korrekt, verlässlich, genau.
Sauber und ohne Makel,
an Seele nicht, am Körper nicht
und an der Moral erst recht nicht.

Um 8 Uhr wird das Amt geöffnet.
Um 12 Uhr wird es geschlossen.
Um 12.30 Uhr wird zu Mittag gegessen.
Um 14 Uhr ist es wieder geöffnet
bis abends um 18 Uhr.

1870 - 71 war er dabei.
Dabei in Sedan.
Und erhielt als Dank
die Position eines preußischen Amtmanns.
Ein kleines Häuschen
und die preußische Fahne
an dem kleinen Mast
auf dem Dach.

In diesem Sinne wuchs Friedrich heran,
unser junger Polizist.
Sein Vater hätte gern gesehen,
wenn er auch ein Amtmann geworden wäre.
Aber Friedrich suchte mehr.

Nein, er wollte nicht das ruhige Leben,
wollte nicht auf einem dörflichen Polizeiposten
als Gendarm oder Constabler ein bequemes Dasein führen.
Ihn lockte die Herausforderung der lauten Stadt.

Er war schon oft mit der Eisenbahn nach Hamburg gefahren.
Vom Lübecker Bahnhof dann
mit der elektrischen Straßenbahn
hinein in die Stadt,
wo die Menschen durch die Straßen eilen,
hinunter zum Hafen,
wo die großen Schiffe liegen
und die Niethämmer der Werften
die Menschen in den Schlaf begleiten.

Er gibt der Mutter einen Abschiedskuss:
„Pass op di op, min Jung“, sagt sie leise.
„Ick bün doch an kommende Sonndach weer terüch“, tröstet er
und der Vater mahnt „Min Jung, maak mi keen Schand!“

Nur Stine wird ihm fehlen.
Diese junge Frau, mit der weißen Haut,
den blonden Zöpfen, den blauen Augen
und dem kleinen rosa Mund in ihrem puppenhaften Gesicht.

Stine, dieses reine, makellose Wesen,
züchtig, keusch und unschuldig,
das seit einem Jahr als Hausmädchen
beim Apotheker Käding in Diensten steht.

Sie macht ihm schöne Augen,
er macht ihr den Hof,
holt sie ab an ihren freien Tagen,
flaniert mit ihr durch die Straßen,
wortlos träumend von ihrer zweisamen Zukunft,
zu beschämt, darüber zu sprechen,
hin zu den Gasthäusern,
wo sie bei Kaffee und Gebäck sitzen
und miteinander redend Höflichkeiten austauschen.

Nie würde er ihr zu nahe treten
Sie niemals kompromittieren.
Zu sehr ziert sie sich.
Ihre Hand darf er halten
und zum Abschied ihre Wange küssen,
bevor sie wieder ins Haus des Apothekers entschwindet.

Nur diesmal war es anders.
Sie küsste ihn,
den verdutzten Friedrich
zum Abschied auf seine Lippen
und lief dann eiligst,
ohne sich umzudrehen
ins Haus ihres Dienstherren.

Nun steht er auf dem Bahnsteig.
Noch immer erinnert er ihre weichen Lippen,
als sie gestern die seinen berührten.
Kann seine Gedanken nicht lösen von Stine,
zu sehr schlägt sein Herz für sie.

Da schnauft es heran.
Das schwarze Ungeheuer,
dampfend, schnaubend,
wie ein wütendes Tier.
Polternd laufen die Waggons in den Bahnhof ein,
wo der Zug mit kreischenden Bremsen zum Stehen kommt.

Nun ist es soweit, Friedrich.
Steig ein ins Abteil
und betrete sie,
die neue Episode Deines Lebens.
 
G

Gelöschtes Mitglied 17359

Gast
Hallo Tessy!

Fast traue ich mich nicht, deinen Text zu kommentieren.

Ich habe noch nie etwas Derartiges gesehen: Diese Mischung aus Prosa und Lyrik, die beide Kategorien zusammenführt und daraus etwas ganz Neues macht. Der Lyrik fehlt zwar das Versmaß und der Reim, aber jede Strophe ist für sich genommen schlüssig und abgerundet. Der Prosa fehlt der Dialog und der fließende Fortgang, aber die Beschreibungen und der sprachliche Ausdruck sind treffend und bildhaft.

Ich habe die beiden Texte, die du bis jetzt eingestellt hast, mehrfach gelesen. Zuerst war ich befremdet, aber mit jedem Lesen erfasste ich mehr von der Schönheit deiner Sprache. Jetzt bin ich begeistert.

Ich bin gespannt auf die weiteren Teile deiner Erzählung (oder wird es ein ganzer Roman?)

Gruß, Hyazinthe
 

Tessy

Mitglied
Hallo Hyazinthe
Vielen Dank fürs Lesen und für Deinen Kommentar.
Und natürlich freut es mich, dass Dir mein Experiment mit einem freien Versmaß ohne Reim gefällt.

Zuerst sollte es eine dramatische Geschichte werden, die zwischen dem Leben der guten alten Kaiserzeit und den Abgründen von Armut und Elend pendelt.

Dann dachte ich daran, dass man daraus ein Gedicht mit Reimen machen könnte. Aber es klingt dann so gestelzt.

Dann dachte ich an ein gleichmäßiges Versmaß und lief wieder in die Falle, dass die Wahl und Anordnung der Wörter in den Vordergrund treten und man die Handlung interpretieren muss.
Ich habe sogar eine Episode im Heptameter Versmaß geschrieben.
De folgt auch noch demnächst.

Also, zurück zur Prosa und die dann in Verse portionieren, die durch die Taktzahl ja auch etwas ausdrücken können.

Und Dialog kommt auch noch! Versprochen.

Gruß,
Tessy
 
G

Gelöschtes Mitglied 4259

Gast
Hallo Tessy,

dass Reime zwar nicht den Sprachfluss, aber das Denken bzw. die Findung präziser Inhalte stören, ist wohl schon von vielen beobachtet worden. Bei H. Heine finden sich schöne Beispiele für reimlose, jedoch gekonnt rhythmisierte Verse - und man vermisst die Reime nicht.

Ich hatte keine Schwierigkeiten, mich in den ersten Teil des Textes einzulesen. Sehr schön, verständlich und poetisch zugleich...

Herzlich

P.
 



 
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