Vielleicht Vergeben

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Der lange Weg zum Friedhof war ein dunkelblaues Tuch.
Die vielen Jahre haben es gebleicht.
Der Anstieg wie ein Bild in einem Buch.
Die Seiten blätterten sich leicht.

Doch, was einst durch die Seiten trug,
so luftig frei wie Vogelflug,
das Lesen von den stillen Gräbern und den Totenmasken
(das luftige Herniederschauen),
ist längst nicht mehr genug
(Trug)

Darüber wurdest du erwachsen.

Die dunkelrote Rose netzt kein Tau.
Nur Schneckenschaum.
Und von der Krypta grüßt kein Pfau,
bloß Ahnung eines nie geträumten Traums: Erinnern und Wimmern ,-
Geschwister mit beinharten Händen.
Schwielig, Rau. Sinnende Gräber. Abends dunkelblau und
endend.

In die Nacht getragen. Weggenommen von den Bänden über das Säuglingstücherweben. Aufgeschlagen aus dem Leben. Angekommen im Vergehen. Den Weg zum Friedhof aus dem Schmeicheln eines Totentuchs verstehen. Das ist vielleicht Vergeben.
 
Zuletzt bearbeitet:
hi @wiesner

ich freue mich sehr, dass Du die Stelle bemerkt hast und bemerkenswert findest. Ich habe mich beim Schreiben sehr gefreut, dass der ganze Weg der Bewusstwerdung sich so stimmig vom Weg als Tuch über das Säuglingstücherweben hin zum (An)Schmeicheln des Totentuches beruhigt hat.

mes compliments

Dio
 

fee_reloaded

Mitglied
Einer deiner besten aus meiner Sicht, lieber Dio!

Nichts zuviel und von Klang und Rhythmus her dem Thema perfekt zuarbeitend!
Ich frage mich nur, warum die letzten Zeilen die Form der übrigen Strophen verlassen? Ich hätte sie beinahe nicht als zum Gedicht gehörig gelesen, sondern als Fußnote halbherzig "mitgenommen".

Die dunkelrote Rose netzt kein Tau.
Nur Schneckenschaum.
Und von der Krypta grüßt kein Pfau,
bloß die Ahnung eines nie geträumten Traums: Das Erinnern und das Wimmern ,-
Geschwister mit beinharten Händen.
Schwielig, Rau. Sinnende Gräber. Abends dunkelblau und
endend.
Mit was vom Stärksten, das ich hier auf der Lupe gelesen habe bisher! Für mich könnte das Gedicht eben auch hier enden und gewaltig nachhallen. Allerdings fehlte natürlich dann das Vergeben, das im Titel angedeutet wird...was war der Grund für die optische Separierung der vierten Strophe? Es ist doch eine, oder?

Ein Gedicht, zu dem ich sicher noch oft zurückkehren werde. Danke!

Liebe Grüße,
fee
 
G

Gelöschtes Mitglied 16600

Gast
Gelobt wurde schon reichlich zu recht. Fee hat es auf den Punkt gebracht. Klang und Rhythmus passen gut zum Thema.
Das einzige, was mich stört, ist der Artikel "die Ahnung" in V3S4 . Er stört meinem Empfinden nach den rhythmischen Fluss und engt auch ein.
Ich würde alle Artikel in der Zeile streichen, etwa so:
bloß Ahnung eines nie geträumten Traums: Erinnern und Wimmern ,-

Am Ende ist es, wie fast immer, Geschmacksache. Und darüber lässt sich trefflich streiten.

Gruß Hans
 
Hi @fee_reloaded und @manehans

vielen Dank für Euer Vorbeischauen und die Rückmeldung und Auseinandersetzung mit dem Text!

Liebe Fee, eine interessante Rückmeldung, dass das Absetzen der letzten Zeile das gegenteil von dem auslöst, was eigentlich beabsichtigt war: Nämlich eine Betonung zu ermöglichen, die sich durch die Lücke ergibt. Im Zeilenumbruh, in der kurzen Stille zwischen der Forstsetzung sollte ein inneres Innehalten angedeutet werden, das beachtet werden wollte.

Lieber Hans, Dein Vorschlag hat mir sehr gut gefallen und ich habe den Text entsprehend geändert. Es liest sich nicht mehr so hart und eingeengt nun. Du hast völlig Recht. Merci !

mes compliments

Dionysos
 



 
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