Vier Brüder

Gerardo

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Alles fing an einem ganz normalen Tag an. Die Sonne schien prächtig vom Himmel und wurde von keiner einzigen Wolke daran gehindert, ihre volle Kraft auszuschöpfen. Es war Sommer und sehr heiß. Die Erde war schon ganz ausgetrocknet und stöhnte vor Hitze. An diesem Sonnentag mitten im Sommer beschloss der Sommer, nie wieder damit aufzuhören, seine volle Sonnenkraft auf die Erde zu werfen. „Hi, Hi, Hi“, zischte er: „Ich werde nie wieder davon gehen und mit meiner Sonne immer die Erde erwärmen. Mir allein soll die Erde gehören und wer sich mir in den Weg stellt, wird verbrannt von meiner heißen Sonne.“



Die Entscheidung des Sommers, die Erde nie wieder für die anderen Jahreszeiten frei zu geben, versetzte die Brüder des Sommers in Schrecken. Der Herbst, der Winter und der Frühling fingen an zu weinen. „Was sollen wir jetzt tun?“, fragten sie sich verzweifelt. Keiner von ihnen konnte den heißen Sommer verdrängen. Das Weinen der drei Jahreszeiten war überall zu hören. Aber die Menschen hörten es trotzdem nicht. Sie waren zu sehr mit sich selbst beschäftigt.

Nur in einem großen Haus, hinter einem der vielen Fenster, wurde das Weinen der drei Brüder gehört. Hier saßen wie immer vier Stofftiere: Ein kleines schwarzes Schäfchen mit großen Ohren und einem kleinen roten Herz auf der Brust. Daneben ein Hase mit einer rosa Nase, der das Schäfchen liebevoll umarmte. Auf dem Schoß des Hasen saß ein kleiner Bär mit braunen Kulleraugen. Über Allem thronte ein großer Bär, der eine bunte Fliege trug. Erschrocken hörten sie das Wehklagen der drei Jahreszeiten und hätten fast mitgeweint. Nie wieder Schnee? Nie wieder goldene Blätter? Und nie wieder blühende Bäume? Das konnten sie nicht zulassen. Irgendwie wollten sie das verhindern. Nur wie, fragten sie sich aufgeregt? Das kleine schwarze Schäfchen hatte einen Einfall: Sie sollten warten bis das Eichhörnchen sie wieder besuchen würde und ihm alles erzählen. Vielleicht hätte das kleine braune Eichhörnchen eine Idee, wie das Schreckliche von der Erde abgewendet werden könnte.

Die Stofftiere spitzten ihre Ohren und es dauerte auch wirklich nicht lange, bis ein kratzendes Geräusch das Kommen des Eichhörnchens ankündigte. Das Eichhörnchen lief die Hauswand entlang, um über den Balkon zum Fenster zu gelangen. Die Stofftiere bewunderten seine Kletterkünste jedes mal von Neuem. Leicht wie eine Feder, schnell wie ein Panther, stand es vor ihnen. „Hallo“, begrüßten sich das Eichhörnchen und die Stofftiere.

Aufgeregt berichteten die Stofftiere, was sie gehört hatten. Das Eichhörnchen erschrak: Nie wieder Schnee? Nie wieder Winterschlaf? Nie wieder goldene Bäume? Nie wieder blühende Bäume? Das wäre sein Tod und der Tod von allen Tieren im Wald, stellte es schnell fest. Mit den Rehen und den Füchsen müsste es sprechen. Vielleicht wussten sie, wie man die Erde vor dem Unglück bewahren könnte. Sofort rannte das Eichhörnchen in den Wald und suchte dort nach den Tieren.

Es war schwierig, die Tiere ausfindig zu machen. Die Angst vor den Menschen hatte sie immer weiter und tiefer in den Wald getrieben. Waren es keine Menschen Figuren, vor denen sie flüchteten, dann waren es deren Errungenschaften. Die Menschen hatten Hunderte von Metern hohe Betonpfeiler in die Erde gerammt, die wiederum hunderte von Kilometern lange Betonstraßen abstützten. Manchmal kamen die Menschen auch ohne Betonpfeiler aus. Dann stampften sie die Betonstraßen einfach ebenerdig durch den Wald. Der Krach auf den Betonstraßen war so laut, dass sich die Tiere im Umkreis von vielen Kilometern nicht mehr blicken ließen.



Nach einigen Stunden des Suchens fand das Eichhörnchen völlig erschöpft die Tiere im hintersten Winkel des Waldes. Außer Atem und Nass geschwitzt berichtete es ihnen, was die Stofftiere ihm erzählt hatten. Auch die Tiere des Waldes erschraken. Nie wieder Schnee? Nie wieder goldene Bäume und nie wieder blühende Bäume? „Nein“, schrien die Rehe! Es reichte, dass der Mensch sie verdrängte und ihnen das Leben schwer machte. Es durfte nicht sein, sprachen sie, dass nun auch noch der Sommer ihr Leben bedrohte. „Nein“, schrien die Füchse! Man muss etwas unternehmen.
Die Tiere des Waldes zogen sich in eine Höhle zurück und berieten aufgeregt, was zu tun sei.

Nach einigen Stunden der Beratung kamen sie zu dem Ergebnis, dass es nur eine einzige Möglichkeit gab, den Sommer zur Vernunft zu bringen. Sie mussten den Frühling, den Herbst und den Winter dazu bewegen, ihre Kräfte zu vereinen. Das war die einzige Möglichkeit, um die Erde vor dem Aus-trocknen zu retten und den anderen Jahreszeiten wieder zu ihrem Recht zu verhelfen.

Die Vereinigung von drei Jahreszeiten war nur durch einen uralten Zauber möglich. Dieser Zauber bestand darin, dass sich alle Tiere des Waldes an einem Feuer zusammenfinden mussten. Dann mussten sie Salbei verbrennen und jedes Tier musste seinen typischen Laut aussprechen. Wenn dann alle zusammen einen bestimmten Laut erzeugten, würden die drei Jahreszeiten erscheinen.

Kaum war dieser geheimnisvolle Laut der Tiere aus der Höhle in den Wald hinein geschallt, kam der Winter zur Höhle herein und pfiff mit einem eisigen Wind. Als nächstes kam der Frühling, bekleidet mit den Blüten des Kirschbaums. Zuletzt kam der Herbst und brachte goldene Blätter mit. Seit Tausenden von Jahren hatte niemand mehr die Jahreszeiten zusammen gerufen und sie waren mehr als überrascht. Erstaunt blickten sie die Tiere an und fragten sie, warum sie den alten Zauber angewandt hatten. Das Eichhörnchen war von den Tieren zum Wortführer gewählt worden. Im Namen aller Tiere bat es nun die drei Jahreszeiten, die Erde vor der Zerstörung durch den Sommer zu retten. Wenn der Frühling, der Herbst und der Winter gleichzeitig handeln würden, so ließ das Eichhörnchen wissen, dann wären sie sicher stark genug, um den Größenwahn des Sommers zu besiegen. Die drei Jahreszeiten erschraken: „Wie, im Namen der Erde, sollen wir gegen die heiße Sonne des Sommers vorgehen können“, fragten die Drei ungläubig? „Ganz einfach“, sagte das Eichhörnchen: „Der Winter muss für Schnee sorgen, der Frühling für Regen und der Herbst macht einem schönen Sturm. Und das alles gleichzeitig! So werdet ihr den Sommer ganz bestimmt zur Vernunft bringen“, sprach das Eichhörnchen und seine Worte wurde von einem stummen Nicken der anderen Tieren bekräftigt.

Die drei Jahreszeiten sahen sich fragend an und erstarrten vor Angst. Diese unglaubliche Möglichkeit hatten sie noch gar nicht in Betracht gezogen. Da sprang der Fuchs aus dem Kreis der Tiere hervor und fragte die Brüder, was sie denn zu verlieren hätten? Schließlich könnten nur sie die Erde vor dem Austrocknen retten, sprach der Fuchs. Wieder zogen sich die Glieder der drei Jahreszeiten zusammen. Was hatten sie zu verlieren, fragte sich der Herbst und zischte mit einem Windstoß dem Frühling zu? Was hatten sie zu verlieren, fragte der Frühling den Winter? Zitternd und mit Eiseskälte blickte der Winter aus seinen Schneeflockenmantel. „Die Erde und ihre Tiere“, bibberte er vor sich hin und stand auf und war bereit. Das brachte auch den Frühling und den Herbst auf die Beine. Zusammen mit dem Winter traten sie vor die Höhle ins grelle Licht der Sonne.

Heiß wie nie knallte die Sonne vom Himmel und die Bäume und Blumen lechzten nach Wasser. Sofort pustete der Winter mit aller Kraft seine Schnee-flocken auf die Sonne zu. Aber die große Hitze, die von der Sonne ausging, brachte die Schneeflocken im Nu zum Schmelzen. Ohne überhaupt die Erde berührt zu haben, verdunsteten sie zu einer kleinen Wolke. Da griff schnell der Herbst ein und blies in Richtung Sonne einen gewaltigen Sturm. Das zwang die Sonne, ihre Augen zu zu kneifen. Sofort goss der Frühling einen Frühlingsregen hinterher und die Sonne zischte nur so. Die drei Brüder bliesen und gossen jetzt alles, was sie hatten, auf die Sonnenkugel. Schnell bildete sich um die Sonne herum eine große Dampfwolke und durch den heißen Dampf entstanden sofort Wolken, aus denen es regnete.

Unter den Füßen der drei Jahreszeiten hörte man die Erde, die Bäume und die Blumen erleichtert aufatmen. Endlich wieder Wasser! Die Tiere kamen aus der Höhle und tanzten vor Glück in den Pfützen, die sich schnell gebildet hatten. Es dauerte nicht lange und die Sonne war abgekühlt.



Weinend hing der Sommer in den Wolken, aber er war auch froh, dass endlich seine Kopfschmerzen vorbei waren. Zu viel Sonne verträgt der heißeste Sommer nicht. Langsam gingen der Frühling, der Herbst und der Winter auf den Sommer zu. Da stand er nun mit seinen Sonnenblumen und schämte sich für seinen Egoismus. Er entschuldigte sich bei seinen Brüdern und bei den Tieren des Waldes und dankte allen dafür, dass sie ihm eine Lehre erteilt hatten. Er wusste jetzt, dass die Erde nicht ihm allein gehören konnte. Nur mit dem Frühling, dem Herbst und dem Winter gemeinsam konnte er dafür sorgen, dass es der Erde und den Tieren gut ging.
Am nächsten Tag war alles wieder an seinem Platz. Der Sommer leuchtete entspannt vor sich hin und schenkte den Blüten der Blumen und Bäume ihre Vollendung. Der Herbst wartete schon auf die letzten Sonnenstrahlen und auf eine reiche Ernte der Frühlingssaat. Der Winter hielt sich mit Decken aus Schnee bereit, um den Tieren einen angenehmen Winterschlaf zu schenken. In dem großen Haus mit den vielen Fenstern saßen wieder die vier Stofftiere auf der Fensterbank, ließen sich von der warmen Sommersonne anleuchten und warteten auf das Eichhörnchen, dass sicher bald wieder vorbei kommen würde.




Ende
 



 
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