Visum für einen Staatenlosen

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rubber sole

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Ich hatte einen Traum. Einen unruhigen. Vor bedeutsamen Ereignissen schlafe ich immer schlecht. Niemals traumlos. Die Reise in ein exotisches Land steht bevor. Ich bin freudig erregt. Schon seit Tagen. Nun dieser Traum. Kein blanker Horror. Aber trotzdem verstörend. Ich warte in dieser Episode voller gespannter Erwartung. Auf einen Brief. Von der Botschaft des Ziellandes. Mit meinem Reisepass und dem erteilten Visum. Korrekt frankiert. Eigenhändig. Als Rückantwort und Einschreiben deklariert. Bei solchen Dingen erlaube ich mir keinen Fehler. Schon im Vorfeld nicht. Niemals. Auch diesen Visumsantrag habe ich akribisch ausgefüllt. Wieder und wieder kontrolliert.

Und nun dies. Ein Schreiben von der Botschaft. Ein Brief im Standardformat. Nicht mein Rückumschlag. Der Inhalt lässt mich verzweifeln. Die Ausstellung eines Visums wird mir verweigert. Mein Herkunftsland wäre nicht eindeutig. Nicht visumfähig. Bundesrepublik Deutschland wird als Geburtsland nicht anerkannt. Die gab es damals nicht. Erst ab dem Jahr 1949. Stimmt. Und ich bin Jahrgang 1948. Ich möge einen korrekten Antrag stellen. So die Botschaft.

Ich reagiere postwendend. Übernehme die bisherigen Daten. Das Herkunftsland ersetze ich durch den Begriff Deutschland. Wird auch abgelehnt. Zu allgemein. Es gab damals mehrere Deutschlands. Nach dem Deutschen Reich. Welches davon denn mein Herkunftsland wäre? Weitere Tage bis zum Reisebeginn verstreichen. Ich rufe bei der Botschaft an. Der Sachbearbeiter kennt den Fall. Mit diesem Antrag habe ich keine Chance auf ein Visum. Ich gelte als staatenlos. Erklärt der Beamte. Ein freundlicher Mann. Er will mir helfen. Hat in der früheren DDR studiert. Kennt sich in deutscher Zeitgeschichte aus. Sein Vorschlag verwirrt mich. Alternatives Herkunftsland: Trizonesien. Spinnt der? Aber das kann er haben. Ich fülle ein neues Formular aus. Schicke den Antrag zurück zur Botschaft. Nun wird er bewilligt. Das Visum kommt. Endlich. Dann wache ich auf. Schweißgebadet. Ich stelle mit Zufriedenheit fest: doch nicht staatenlos. Alles nur ein böser Traum. Meine Frau bringt mir die Post vom Vortag. Unter anderem den Reisepass mit Visum. Große Erleichterung. Aber dennoch, ich google >Trizonesien<. Treffer! Gibt es tatsächlich. Ich fasse es nicht. Staatsrechtliche Bezeichnung nach dem Zweiten Weltkrieg. Vor Gründung zweier deutscher Staaten. 1946 von den drei Westalliierten so betitelt. Völkerrechtlich korrekt.

Jetzt will ich es genau wissen. Mal eben den Link zur 'Nationalhymne' bedient. Lied von Karl Berbuer: 'Wir sind die Eingeborenen von Trizonesien'. Existiert ebenfalls. Ursprünglich als Karnevalslied. Reisen bildet. Ich habe viel gelernt. Auch, wie man sich als Staatenloser fühlt.
 

petrasmiles

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Lieber rubber sole,

ein erster Impuls ist sicher, jetzt erst einmal Trizonesien zu recherchieren ... aber mich hat an Deiner Geschichte erst einmal der Traum fasziniert. Man denkt bei Träumen in erster Linie an 'sprechende' Träume, aber Du hast einen 'sehenden' Traum geschildert, einen, der auf wundersame Weise etwas 'verstehen' lässt.

Ich hatte mal als sehr junge Frau einen Traum über einen Lottogewinn. Und ich zog das im Traum voll durch - das unverhoffte Glück, das Genießen der Möglichkeiten, die Sorglosigkeit. Aber dann der soziale Aspekt. Welcher der Freunde konnte 'mithalten'? Wer der Vertrauten konnte noch teilhaben am Leben und woran konnte man selbst noch teilhaben? Mit jedem Schritt aus der eigenen materiellen Beschränktheit hinaus entfernte man sich nicht nur aus diesem Leben, sondern von den Menschen, die es mit einem 'ertrugen'. Selbst das anfangs noch zelebrierte 'Einladen' war nur eine löchrige Brücke - wer lässt sich auf Dauer einladen; welche Gefühle bringt man demjenigen entgegen, der einen ständig die materielle Unterlegenheit spüren lässt? Natürlich blieben die 'falschen' Leute übrig. Seither habe ich diesen 'Traum' eines unverhofften Geldsegens gar nicht mehr, aber ich entwickelte mein Talent des vernünftigen Wirtschaftens weiter.
Ohne Deine Geschichte hätte ich daran gar nicht mehr gedacht - und mir wäre auch gar nicht aufgefallen, dass es diese 'sehenden' Träume gibt. Ich glaube Deinem Protagonisten aufs Wort, dass er nun weiß, wie man sich als Staatenloser fühlt.

Und jetzt schau ich doch einmal nach Trizonesien ...

Liebe Grüße
Petra
 

petrasmiles

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Nachtragen muss ich jetzt noch, dass mir - als Rheinländern - das Karnevalslied natürlich vertraut war, ich kannte auch noch die Melodie. Aber der ganze politische Kontext war mir nicht geläufig - wie das vielleicht manchmal so ist, wenn man etwas quasi mit der Muttermilch aufgesogen hat. Es ist einfach da und wird nicht hinterfragt.
Aber um so schöner finde ich diese durchaus ernsthafte Geschichte (wenn auch mit Augenzwinkern), die Du daraus gemacht hast.

Liebe Grüße
Petra
 

Shallow

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Hallo @rubber sole,

sehr guter Text, mir gefällt dein Stil! Mir war Trizonesien völlig unbekannt (ich glaube, die staatsrechtliche Bezeichnung des Zusammenschlusses ist der dichterischen Freiheit zuzuorden?). Danke für Text und Beleuchtung dieses Sachverhaltes und

Guten Rutsch wünscht

Shallow
 

rubber sole

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Liebe Petra,

verständlicher Reflex, >Trizonesien> zu googeln. Ging mir genauso, als mir der Begriff vor die Füße fiel. Mir war klar, um den herum wird eine Geschichte gesponnen. Einen Traum als Einstiegsvehikel zu wählen, ist nicht besonders originell, schien mir hier jedoch passend. Ich selber bin als 'Früher-Oft-Fernreisender' auch einige Male durch ein enges Zeit-Fenster bei der Erstellung eines Visums unter Druck geraten, was sich aber nie in einem luziden Traum entladen hat. Möglicherweise ist diese tatsächlich nicht ganz ernst gemeinte Geschichte auf diesem Wege auch eine verspätete posttraumatische Aufarbeitung geworden. Herzlichen Dank für die üppige 'Besternung'.

Gruß von rubber sole
 

rubber sole

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>shallow;

Danke für deinen wertschätzenden Kommentar, Shallow, habe ich sehr gerne gelesen. >Trizone> ist tatsächlich ein korrekter zeitgeschichtlicher Begriff - >Trizonesien> die Verballhornung davon. Herzlichen Dank auch für den Wunsch zum Jahreswechsel.

Gruß von rubber sole







Gruß von rubber sole
 



 
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