Vita brevis, ars est aeterna !

OkseUwenknecht

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Herbst, oder besser gesagt allmählich Winter. Der Wind und die schüchternen Schneeflocken wetteifern, wer von ihnen zuerst in Erscheinung treten darf.
Es gewinnt der Wind. Niemand bittet die Schneeflocken zum Tanze. Doch wenigstens fallen die Temperaturen. Sie sinken langsam und werden schlussendlich getragen vom Wind. Das und nicht mehr ist die Antwort der Natur auf die Frage: Wann bricht der Winter ein.
Wir haben November, Ende November. Was tut man in diesen Zeiten ?
Ich finde keine Antwort darauf und entschließe mich zu einem Spaziergang.
Ich verspüre die Kälte, der Stadtpark verspürt die Kälte, doch trotzdem lass ich mich auf einer Bank nieder. Neben mir befindet sich ein Kastanienbaum, dessen Früchte am Fuße ihres Heimes verweilen. Mein Blickfokus schwindet in Richtung der unbedeckten Äste, die mühevoll am Firmament kratzen. Jene unförmigen Sprösslinge, welche in anstrengenden Stile versuchen, die gedachte Silhouette der Krone beizubehalten erzeugen in mir eine Art des Mitgefühls. Lediglich der Wind, der durch sein Auftreten des Vorhaben der Geäste zu enttarnen versucht, belebt die Szenerie. Trotz Dessen wirkt das erzeugte Machwerk auf mich wie eingefroren, wie eine pausierte Filmaufnahme, die bei stetiger Betrachtung ins Farblose hinüber gleitet.
Es ist nicht viel los im Park. Die umliegenden Bänke sind mit dem letzten Laube bedeckt. Eine eingesessene Couch wirkt wesentlich vertrauter als die fleckigen Möglichkeiten im Scheingrün der Stadt.
Auf der anderen Seite des Gehweges, nicht unweit des Kastanienbaumes steht ein regungsloser Mann. Eine lebende Statue, eine zitternde Statue, doch bei genauerer Betrachtung wohl eher die Parodie eines vergessenen Kunstwerks. Der schätzungsweise Mitte 40-jährige Mann, welcher demonstrativ thronend auf einer Holzkiste steht, verkörpert die Freiheit in Patinagrün. Die unsauber lackierte Krone auf seinem Haupte wirkt wie angegossen, das nach hinten gekämmte Resthaar wurde offenbar von der Farbe verschont. Es entlarvt somit seine Verkleidung, enttarnt ihn als Menschenkind. Dennoch überspielt er professionell seine performative Achillesferse. Hin und wieder zwingt ihn die Rolle etwas in die Knie, doch mit wenigen Abzügen repräsentiert er die Resilienz einer antiken Skulptur, er bleibt standhaft wie die Straßenlaternen in Fußgängerzonen. Passanten zollen ihm Respekt in Form von Geldgaben, die sie in seinem Gitarrenkoffer vor der Kiste fallen lassen. Das Klirren der Münzen haucht der Statur für einen Moment Leben ein, es entlockt ihr eine Gebärde des Dankes.
Ich beobachtete das Spiel für einen längeren Zeitraum. Schließlich warf ich einen Blick auf meine Armbanduhr, um festzustellen, wie spät es ist. Ich vergaß die genaue Uhrzeit, doch stellte fest, dass wir Ende Oktober hatten. Der Wind trumpfte abermals auf. Ich zog den Reißverschluss meiner Jacke gänzlich zu und trat den Heimweg an. Der Verlauf des Gehweges führte mich zur Statur. Ich machte kurz halt, musterte das Kunstwerk aus nächster Nähe und warf eine Kastanie in seine Kasse. Das verbundene Klangszenario ließ den Künstler für einen kurzen Moment aus seinem Werke kriechen, doch schon in der nächsten Sekunde schlug die anfängliche Euphorie ins Negative über. Die Natur sprengt die Wurzeln der Freiheit. Sie zwingt den mächtigen Manne von seiner Apfelsinenkiste, gibt ihm eine Stimme, die im Gewirr des Ordinären ihr jähes Ende finden wird.

Vita brevis, ars est aeterna.
 



 
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