Dem widerspricht schon Kästner und die ganze große Gruppe der Chansonschreiber, aber ganz besonders Ringelnatz, der große.
Wenn ich Dich da richtig verstehe, dann hast Du mich falsch verstanden.
Zum möglichen Hintergrund Deines Einwurfs:
Dass Kästner in seinen Gedichten ein besonders leuchtendes Beispiel für "Gedichtmündlichkeit" darstellt, kann ich nicht 100% nachvollziehen, jedenfalls sind seine Gedichte nicht stärker
auch auf den mündlichen Vortrag bezogen als dies für
jedes Gedicht mit Endreim und/oder metrischer Bindung und/oder einem im weitesten Sinne "wortklanglichen" Aspekt gilt und sein Gedicht "Als einer über den Dialekt lachte" ist z. B. in der so liebevoll-drollig gestalteten Schriftform viel lustiger als in der mündlichen Vortragsform.
"Die große Gruppe der Chansonschreiber" ist diskussionstechnisch ein bisschen sperrig -ungenau konfiguriert, aber hier ist zirkelschlussmäßig natürlich durch die Profession eine gewisse Sanglichkeit i. d. R. vorprogrammiert. Das ist klar.

Und bei Ringelnatz stimme ich eingeschränkt zu, dass da vieles mündlich noch (!) besser "funktioniert" als in der Schriftform. Ein ähnlich gelagertes Beispiel wäre übrigens Rühmkorf, den man als mündlichen Interpreten eines seiner Gedichte erlebt haben sollte, bevor man diese in ihrem schriftlichen Aggregatszustand vollumfänglich goutieren kann.
Letztlich fallen mir aber ad hoc keine Beispiele ein für (gelungene) deutschsprachige Gedichte, die für die Vortragsform grundsätzlich "besser geeignet" sind als für die Schriftform. Umgekehrt sieht es anders aus: Die konkrete Poesie ist z. B. in großen Teilen für den mündlichen Vortrag sogar ganz ungeeignet und nur schriftlich sinnvoll darreichbar.
Das alles ändert aber nichts an meiner Aussage (bzw. hat mit dieser nichts zu tun), dass der unmittelbare Traditionskern der metrisch gebundenen und endgereimten deutschsprachigen Lyrik sich auf eine primär schriftliche Kunstsprache zurückführen lässt. Das bezieht sich also gar nicht auf die "Eignung" für den mündlichen Vortrag (siehe oben) oder auf die klangliche Sprachschönheit, sondern es dreht sich um die Frage, wie die Gedichte weiterentwickelt wurden. Und das geschah eben bei der "modernen" deutschsprachigen Kunstlyrik nicht (mehr) in Form eines Sängers oder einer Sängerin, die mit der Lyra in der Hand primär aus dem Gesang ein Gedicht "komponiert" und dieses dann in dieser Form weitertradiert hat, sondern der unmittelbare Traditionskern und das Theoriegebäude dieser "modernen" Lyrik (ca. ab dem 16/17. Jh.) wurde mit dem Federkiel in der Hand am Schreibtisch entwickelt und die Endprodukte waren primär für die Druckpresse bestimmt. Das ist ja genau der Grund, warum es ab dann (wieder einmal) zu einem gewissen Bruch zwischen "Sängern" und "Dichtern" kam. Denn natürlich gab (und gibt) es parallel zu den primären Schreibtischtätern der Lyrik auch die primär "musikantischen" Komponisten von Liedern. Wobei man vorsichtig sein sollte, von einer Gesangsüberlieferung (meinethalben einem Minnesang mit dazu skizzierten Neumen) darauf zu schließen, dass die Brücke zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit immer primär vom mündlichen Ufer ausgehend geschlagen wurde. In vielen Fällen wird sich das genau anders herum abgespielt haben: Primär aus der Schriftlichkeit entwickelnde Dichter haben immer wieder gerne die Möglichkeit der mündlichen Darbietung genutzt und so eine sekundäre mündliche "Nutzungslinie" mit begründet, die sich dann natürlich wiederum auch auf die Schriftlichkeit zurückbeziehen kann: Der "Gesang" und das "Lied" (man denke hier natürlich auch gerne an Minnelied & Meistergesang) finden sich dementsprechend bis auf den heutigen Tag in Gedichttiteln wieder.
Hier als kleine Auflockerungsübung: "Tragen Sie bitte einmal Fisches Nachtgesang von Morgenstern laut und deutlich vor!".
Letztlich ist der Bruch zwischen mündlichen und schriftlichen Traditionslinien an sich ja sehr viel älter; will heißen: Er hat sich mehrfach vollzogen. Schon Catull hat eher nicht mit der Klampfe in der Hand seine Songs zum Besten gegeben. Allein die Vorstellung! Da mag das lateinische Wort "Carmen" noch so sehr für sowohl für Gedicht als auch für den Gesang stehen. Dito wird Giocoma da Lentini, ein trockener Notar, nicht des Nachts zum Bar-Barden mutiert sein. Aber natürlich gab (und gibt) es parallel immer auch die aus der Musik und dem Gesang zur Lyrik findenden Vertreter des Genres. Man kann sich die Entwicklungslinien also wohl am besten als zwei parallele Flüsse vorstellen, die durch vielerlei Seitenarme wechselseitig mit einander verbunden sind.
Vielleicht ist dieser Austausch zwischen "Gesang" und "Schriftdichtung", aber auch die relative Autonomie der Schriftdichtung an da Lentini und der Entwicklung des Sonetts am besten illustrierbar: Die ersten vagen "Ideen" zum Sonett wurden vermutlich vom Strombotto (und vielleicht auch ein bisschen der Qasida) inspiriert, die beide primär einen mündlichen Traditionskern besitzen, aber weder optisch noch in der inneren Struktur sehr viel mit einem Sonett zu tun haben. Die eigentliche Sonett-Konzeption erfolgte dann im Schriftlichen und die ersten überlieferten Sonette vermitteln vermutlich nicht umsonst den Eindruck, sie seien in einem wechselseitigen brieflichen Austausch, einer Art literarischem Ping-Pong, zwischen den Adressaten hin- und hergewandert.
LG!
S.