Vollmond
Im Halbschlaf merke ich, dass mich irgend etwas auf der Wange kitzelt und ich taste nach der Nachttischlampe. Im Licht erkenne ich Henry, er sitzt vor mir und fixiert mich unentwegt mit seinen tiefschwarzen Augen.
„Was willst du denn um diese Zeit?“ murmle ich verdrossen und mache das Licht wieder aus, sinke wonnetrunken ins warme Bett zurück.
Da, da ist es wieder! Henry schleckt mit seiner Zunge über mein Gesicht. Jetzt reicht es! Kerzengerade richte ich mich auf.
„He, was soll das. Ab in dein Körbchen!“ rufe ich mürrisch.
Er springt gehorsam vom Bett herunter, aber geht nicht in sein Körbchen, sondern setzt sich schwanzwedelnd vor das Bett. Wieder stiert er mich unentwegt an.
Allmählich werde ich munterer und begreife, dass mein kleiner Freund raus muss.
Mit zusammengekniffenen Augen schiele ich auf dem Wecker und stelle missmutig fest: „Henry, es ist erst 3:48 Uhr, mano!“ und krieche notgedrungen aus den Federn.
Immer noch schlaftrunken schlüpfe ich einfach mit dem Nachthemd in meinen Jogginganzug und hülle meine Füße in Muttis selbstgestrickte Socken. Bevor ich nach draußen gehe, ziehe ich mir noch schnell die Jacke über und nehme die Hundeleine aus der Flurgarderobe. Putzmunter springt mein schwarzer Pudel freudig an mir hoch und stürmt schwanzwedelnd zur Tür.
Oh, was für eine klare, kalte Luft empfängt uns um diese Zeit. Ich sauge diese wohltuende Frische tief in meine Lunge ein. Doch mein Henry muss eilig weiter und zerrt mich sofort auf die Straße hinaus. Verblüfft verharre ich hier. Durch den Vollmond erscheint mein kleines Dorf in einem so sanften, ja milchigen Licht. Das uralte Fachwerkhaus vorn an der Ecke sieht so anders aus, so schön, so einladend. Dieses Licht umhüllt das alte verlassene Gemäuer und versteckt viele Schandflecken an ihm. Es strahlt jetzt eine beständige Ruhe aus und ruft, nein schreit inbrünstig nach neuen Besitzern, die es in sich aufnehmen und behüten will.
Ich gehe vorbei an der leise säuselnden Lebensbaumhecke von Nachbar Apel den Hang hinunter und weiter ins Dorf hinein. Langsam überqueren wir den kleinen Dorfbach und ich schaue von der hölzernen Brücke auf das friedlich dahin plätschernde Wasser. Ich höre seinen Klang. Er singt von alten Zeiten. Er erzählt von den ruhigen sowie stürmischen Tagen. Er erzählt vom Leben in ihm, wie es langsam verschwand und zaghaft neu erblüht. Sein Lied singt der Bach schon über viele Jahrzehnte, nur ich vernahm es bisher noch nicht, ging stets vorbei.
Henry zieht an der Leine, er will weiter seine Runde drehen und ich folge ihm. Als wir bei Otto`s Bauernhof vorbei schlendern, springt der große Schäferhund Harro an den Zaun. Sein wütendes Bellen unterbricht schlagartig die Ruhe und entfacht ein Hundeschimpfen im ganzen Ort. Wir setzen aber unbeirrt unseren Spaziergang fort und schlendern an den schlummernden Häusern vorbei.
Am Marktplatz angekommen sind die warnenden Stimmen der Hunde verstummt und die unheimliche Ruhe erfasst mich wieder. Ein wenig verloren blicke ich mich um und sehe kein erleuchtetes Fenster, kann keinen anderen Laut außer das Konzert des Windes hören. Tagsüber pulsiert hier das Leben. Dort, in der Bushaltestelle treffen sich die Kids und ein Stück weiter bei der Parkbank unter der großen uralten Linde, deren Äste so unendlich viel erzählen können, stehen oft die Alten und sprechen von längst Vergangenem.
Leichter Nebel zieht vom Bach herauf und schlängelt sich beharrlich durch die kleinen Gassen. Zäh schweben die milchigen Schatten mit ihren Zungen den kleinen Berg hinauf und hüllen die Kirche zaghaft ein. Fasziniert betrachte ich ihr Bauwerk im Glanze des Vollmondes. Sie ist der Mittelpunkt unserer Gemeinde und steht thronend über den Häusern. In diesem Licht erscheint sie mir wie eine Beschützerin, aber auch wie eine Richterin des Ortes. Mein Henry hat die Nase vom Warten voll und will weiter. Unweigerlich gehe ich den Pfad zur Kirche empor und bewege mich magisch angezogen zu ihr hin. Dabei spüre ich, wie mystische Schleier mit dem Nebel vereint das Kirchenhaus umweben und sie mit langen Fingern nach mir greifen, mich umschlingen. Gänsehaut überzieht meine Haut. Trotzdem will ich - nein - muss ich das Mauerwerk berühren. Als ich meine Hände auf den alten Backstein lege durchströmt mich ein unheimliches Gefühl von Wärme wie auch Macht. Erschrocken trete ich zurück! Was war das? Ich schaue mich vorsichtig um, doch nur der Nebel, mein Hund und das unentwegte Raunen des Windes umgeben mich.
Betört setze ich den Spaziergang durch die langsam munter werdenden Gassen fort. Vereinzelt kündigen erleuchtete Fenster den beginnenden Tag an. Und plötzlich höre ich aus Frau Obbers Haus gedämpfte Musik dringen und irgendwo weint ein kleines Kind, zerreißt endgültig das Schweigen. Der Zauber dieses frühen Morgens verweht mit dem Licht, mit den Geräuschen, mit dem frischen Kaffeeduft aus Ernas Haus. Henry führt mich zielstrebig nach Hause. In meinen Gedanken versunken folge ich ihm einfach.
Fast mechanisch streife ich den Jogginganzug ab und lege mich an diesen zeitigen Sonntagmorgen noch einmal ins Bett. Meinem Henry bin ich unendlich dankbar für diesen Ausflug und schlafe glücklich ein.
Im Halbschlaf merke ich, dass mich irgend etwas auf der Wange kitzelt und ich taste nach der Nachttischlampe. Im Licht erkenne ich Henry, er sitzt vor mir und fixiert mich unentwegt mit seinen tiefschwarzen Augen.
„Was willst du denn um diese Zeit?“ murmle ich verdrossen und mache das Licht wieder aus, sinke wonnetrunken ins warme Bett zurück.
Da, da ist es wieder! Henry schleckt mit seiner Zunge über mein Gesicht. Jetzt reicht es! Kerzengerade richte ich mich auf.
„He, was soll das. Ab in dein Körbchen!“ rufe ich mürrisch.
Er springt gehorsam vom Bett herunter, aber geht nicht in sein Körbchen, sondern setzt sich schwanzwedelnd vor das Bett. Wieder stiert er mich unentwegt an.
Allmählich werde ich munterer und begreife, dass mein kleiner Freund raus muss.
Mit zusammengekniffenen Augen schiele ich auf dem Wecker und stelle missmutig fest: „Henry, es ist erst 3:48 Uhr, mano!“ und krieche notgedrungen aus den Federn.
Immer noch schlaftrunken schlüpfe ich einfach mit dem Nachthemd in meinen Jogginganzug und hülle meine Füße in Muttis selbstgestrickte Socken. Bevor ich nach draußen gehe, ziehe ich mir noch schnell die Jacke über und nehme die Hundeleine aus der Flurgarderobe. Putzmunter springt mein schwarzer Pudel freudig an mir hoch und stürmt schwanzwedelnd zur Tür.
Oh, was für eine klare, kalte Luft empfängt uns um diese Zeit. Ich sauge diese wohltuende Frische tief in meine Lunge ein. Doch mein Henry muss eilig weiter und zerrt mich sofort auf die Straße hinaus. Verblüfft verharre ich hier. Durch den Vollmond erscheint mein kleines Dorf in einem so sanften, ja milchigen Licht. Das uralte Fachwerkhaus vorn an der Ecke sieht so anders aus, so schön, so einladend. Dieses Licht umhüllt das alte verlassene Gemäuer und versteckt viele Schandflecken an ihm. Es strahlt jetzt eine beständige Ruhe aus und ruft, nein schreit inbrünstig nach neuen Besitzern, die es in sich aufnehmen und behüten will.
Ich gehe vorbei an der leise säuselnden Lebensbaumhecke von Nachbar Apel den Hang hinunter und weiter ins Dorf hinein. Langsam überqueren wir den kleinen Dorfbach und ich schaue von der hölzernen Brücke auf das friedlich dahin plätschernde Wasser. Ich höre seinen Klang. Er singt von alten Zeiten. Er erzählt von den ruhigen sowie stürmischen Tagen. Er erzählt vom Leben in ihm, wie es langsam verschwand und zaghaft neu erblüht. Sein Lied singt der Bach schon über viele Jahrzehnte, nur ich vernahm es bisher noch nicht, ging stets vorbei.
Henry zieht an der Leine, er will weiter seine Runde drehen und ich folge ihm. Als wir bei Otto`s Bauernhof vorbei schlendern, springt der große Schäferhund Harro an den Zaun. Sein wütendes Bellen unterbricht schlagartig die Ruhe und entfacht ein Hundeschimpfen im ganzen Ort. Wir setzen aber unbeirrt unseren Spaziergang fort und schlendern an den schlummernden Häusern vorbei.
Am Marktplatz angekommen sind die warnenden Stimmen der Hunde verstummt und die unheimliche Ruhe erfasst mich wieder. Ein wenig verloren blicke ich mich um und sehe kein erleuchtetes Fenster, kann keinen anderen Laut außer das Konzert des Windes hören. Tagsüber pulsiert hier das Leben. Dort, in der Bushaltestelle treffen sich die Kids und ein Stück weiter bei der Parkbank unter der großen uralten Linde, deren Äste so unendlich viel erzählen können, stehen oft die Alten und sprechen von längst Vergangenem.
Leichter Nebel zieht vom Bach herauf und schlängelt sich beharrlich durch die kleinen Gassen. Zäh schweben die milchigen Schatten mit ihren Zungen den kleinen Berg hinauf und hüllen die Kirche zaghaft ein. Fasziniert betrachte ich ihr Bauwerk im Glanze des Vollmondes. Sie ist der Mittelpunkt unserer Gemeinde und steht thronend über den Häusern. In diesem Licht erscheint sie mir wie eine Beschützerin, aber auch wie eine Richterin des Ortes. Mein Henry hat die Nase vom Warten voll und will weiter. Unweigerlich gehe ich den Pfad zur Kirche empor und bewege mich magisch angezogen zu ihr hin. Dabei spüre ich, wie mystische Schleier mit dem Nebel vereint das Kirchenhaus umweben und sie mit langen Fingern nach mir greifen, mich umschlingen. Gänsehaut überzieht meine Haut. Trotzdem will ich - nein - muss ich das Mauerwerk berühren. Als ich meine Hände auf den alten Backstein lege durchströmt mich ein unheimliches Gefühl von Wärme wie auch Macht. Erschrocken trete ich zurück! Was war das? Ich schaue mich vorsichtig um, doch nur der Nebel, mein Hund und das unentwegte Raunen des Windes umgeben mich.
Betört setze ich den Spaziergang durch die langsam munter werdenden Gassen fort. Vereinzelt kündigen erleuchtete Fenster den beginnenden Tag an. Und plötzlich höre ich aus Frau Obbers Haus gedämpfte Musik dringen und irgendwo weint ein kleines Kind, zerreißt endgültig das Schweigen. Der Zauber dieses frühen Morgens verweht mit dem Licht, mit den Geräuschen, mit dem frischen Kaffeeduft aus Ernas Haus. Henry führt mich zielstrebig nach Hause. In meinen Gedanken versunken folge ich ihm einfach.
Fast mechanisch streife ich den Jogginganzug ab und lege mich an diesen zeitigen Sonntagmorgen noch einmal ins Bett. Meinem Henry bin ich unendlich dankbar für diesen Ausflug und schlafe glücklich ein.