Vom Reisefieber geschüttelt

Einmal sollte es für vier Wochen nach Italien gehen. Ich deponierte am Vorabend zwei Koffer in zwei verschiedenen Schließfächern des Hauptbahnhofs. Frohgemut und leichten Schrittes passierte ich am Tag der Abreise das Hauptportal. Noch zwanzig Minuten bis zur Abfahrt. Zuerst nahm ich den kleineren Koffer aus dem Schließfach. Dann war der größere an der Reihe. Sagt man von einem Koffer, er habe Übergröße? Diese Frage stellte sich, als es mir auf keine Weise gelingen wollte, dieses Monstrum aus dem anderen Fach herauszuziehen. Wie war das möglich, er hatte sich doch hineinschieben lassen … Dabei hatte ich nur seinen Griff umklappen müssen – der danach sofort zurückgeschnappt und jetzt für meine Hand unerreichbar war. Der Koffer saß passgenau fest. Noch zwölf Minuten bis zur Abfahrt.

Den einen Koffer mitschleppend und schon etwas außer Atem fand ich nach mehreren Minuten eine Aufsichtsperson. Sie war männlichen Geschlechts, wies mir ihre zerschrammten Handgelenke vor und weigerte sich schlankerhand, schon wieder eine ganze Reihe von Schließfächern auseinander zu schrauben und zu stemmen. Ich erzählte ihm in aller Kürze etwas von Mailand, Florenz und Neapel und dann durfte ich ihm zusehen. Es war Schwerarbeit. Bei mehr Zeit und Nerven hätte ich ihn bedauert. So wie die Dinge standen, riss ich ihm den befreiten Koffer aus der Hand und flog beinahe zum noch wartenden Zug. Als wir die Norderelbbrücke passierten, kam mir eine beunruhigende Geschichte in den Sinn. Da hatte sich einmal ein Halbwüchsiger aus Jux selbst in ein Schließfach gezwängt und dann war es ihm nicht gelungen, alle Gelenke in ihre anatomisch richtige Stellung zurückzuversetzen – auch er hatte von der Gepäckaufsicht befreit werden müssen.

Man kann ja auch mit leichtem Gepäck reisen. Doch wie leicht kann es selbst dann zu Zwischenfällen kommen! Einmal war ich nur mit Rucksack unterwegs und saß entspannt im Zug, der mich an den Fuß der Berge bringen sollte. Wonach suchte ich, als ich im Rucksack zu kramen begann? Ist mir entfallen. Umso schärfer die Erinnerung an den Schmerz, der mich plötzlich durchfuhr: Soeben hatte ich die Kuppe meines linken Ringfingers an der im Nassrasierer eingelegten neuen extradünnen Klinge aufgeschlitzt. Woraus Sie entnehmen dürfen, ich sei bei der Verwahrung gefährlicher Gegenstände etwas nachlässig. Die Blutung war nicht einfach zu stillen, die Narbe ist noch sichtbar.

Ach, schon beim bloßen Warten kann etwas passieren. Da wollte ich einmal von Tempelhof abfliegen und stand vor dem Ausgang. Man legte dort damals den Weg von der Halle zur Maschine zu Fuß zurück. Alles drängelte sich vor dem Auslass und rannte dann wie eine Büffelherde los. Da wurde ich plötzlich von hinten in die Seite gestoßen. Ein Blick zurück: ein unauffällig wirkender junger Mann. Ich putzte ihn noch kurz herunter, dann durften wir raus. Und da erst sah ich, es war ein Spastiker, der sich mit jeder Bewegung schwertat. Zu ihm hingehen und sagen: Tut mir leid, dass Ihre Bewegungen so unkontrolliert sind wie meine Reaktion darauf? Lieber hielt ich den Mund.

Man kommt nur einmal zum ersten Mal im Leben in New York an. Ja, das ist banal, aber ich war damals so aufgeregt, dass ich dabei den Plastikbeutel mit den Waren aus dem Frankfurter Duty Free Shop vergaß. Wenn mehr als dreihundert Passagiere ein Flugzeug verlassen, kann man das Zurückgelassene gleich abschreiben. Nur dumm, dass Schnaps und Zigaretten nicht für mich bestimmt waren. Ein Mitreisender hatte sein Kontingent ausgeschöpft und mich gebeten, Mitbringsel für Freunde von ihm zu besorgen. Die mussten nun mit weniger auskommen und ich hatte den Schaden zu ersetzen.

„Es gibt nur Würstchen!“ schrie einer, der das Angebot der Autobahnraststätte schon inspiziert hatte. Wir waren also wieder daheim im Reich, hätte ich beinahe geschrieben, nach drei Wochen österreichischer Gastronomie. Der Hunger trieb uns alle hinein – und siehe: Es gab nicht nur Würstchen, sondern z.B. auch Rührei mit Schinken, welches Gericht bald schon vor mir stand. Und der Kaffee dampfte, wie es sich gehört. Ich nahm die Zuckerbüchse und holte schwungvoll aus – als das Verhängnis hereinbrach oder wie ein Felssturz niederging, nämlich in Gestalt der Zuckerbüchse, die den Teller zerschmetterte, die Tasse umstürzte und den sich über das weit verstreute Rührei ergießenden Kaffee noch im Übermaß süßte. Was für eine Schweinerei! Ich hielt das abschraubbare Metallrohr wie gelähmt in der Hand – ein Unbekannter hatte es losgedreht und mir übel mitgespielt. Eine Angestellte begann sofort klaglos mit den Aufräumarbeiten. Seitdem kontrolliere ich alle Schraubverschlüsse: Lernen am Erfolg!
 

petrasmiles

Mitglied
Lieber Arno,

mal die andere Seite der erzählwürdigen Reminiszenzen der Reisefreuden bestrahlt.

Bei Deinem letzten Beispiel fiel mir ein Marmeladenglas ein, das mein Mann mal nicht zugedreht hatte - wohl in der Ansicht, ich würde sie ja auch noch benutzen ;) Was für eine Schweinerei, die ich Nichtsahnende anrichtete. Immerhin haben die bösen Blicke dafür gesorgt, dass es bei dem einen Mal blieb :D

Nett, dass Du das 'Lernen am Erfolg' nennst, denn eigentlich müsste es 'Lernen durch Schmerz' heißen, denn erst, wenn wir auch physisch erlebbar etwas falsch gemacht haben, speichern wir es richtig ab - und haben für den Erfolg gelitten, es in Zukunft besser zu machen. :D

Warum Schadenfreude uns lächeln lässt ....

Liebe Grüße
Petra
 
Danke, liebe Petra, fürs amüsierte Lesen und Kommentieren. Soll ich noch mehr Verwüstungen ausgraben? Besonders gefährliche Orte: SB-Restaurants, Ferienwohnungen. Die Standardfrage meiner Mutter, wenn ich nach Hause kam: "Und - ist noch alles in Ordnung?" - Wie mich dieses noch erbitterte ...

Pass gut auf dich auf
Arno
 

petrasmiles

Mitglied
Aber unbedingt, lieber Arno,

vielleicht lerne ich ja noch etwas, was Katastrophen verhindern hilft - obwohl man ja eigentlich nur aus den eigenen Erfahrungen (des Schmerzes) lernen kann. Aber versuchen kann man es ja.

Schon merkwürdig, was man so an Sprachmustern aushalten muss. Und es nützt ja gar nichts, wenn man weiß, dass sie mehr über sich selbst aussagt als über den Angesprochenen.

Ich denke, den heutigen Abend werde ich gut überstehen.
Du auch.

Liebe Grüße
Petra
 



 
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