Vom Schreiben einer Liebesszene

4,50 Stern(e) 2 Bewertungen
VOM SCHREIBEN EINER LIEBESSZENE

Er möchte ihren Schlaf nicht stören, und so wartet er geduldig, bis der Lärm der Wasserspülung verklungen und der Spülkasten wieder gefüllt ist, bevor er die Klotüre öffnet, um ins Schlafzimmer zurückzukehren.
Die Tür zum Schlafzimmer steht eine Handbreit offen, damit er die Helligkeit nutzen kann, die durch das Schlafzimmerfester in den Flur fällt, um so leise wie möglich die Strecke zwischen Toilette und Schlafzimmer zu bewältigen, ohne das Licht im Flur einschalten zu müssen. Auf ihren Wunsch hin ist das Fenster im Schlafzimmer weder durch Vorhang noch Rollladen verdunkelt, denn sie liebt sowohl die Lichter des nächtlichen Himmels wie die Morgendämmerung; beides hindert sie weder am Einschlafen noch am Verlauf der Nachtruhe.
Er schließt geräuschlos die Schlafzimmertür und schlüpft ebenso geräuschlos unter die Decke auf seiner Seite des Betts. Er fühlt sich ausgeschlafen, unbeeinträchtigt von der alkoholisierten Geselligkeit des vergangenen Abends. Dann wendet er sich ihr zu, stützt seinen Kopf in eine Hand und betrachtet sie im Licht des heraufdämmernden Morgens, jenem eigenartigen, stetig anwachsenden gelb-rötlichen Strahlenkranz über der Erde, dessen präzise Farbe sich lediglich umschreiben lässt, weil er, gleich einem Prisma, unzählige Farbkombinationen enthält, vermischt mit dem schwindenden milchweißen Schimmer des Mondes.
Sie liegt ihm zugewandt, die herab gerutschte Bettdecke entblößt eine Schulter sowie Teile ihrer Brüste. Es ist Sonntag, ein leicht frostiger Frühmorgen Anfang April, der sich laut Wetterbericht jedoch im Verlauf des Tages zu einem milden Frühlingstag mit annähernd zwanzig Grad entwickeln soll. In seiner momentanen Stellung, mit der bis zur Hüfte herabgezogenen Decke, fröstelt ihn und er überlegt, ob er wenigsten ihr die Decke wieder über die Schultern ziehen soll, wobei es ihn ein wenig verwundert, dass sie ob der Kühle noch nicht erwacht ist, denn sie ist die gegen Kälte empfindlichere von beiden. Er möchte sie jedoch nicht durch eine unbedachte Handlung wecken, noch nicht. Er will sie einfach nur betrachten und sich ganz ungestört dem widmen, was ihre Schönheit bei ihm auslöst, obwohl die eigentliche Schönheit zumindest ihres Gesichts im Schlaf nicht unmittelbar sichtbar ist, denn dazu benötigt es die Bewegungen ihrer Gesichtszüge, etwa wenn sie lächelt, über etwas ungehalten ist oder einen Schmollmund formt.
Wie häufig in einem solchen Moment rätselt er darüber, dass eine Schönheit wie sie einen so unauffälligen, durchschnittlichen Menschen wie ihn liebt, denn eigentlich, davon ist er überzeugt, ist eine derartige Schönheit immer jemand, den man im alltäglichen Leben nicht bekommen und unglücklicherweise niemals vergessen kann. In seinem Fall aber war dies eben anders, und er vermag sich nur oberflächlich zu erklären, warum. Wenn man jemanden so sehr liebt, wie er sie liebt, dann erscheint es einem gleichzeitig kaum begreiflich, dass und warum man wiedergeliebt wird. Es lässt sich nur schwer verstehen, wohl auch, weil man sich die eigene unbändige Leidenschaft nicht sachlich erklären kann. Man akzeptiert lediglich, dass es sie gibt.
Seine Gedanken irren umher und verlieren sich in Grübeleien über die vielen Zufälle, die ihrem Zusammensein vorausgingen, wie an den größten, unwahrscheinlichsten Zufall von allen, nämlich dass sie ihn wieder liebt, und an jenen Zufall der Natur, der aus ihm genau diesen Mann gemacht hat, der sie lieben kann, weil doch alle Wirbeltiere, so hatte er einmal gelesen, stirnrunzelnd und belustigt in einem, wie er sich erinnert, ursprünglich weiblich sind, und erst ein bestimmtes Enzym in einem bestimmten Entwicklungsstadium hinzukommen musste, damit er sie nun mit seinen männlichen Instinkten und seinen individuellen Augen und Gedanken betrachten darf.
Ein erster Sonnenstrahl glänzt auf ihrer dunkelbraunen Mähne. Er versucht sich vergeblich vorzustellen, wie sich die Sonne auf ihren Haaren ausmachen würde, hätte sie ihre Absicht, sich lange, breite, blonde Strähnen einzufärben, schon wahr gemacht. Erst kürzlich hatte sie ihn nach seiner Ansicht dazu gefragt und versucht, ihm die anschließende Wirkung auf ihr Äußeres zu schildern.
- Untersteh dich! hatte er ihr mit gespielter Entrüstung entgegnet, der er unmittelbar ein zärtliches Schmunzeln folgen ließ, damit sie ihn nicht missverstand.
Es ist schwierig, sinnt er, sich alle Einzelheiten vorzustellen, welche die Liebe zu einer Person beeinflussen (oder grundlegend ausmachen), nachdem sich einzelne Bestandteile, wie zum Beispiel das Aussehen, verändert haben, zum Beispiel durch das Alter. Ich liebe sie. Sie ist eine Schönheit. Sie ist eine Schönheit, und dazu liebe ich sie. Ich liebe sie, weil sie eine Schönheit ist. Sie ist eine Schönheit, weil ich sie liebe. Er betrachtet sie mit starrem Blick und ohne zu blinzeln, gleich dem Objektiv einer Kamera, und nun erscheint es ihm nicht mehr nur schwierig, sondern sogar unmöglich sich vorzustellen, sie könne durch eine Nebensächlichkeit wie etwa gefärbte Haare etwas von ihrer Schönheit verlieren, oder durch den möglichen Verlust dieser Haare, oder durch Gewichtszunahme, entstellende Hautkrankheiten oder andere körperliche Unzulänglichkeiten, Schäden und Veränderungen. Er liebt sie, und er würde sie immer lieben, denn Liebe und Schönheit sind ein und dasselbe. Nun, korrigiert er sich, sie scheinen jedenfalls ein und dasselbe zu sein.
Sie zuckt leicht mit der Schulter; ein leichter Schauder erfasst ihren Körper und verursacht eine kaum wahrnehmbare Bewegung der Bettdecke, aber sie erwacht nicht. Noch immer zögert er, sie durch das Hochziehen der Decke eventuell zu wecken. Es ist beständig heller geworden, die goldene Helligkeit des klaren Himmels während des Sonnenaufgangs. Er hat nur ein ungefähres Gefühl für die Uhrzeit, aber er möchte sich nicht nach der Uhr in seinem Rücken umdrehen, und die Uhr auf ihrer Bettseite kann er ohne seine Brille nicht erkennen. Die Uhrzeit ist nicht wichtig; sie interessiert ihn nicht. Würden nicht mehr und mehr Sonnenstrahlen über ihre Haare und ihren Oberkörper wandern, könnte er glauben, dass die Zeit zwischen ihnen beiden stillsteht. Aber sie steht natürlich nicht still, auch nicht für den, der liebt. Die friedliche Ruhe, die er zu empfinden vermeint, während er sie betrachtet, vermischt sich im Bruchteil einer Sekunde zur nächsten mit dem chaotischen Aufruhr seiner Gefühle für sie, unterlegt von den ersten Geräuschen des ringsum erwachenden Alltags, die in das Schlafzimmer dringen.
Sie gibt einen summenden, verhalten seufzenden Laut von sich, dehnt die freiliegende Schulter in Richtung ihres Kopfes und streckt die Beine unter der Decke, bis die Zehen eines Fußes sichtbar werden, den sie gleich darauf wieder unter die Decke zurückzieht. Sie drückt, zugleich anmutig und unbeholfen wie ein träumendes Kind, ihren Kopf mittels mehrerer kreisenden Bewegungen tiefer in ihr Kissen, das sie wie immer zwischen Oberarm und Kopf gequetscht hält. Ihre Augen sind geschlossen, aber ihre Lider wie ihre Wangenmuskeln beginnen sich unstet zu bewegen.
Ein Sonnenstrahl verweilt auf ihren Augen. Der Hund des Nachbarn begrüßt bellend das Öffnen irgendeines fernen Rollladens. Von jenseits des Felds, das hinter ihrem Wohnhaus liegt, dringen Stimmen von frühen Spaziergängern herauf, und da schiebt er seinen Körper vorsichtig zu ihr hinüber, denn sie soll von ihm geweckt werden, nicht von der Außenwelt. Er beugt sich über sie und küsst sie leicht auf die Wange. Sie schlägt mit einem verschmitzten Ausdruck abwechselnd ein Auge auf und verzieht dabei ihre Mundwinkel zu einem angedeuteten Lächeln, dem rasch ein breites, belustigtes Grinsen folgt, während ihre beiden Augen ihn nunmehr anfunkeln.
Er küsst sie mit geschlossenen Lippen sanft auf den Mund und wartet auf ihre Reaktion. Sie öffnet ihre Lippen einen kleinen Spalt, sodass sich ihre Zungenspitzen berühren können. Sie antwortet mit einem zärtlichen Wohllaut und fragt mit kindlich-schläfriger Stimme
- Wie spät ist es denn?
- Ich weiß nicht, antwortet er im gleichem Tonfall, aber es ist schon ziemlich hell, du Schlafmütze.
- Du hast eine Schnapsfahne! quengelt sie geziert.
- Schlimm? fragt er, begleitet von einer Grimasse, die er mit Absicht zu einer albernen, doch wie er hofft, ebenso lustigen Posse gefrieren lässt.
- Und wie! bekräftigt sie unter heftigem Kopfnicken, aber ihre Augen glänzen fröhlich, und im gleichen Augenblick bricht sie in fröhliches Gelächter aus, zieht seinen Kopf zu sich herab und küsst ihn mit der ihm vertrauten Mischung aus zärtlicher Vertrautheit, zerstreuter Sinnlichkeit und erwachender Lust. –

So, überlegt er, darf man eine Liebesszene schreiben.
Wenn man – besonders aus der Ferne – verliebt ist, kann man sich eine solche auch vorstellen, und wenn man sich eine solche vorzustellen vermag, so spricht – Zeit, Begabung sowie (gegebenenfalls) Diskretion vorausgesetzt – wenig dagegen, sie auch niederschreiben.

© 2018


 



 
Oben Unten