Vom Subtrahieren

Matula

Mitglied
Erst als ich das Rechnen erlernte, wurde mir klar, dass man mir etwas wegnehmen konnte, das dann unwiederbringlich einem anderen gehörte. Frühere Erfahrungen hatten dergleichen nicht nahegelegt. Natürlich wurden mir Sachen entzogen, aber hauptsächlich, um sie vor mir in Sicherheit zu bringen, oder umgekehrt, mich vor ihnen. Sie gehörten dadurch keinem anderen, ich durfte mich nur nicht mit ihnen beschäftigen. Dann gab es noch die Dinge, die für einen späteren Zeitpunkt beiseite gelegt wurden, mir also gehörten, aber bis auf weiteres unter Verschluss blieben. Ein dauerhafter Verlust, ob freiwillig oder unfreiwillig, war mir nicht bekannt gewesen, bis ich die Subtraktion kennenlernte.

Der Begriff "Rechenoperation" grub sich bei dieser Gelegenheit schmerzhaft in mein Gedächtnis. Ich sah eine Zahl, zum Beispiel eine 20, auf einem Operationstisch liegen, umgeben von Einsern, die Teile aus ihr herausschnitten, bis sie zu einer Zehn geschrumpft war. In diesem Sinne hatte ich auch von Anfang an große Vorbehalte gegen die Division, weil sie die Subtraktion vorzubereiten schien. War die Zahl erst zerlegt, also in ihrem Umfang geschwächt, war es ein Leichtes, einzelne Teile davonzutragen. Dass sie auch unbeabsichtigt verlorengehen konnten, kam mir nicht in den Sinn, weil ich schon als Kind in musterhafter Weise auf meine Sachen achtete, nichts verborgte oder unbewacht liegenließ.

Der mit einer Subtraktion verbundene Verlust zu Gunsten anderer beschäftigte mich sehr und weckte ein gewisses Misstrauen gegen meine Umwelt. Als ich meine Eltern bat, mir die für mich reservierten Dinge zu zeigen, waren sie überrascht, taten mir aber den Gefallen. Ich durfte mein Sparbuch studieren und entdeckte prompt regelmäßig wiederkehrende Subtraktionen. Man versuchte mir zu erklären, dass die Bank mein Geld zu Gunsten des Staates dezimieren durfte. Angeblich stellte er damit alles Möglich zur Verfügung, wovon ich und andere profitierten. Mir leuchtete das zwar nicht ein, aber ich ließ es fürs Erste dabei bewenden.

Als ich erfuhr, dass man eine Zahl soweit berauben konnte, dass weniger als nichts von ihr übrig blieb, war es um den Rest meines Seelenfriedens geschehen. Ich forderte meine Eltern auf, mir einmal pro Woche das Sparbuch zu zeigen, weil die Subtraktionen ja in aller Stille und Heimlichkeit durchgeführt wurden. Wie leicht konnte es da geschehen, dass durch Irrtum oder die Großzügigkeit des Staates aus meinem dicken Guthaben ein fettes Minus wurde. Diesmal waren meine Eltern nicht einverstanden. Sie drohten mir mit einem Kinderpsychologen und ich musste mich damit begnügen, das Sparbuch einmal im Jahr überprüfen zu dürfen. Zum Glück waren die Gold- und Silbermünzen, die ich aus Anlass eines Geburtstages oder zu Weihnachten geschenkt bekam, sicher im Schlafzimmerschrank verwahrt.

Mein Taschengeld war weder üppig noch bescheiden, Vor meiner Bekanntschaft mit der Subtraktion hatte ich es für Kaugummis, Leuchtstifte oder Klebebilder ausgegeben. Jetzt bereitete mir das Öffnen der Geldbörse und das Aushändigen einer Münze ein derart flaues Gefühl, dass ich nicht selten das Geschäft mit den Worten "danke, ich habe leider nicht genug Geld dabei" wieder verließ. Manchmal schenkte man mir den gewünschten Gegenstand aus Mitleid. Mein Vater gab mir den Spitznamen "Fafner" und sagte: "Ein bisschen sparen ist ja gut und schön, aber man muss das Geld auch ausgeben können." Meine Mutter lachte zustimmend: "Ja, für die schönen Dinge im Leben, zum Beispiel für Geschenke oder weil man sich etwas Besonderes gönnen möchte." Sie waren mir zuwider, wenn sie so daherredeten.

Da meine Eltern jung und leichtsinnig waren, befürchtete ich, dass sie mir einen Bruder oder eine Schwester vor die Nase setzten und ich das Geld auf meinem Sparbuch dann womöglich würde teilen müssen. Mir war klar, dass dieses Argument wenig moralisches Gewicht hatte und behielt es für mich. Im Fall des Falles konnte ich vielleicht bei meiner Mathematik-Lehrerin unterkommen. Sie war kinderlos und ließ keine Gelegenheit aus, mich vor der ganzen Klasse zu loben, weil ich mir das Prozentrechnen selbst beigebracht hatte. An verregneten Wochenenden beschäftigte ich mich auch gern mit komplizierten Schlussrechnungen, vorzugsweise mit dem proportionalen Dreisatz.

Mit sechzehn verliebt ich mich in einen jungen Mann gleichen Alters. Er ging nicht mehr zur Schule, sondern verdiente Geld als Kfz-Mechaniker-Lehrling. Ich war derart verliebt, dass ich ihm - wahrscheinlich zu früh - von meinem Sparbuch und meiner Angst vor einer Geldentwertung erzählte. Ich hatte inzwischen mit dem Begriff der "Inflation" Bekanntschaft gemacht und erfahren, dass man als Sparer nur fassungslos zusehen konnte, wie die Kaufkraft des Geldes von Woche zu Woche weniger wurde. Es war eine besonders üble Art der Subtraktion, eine bei der die Zahl von innen ausgehöhlt wurde, bis sie nur mehr aus einer leeren Hülle bestand. Meinen jungen Automechaniker beeindruckte das nicht. Er meinte nur, dass ich mir lieber einen anderen Freund suchen sollte, weil er eigentlich immer pleite und auf der Suche nach Geld sei.

Mein Ansehen unter den Altersgenossen war eher gering. Wenn ich hörte, wieviel Geld sie für Kleider, Videospiele oder Lokalbesuche ausgaben, konnte ich mir selten eine kritische Bemerkung verkneifen. Ich galt als langweilig und geizig, obwohl ich immer aus freien Stücken geholfen habe. Nur für die Nachhilfestunden von Schülern der unteren Klassen verlangte ich ein Honorar, das man als überdurchschnittlich bezeichnen konnte. Aber ich war ja auch ein Erfolgsgarant. Ich stauchte die kleinen Leutchen solange zusammen, bis sie sich für ihre Dummheit schämten und erkannten, dass man ein Niemand ist, wenn man nicht rechnen kann. Ehrlicherweise muss ich sagen, dass ich selbst mit der Geometrie nie recht warm geworden bin. Sie langweilte mich und ich konnte mir beim besten Willen keine Gelegenheit ausmalen, bei der ich die Höhe einer Turmspitze unter Anwendung des pythagoreischen Lehrsatzes berechnen würde wollen.

Meine Mutter zeigte sich besorgt, weil ich keine Freunde hatte. Mein Vater erhöhte das Taschengeld, damit ich ausgehen konnte. Aber ich hatte andere Sorgen, denn ich wusste nicht, für welche Studienrichtung ich mich entscheiden sollte. Meine Arbeit als Nachhilfelehrerin hatte mein Talent im Umgang mit unbegabten Kindern zutage befördert, würde mir im echten Unterricht also wahrscheinlich über viele Jahre Freude machen. Allerdings würde ich dabei arm wie eine Kirchenmaus bleiben, in einer kleinen Genossenschaftswohnung sitzen und mich vor der Inflation fürchten. Anstrengender, aber aussichtsreicher schien mir die Laufbahn eines Steuer- oder Anlageberaters. Auch Ärzte und Apotheker standen im Ruf, viel Geld zu verdienen. Leider wollte ich mit kranken Menschen nichts zu tun haben und bei genauerer Betrachtung auch anderen keine Ratschläge geben, wie sie ihr Geld vermehren oder verstecken konnten. - Meine Eltern waren keine Hilfe. Sie meinten, ich solle ein wenig reisen und mir die Welt anschauen.

Am Ende inskribierte ich ein paar Vorlesungen in den Wirtschaftswissenschaften. Sie sollten mir einen Überblick geben. Dabei lernte ich vier junge Leute kennen, die wesentlich zielstrebiger als ich, aber äußerst begriffsstutzig waren. Selbst einfachste Dinge, wie den Gini-Koeffizienten, das Pareto-Optimal oder Preis- und Nachfrageelastizität musste ich ihnen des Langen und des Breiten erklären, bis sie sie verstanden. Zum Dank luden sie mich hin und wieder in eine Bar oder in eine Diskothek ein, wo ich mich recht fremd fühlte.

Um meine Finanzen war es in dieser Zeit schlecht bestellt. Meine Eltern zahlten die Miete und den Stromverbrauch für meine winzige Wohnung und gaben mir dazu ein Taschengeld, mit dem ich halbwegs über die Runden kam. Mein Sparbuch aber darbte. Auf den Kontoauszügen reihte sich Subtraktion an Subtraktion, obwohl ich äußerst sparsam lebte. Ich hatte noch Nachhilfeschüler, aber seit meinem Schulabgang waren keine neuen mehr dazugekommen. Ich fühlte, wie die Armut langsam an mir hochkroch, ein Scheusal, das mir alle Lebensfreude und Selbstachtung nehmen wollte. Jeden Tag zitterte ich vor dem Versagen eines Haushaltsgerätes, weil meine Eltern sagten, ich müsse eine Reparatur oder Neuanschaffung mit Hilfe meines Sparbuchs finanzieren, das ihrer Auffassung nach "dick gepolstert" war.

Da ich mich immer wie das fünfte Rad am Wagen fühlte, wenn mich meine Freunde einluden, schrieb ich einem gewissen "Herodot", dessen Profil ich auf einer Dating-Plattform entdeckte. Er war in meinem Alter, hieß in Wahrheit Alexander und studierte Archäologie. Als wir uns trafen, war ich von seinem guten Aussehen und seinen Umgangsformen sehr eingenommen. Er erzählte mir von alten Kulturen, die ich nur dem Namen nach kannte, und zeichnete mir die verschiedenen Muster auf, die sie für ihr Tongeschirr verwendet hatten. Als ich ihn wieder traf, war ich schon sehr verliebt. Wir küssten und heiß und heftig beim Abschied. Umso trauriger war unsere dritte Begegnung, bei der er mir eröffnete, dass er für drei Monate in die Türkei zu einer Ausgrabung reisen müsse. Sie sei auch der Grund, weshalb er unsere Beziehung noch nicht so eng gestaltet habe, wie er es eigentlich wünschte. Ich sollte mich frei fühlen, aber er werde mir täglich schreiben.

Bald kamen tatsächlich die ersten Nachrichten mit Bildern von Erdhügeln, von Tonscherben und kleinen Öllämpchen. Auf einem war er selbst mit einem zum Bandana gebundenen Geschirrtuch zu sehen. Ich saß nun jeden Abend über diesen Bildern und versuchte, ähnlich Interessantes von mir zu berichten. Darüber vergaß ich ein wenig die Sorgen um meine Ersparnisse und die vielen Subtraktionen auf meinem Konto. Nach etwa fünf Wochen kam nach einer kurzen Stille eine Nachricht, die mir das Blut in den Adern gefrieren ließ. Er schrieb, dass er dringend Geld brauche, einen niedrigen fünfstelligen Betrag, weil er verhaftet worden war und man ihn nur gegen eine Kaution freilassen würde. Seine Eltern könne er nicht um das Geld bitten, da er mit einer geringen Menge Marihuana erwischt worden sei, was sie ihm sehr übelnehmen würden. Sobald er wieder daheim sei, werde er mir die Summe umgehend zurückerstatten.

Es war eine schlimme Zeit. An manchen Tagen dachte ich, dass man für einen geliebten Menschen auch große Opfer bringen müsse. Das waren die Tage, an denen meine Mutter aus mir dachte. Dann sagte ich mir, dass meine Freunde gewiss recht hatten, wenn sie sagten, dass es nichts weiter als ein Versuch war, mich auszunehmen oder "abzuzocken", wie sie es ausdrückten. Ich konnte mich nicht entscheiden und schrieb: So schnell kann ich das Geld nicht auftreiben. Du musst Dich gedulden. Er antwortete: Bitte beeil Dich! Denk an unsere Liebe!

Seither sind zwei Jahre vergangen. Ich habe nichts mehr von ihm gehört. Manchmal bin ich stolz darauf, der Versuchung nicht nachgegeben zu haben, dann wieder denke ich mir, dass die Geschichte doch nicht so unplausibel war und ich das Risiko vielleicht hätte eingehen sollen. Bis heute weiß ich nicht, ob ich dem jungen Mann, der sich "Alexander" nannte, in die Suppe gespuckt oder bitter Unrecht getan habe. Das eine wäre so schlimm wie das andere.
 

petrasmiles

Mitglied
Lieber Matula,

das ist ja eine entzückende Idee, wie man Subtraktion sich als Operation vorstellen kann.
Und ich finde es auch sehr glaubwürdig, wie sich daraus eine Angst, ja geradezu eine Geldausgabe-Phobie entwickelt.
Man möchte dem Mädchen wünschen, die Eltern hätten ihre Drohung wahr gemacht, einen Arzt zu konsultieren.
Schade nur, dass die Pointe traurig ist, aber vielleicht war das anders nicht möglich.
Sehr gerne gelesen.

Liebe Grüße
Petra
 

Matula

Mitglied
Guten Morgen petrasmiles !
Ja, das Ende ist ein bisschen traurig, aber doch auch komisch, weil die Gute bis zuletzt an dem Gedanken festhalten will, dass Alexander tatsächlich in einer Notlage war.

Danke fürs Lesen und fürs Lob,
herzliche Grüße,
Matula
 



 
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