Vom Träumen und ScheinSein

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Otto Lenk

Foren-Redakteur
Teammitglied
Seit Jahren saß er in der Küche. Nur unterbrochen von den notwendigen Einkäufen, hatte er hier seinen Platz gefunden. Nicht freiwillig, nein. Der Vogel seiner Frau, Gott hab sie selig, hatte hier am Fenster seinen Käfig stehen. Von hier aus konnte der Vogel die Freiheit erahnen. Dem alten Mann ging es ähnlich. Manchmal, wenn er Gesprächsfetzen aufnahm, stahl er sich ans Fenster, öffnete es, schaute vorsichtig in den Hinterhof und versuchte, Teil des Gesprächs zu werden, in dem er die Menschen bei ihrer Zweisamkeit belauschte. Freilich verstand er nur wenige Worte, vernahm mal ein Lachen, mal ein Hüsteln, Fetzen halt. Doch in solchen Momenten genügte ihm dies. In Gedanken antwortete er den Menschen im Hof, war nicht allein.
Ansonsten saß er in der Küche und unterhielt sich mit dem Vogel. Manchmal schien der Vogel dem alten Mann sogar zu antworten
„Na mein Süßer! Geht es dir gut?“, sagte er zum Beispiel, und die Antwort kam postwendend.
"Mir geht es gut! Mir geht es gut!"
Dann fühlte er sich verstanden, lebendig.
Das Radio ließ er aus. Damals, als seine Frau noch Herrin der Küche war, wurde das Radio vor dem Frühstück angemacht und erst am Abend, wenn der Vogel zugedeckt wurde, abgestellt. Heute ängstigte ihn die seltsame Nähe der Stimmen in diesem Kasten. Sie waren so nah und doch so weit weg, wie die Stimme seiner verstorbenen Frau. Manchmal - nachts - im Schlaf, wenn aus Ferne Nähe wächst, vernahm er ihre Stimme und erwachte voller Freude, um im nächsten Moment von der einsamen Wirklichkeit eingeholt zu werden. Dann wünschte er sich einen ewigen Schlaf, voller Stimmen und Nähe.
Der Radio blieb aus, und er saß in der Küche und hoffte auf ein Geräusch im Treppenhaus, im Hof, in seinem Leben.
Es klingelte nur noch selten an seiner Tür, und wenn, erschrak er so sehr, dass es einige Sekunden dauerte, bis er sich fasste und zur Tür ging.
Dies waren die Augenblicke der vollkommenen Lebendigkeit. Sekunden nur, manchmal Minuten, und doch alles.
Die Briefträgerin war jung. Ihr Lächeln erinnerte den alten Mann an seine Liebste. Er dachte an diesen wundervollen Tag, als er ihr die Rose schenkte, und sie, unschuldig und doch so zart erregt, errötete, und ihm dieses verschwiegene ~Ja~ schenkte. Wenn sie kam, um ihm die Post zu bringen, war es, als käme seine Liebe zurück, natürlich nicht persönlich, vielmehr als nahm ihre Seele für diesen Moment Platz in der jungen Frau, nur um zu sagen:
„Du bist nicht allein.“
Von diesen Momenten konnte der alte Mann zehren. Er erzählte dann dem Vogel, dass sie da gewesen sei! Er habe sie genau erkannt, an diesem Lächeln, dass nur sie lächeln konnte, wenn sie ihm in die Augen sah.
Oft dauerte es Monate bis es klingelte. Doch er hatte Zeit. Nichts lief ihm davon. Keiner wartete auf den alten Mann und er erwartete nichts von den Tagen, die kamen und gingen.
Die Küche, der Gesang des Vogels, die Gesprächsfetzen in Hof und Treppenhaus, das monotone Schlagen der Uhr. Alles blieb gleich.

Tagein, tagaus...

Alles - hier drinnen
Ist mir so sehr vertraut
Dass ich es benenne
Die Decke heiße ich Himmel
Den Fußboden Erde
Die Wände Horizont
Das Fenster ~Welt ~
 

Gabriele

Mitglied
Hallo Otto Lenk,
ein berührender Text mit sehr einfühlsamen Beschreibungen. Besonders schön finde ich den Satz:
"Manchmal - nachts - im Schlaf, wenn aus Ferne Nähe wächst, vernahm er ihre Stimme und erwachte voller Freude, um im nächsten Moment von der einsamen Wirklichkeit eingeholt zu werden."
Ein paar Dinge haben mich aber beim Lesen irritiert:
Die Bedeutung von "Das Radio ließ er aus." wurde mir erst klar, als ich weiterlas. Ob es nur mir so geht?
Den Schluss würde ich weglassen oder hin zu einer Prosaform verändern, meiner Meinung nach passt die lyrische Form nicht zum übrigen Werk.
Das waren so meine ersten Gedanken beim Lesen.
Liebe Grüße
Gabriele
 



 
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