Von der Sowjetunion lernen, heißt ...

Berlin, nun freue dich – es gibt Senatsknete reichlich, juhu! Und zwar für die MUFs. Was das ist? Modulare Unterkünfte für Flüchtlinge. Das Land Berlin plant, 2016 an 60 Standorten Wohnplätze für 24.000 Menschen bauen zu lassen. Die aus vorgefertigten Teilen zu errichtenden Gebäude sollen 100 Jahre halten und je nach Entwicklung später auch anderen Wohnraum suchenden Bevölkerungsgruppen als Unterkunft dienen. Von Wohnungen i.e.S. kann indessen nicht die Rede sein – es handelt sich schlicht um Zimmer von 11 oder 16 Quadratmetern, für eine oder zwei Personen. Und: Die Kochgelegenheit befindet sich immer um die Ecke, in der Gemeinschaftsküche. Womit wir wieder im frühen 20. Jahrhundert angelangt sind. Willkommen in der Kommunalka! Swetlana Alexijewitsch (Nobelpreis für Literatur 2015) hat in „Secondhand-Zeit“ die konstitutive Rolle der Küche und der Küchengespräche für den Realsozialismus im Niedergang anschaulich beschrieben …

Bemerkenswert ist die Verteilung der MUFs im Stadtgebiet. Etwa die Hälfte soll im Nordosten von Berlin errichtet werden, in der Nachbarschaft der Plattenbausiedlungen von Buch, Neu-Hohenschönhausen, Marzahn und Hellersdorf. Da kommt dort sicherlich Freude auf. Ist es die pure Not oder der Geschmack am Kontrast oder ein anderes Kalkül, das den Senat den Großteil der Flüchtlinge in die Walachei abschieben lässt, gleich neben ihre, wie bekannt, größten Sympathisanten? Ist „Balkanization“ vielleicht die zugrunde liegende Strategie? Die MUfs werden ja einen Sperrriegel zwischen den genannten Vierteln aus der späten DDR und dem feindlichen Brandenburg bilden. Mir fällt dabei die alte Habsburger Militärgrenze auf dem Balkan ein …

Kann aus Hilflosigkeit, aus Instinktlosigkeit und ignorantem Trotz jemals Gutes erwachsen?
 

TaugeniX

Mitglied
Im Roman "Der Vorleser" von Bernhard Schlink fragt die Beschuldigte ihren Richter: "Was hätten Sie denn getan?"

Was würden wir denn tun anstelle der hilflosen Regierung? Was soll man denn um Gottes Willen tun, auf dass es irgendwie gut wird?

In der Kommunalka bin ich aufgewachsen und möchte diese Kindheit nicht missen. Allerdings hatte ich Glück: unsere Kommunalka war von sehr interessanten Menschen bewohnt und Krach gab es nur aus "höheren Beweggründen" :) Mich hat die Kommunalka so geprägt, dass ich nach dem Zusammenbruch dieser kleinen Welt ins Kloster eintreten wollte, weil mir ein Leben "für sich" oder in Kleinfamilie eine unerträgliche Vorstellung war.

Leider werden diese MUFs nicht so wie unsere Kommunalkas im Leningrader Altbau waren. Nein, das werden sie nicht. Eine gute Kommunalka hat 5 Meter hohe Decken mit Stuckarbeiten, einen herrlichen Kachelofen und kostbare Parkettböden, die aus lauter Not mit Zeitungen abgedeckt werden. Eine uralte Babuschka gehört da rein, deren Eltern angeblich das ganze Haus gehört hat, - das einzige ihr verbliebene Zimmer ist durch die Flügel so verstellt, dass man an der Wand streift, wenn man zum Bett kommen will. Da gehört eine große chaotische Bibliothek dazu und einige schwere Möbel aus der Zeit von "vor der Revolution", - man hat sie während der Blockade nicht verzeit, - aus Stolz und Standesdünkel der alten Petersburger.

Meine Familie war ganz einfach, keine Deren von. Aber wir hatten einen verzweifelten Hunger nach Bildung und dem "Höheren", was auch immer es sein sollte. Wir haben uns an diesen verarmten Patriziern und Bildungsbürgern angehängt und hinaufgezogen. Haben sie uns dafür gehasst, dass wir da sind und ihre Zimmer besetzen? Vielleicht habe ich es nur als Kind nicht bemerkt. Aber ich glaube nicht, dass sie uns gehasst haben. Ich durfte zu den Büchern und zum Klavier und ich durfte Geschichten hören, die ich sonst niemals gehört hätte. Und als Achmadulina ihre Gedichte vorlas, saßen wir alle vor dem einzigen Fernseher und trauten uns nicht aufzuatmen.

Ach, Mensch, jetzt fange ich auch noch zum heulen an. Verdammt.
 
TaugeniX, klare Antwort auf deine Eingangsfrage: Deutschland soll sich am europäischen Standard orientieren, sowohl bei der Praxis als auch bei den gesetzlichen Grundlagen dafür. Unser Land ist mit seiner Politik inzwischen völlig isoliert in Europa, nachdem auch Schweden eine Kehrtwende vollzogen hat. Für die Bundesregierung gibt es genügend Ratschläge aus dem gesamten EU-Raum, bis hinauf zu Donald Tusk, dem EU-Ratspräsidenten.

Die Sache mit der Kommunalka war hier in erster Linie Assoziation. Aber natürlich ist es kein Zufall, dass so ein alter Hut wie die Gemeinschaftsküche in Zeiten von Wohnungsnot wieder in Mode kommt.

Deine Notizen über eine echte russische Kommunalka habe ich mit großem Interesse gelesen.

Freundlichen Gruß
Arno Abendschön
 

TaugeniX

Mitglied
"an europäischen Standards orientieren"... Wenn ich mich jetzt miserabel blamiere, musst Du mir verzeihen. Heißt es, man soll weniger Leute reinlassen ins Land?

Aber wo sollen alle diese Menschen hin?
 
TaugeniX, mein kleiner Text hier ist einer in der Art eines Tagebucheintrages. Er enthält Gedanken, die einem kommen können, wenn man von MUFs und deren Konzentration in einer bestimmten Gegend von Berlin liest. Die Kritik an dieser Unterbringung und Konzentration ist unabhängig von sonstigen politischen Überzeugungen, sie wird ja gegenwärtig auch so ähnlich aus ganz unterschiedlichen Richtungen geäußert.

Ich halte es nicht für angebracht, von diesem Ausgangspunkt her eine Generaldebatte über die deutsche Flüchtlingspolitik und ihren europäischen Kontext zu führen. Das fand schon an anderer Stelle statt und kann bei passender Gelegenheit auch wieder an anderer Stelle stattfinden, evtl. dann auch mit meiner Beteiligung.

Arno Abendschön (der durchaus nicht kneift, wenn er sich hier in einem Textarbeitsforum wähnt)
 

TaugeniX

Mitglied
Zu jener anderen Diskussionsstelle traue ich mich gar nicht hin. Zu einem verstehe ich nichts von Politik, zum Anderen bin ich "berufsdeformiert" und habe einen Helfersyndrom.

Tut mir leid, wenn ich mir unpassende Bemerkungen erlaubt habe.
 
TaugeniX, es gibt nichts, was dir unangenehm sein müsste. Es geht hier gar nicht um Bewertung von persönlichen Standpunkten. Bitte versuche nur zu verstehen, dass in einem Textarbeitsforum das Handwerkliche im Vordergrund stehen sollte. Es kann nicht mein Interesse sein, dass aufgrund entstehender intensiver Diskussion über ein hier naheliegendes Thema mein Beitrag ins Forum Lupanum verschoben wird. Die Trennung, wie sie in der Leselupe erwünscht wird zwischen fachlicher Erörterung und allgemeiner Diskussion, halte ich durchaus für zweckmäßig.

Auf deine grundsätzliche politische Frage bin ich ja heute Mittag schon so kurz wie möglich eingegangen.

Schönen Nachmittagsgruß
Arno Abendschön
 



 
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