Von hoher Warte betrachtet

Man kann auch in Brandenburg Berge besteigen, etwa den Hohen Timpberg südwestlich von Zehdenick. In Metern erreicht er deren eine hohe zweistellige Zahl. Betone ich auch das erste der beiden Adjektive, es wird kaum das Naserümpfen des Lesers verhindern, wenn ich mit der Wahrheit herausrücke: fünfundneunzig Meter über dem Meeresspiegel ist dieser Berg hoch. Die tiefsten Punkte der weiteren Umgebung bringen es auf gut fünfzig Meter. Um die Differenz zu überwinden, steigt man entweder von der Bahnstation Bergsdorf – stündliche Verbindung mit Berlin-Ostkreuz – oder vom Dorf Klein-Mutz seine anderthalb oder zwei Kilometer bergan. Die Gegend ist waldfrei und man erlebt, während man bergauf voranschreitet, mit den Augen geradeso wie mit den Füßen, wie sie aufgebaut ist, nämlich in Stufen und Wellen. Das weiter Entfernte mit seinen Wäldern sinkt allmählich hinweg. Diese Landschaft ist musikalisch wie ein Andante von Schumann.

Gekrönt wird das, mit Verlaub, Massiv durch eine zierliche nochmalige und von einem Kranz hoher Bäume eingefasste Erhebung, die wir lieber nicht Gipfel nennen wollen; zwischen ihnen ein paar Steinstufen und man hat den wieder besteigbaren Bismarckturm vor sich. Etwa fünfzehn Meter hoch passt er sich geschickt mit seiner Form derjenigen des Geländes an. Ratlos nehme ich zur Kenntnis, was die Informationstafel an seinem Fuß zu künden hat: Der realisierte Entwurf des Architekten lief seinerzeit unter dem Titel oder Motto „Götterdämmerung“. Die Reproduktion einer, ich muss schon so schreiben, Photographie zeigt festtäglich gekleidete Menschen des Jahres 1900.

Nun aber hinauf! Nur hier und da wird einem ein klein wenig abverlangt auf der inneren Steinstufentreppe und dann bitte beim letzten Erklimmen den Kopf einziehen und schon steht man auf der bemerkenswert kleinen Plattform. Man begreift jetzt, warum der Turm auch Bismarcksäule genannt wird. Die Aussicht ist so fulminant, dass es einem sogleich die Sprache verschlagen könnte. Die Wälder, von denen man beim Anstieg kaum mehr als die Ränder gesehen hat, darunter die Schorfheide, erstrecken sich nun tiefer in alle Himmelsrichtungen, ohne dass man die Ausmaße der Forste auch nur abschätzen könnte. Dann nimmt man die nähere Umgebung in Augenschein und erlebt eine gelinde Enttäuschung. Da ist die Landschaft mit ihrem Aufbau, ihrer allmählichen Steigerung durch Steigung auf einmal zu einer reinen Tiefebene geschrumpft und paradoxerweise ist die Aussicht vom Fuß des Turms, zwischen den Bäumen hindurch, insoweit ergiebiger als von seiner Höhe. Ganz anders habe ich vorhin doch all das beim wirklichen Bergaufgehen erlebt. Man kann das optische Wunder wohl auch mathematisch-geometrisch und perspektivisch erklären. Fünfzehn Meter Höhe zusätzlich ebnen die vierzig Meter Höhendistanz vorher vollständig ein, wenn der neue Horizont viele Kilometer weiter ausgedehnt ist.

Man kann aber auch ein allgemeines Gesetz erkennen: Von unverhältnismäßig hoher Warte aus betrachtet verliert die Wirklichkeit zu ihren Füßen an Substanz und Konturen, wird ein wenig abstrakt.
 



 
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