Von Magalie, dem Muschelkleid und den langen und kurzen Geschichten

4,00 Stern(e) 1 Stimme

Writeolm

Mitglied
Magalie, die Frau im Muschelkleid
(2017 / 10F08)

Vor vielen Jahren kam weit oben im stürmischen Nordwesten Frankreichs ein Mädchen zur Welt..
Ihre Eltern nannten sie Magalie. Die Familie lebte vom Fischfang und hatte wenig Geld.
Die Kleine war ein freundliches Kind, und schon im Alter von 8 Jahren half sie ihren Eltern in Haus und Hof.
Den Vater sah sie nur selten, denn oft war er draußen auf See und blieb tagelang weg. Selbst in den stürmischen Wochen,
die das Fischen unmöglich machten, ging er schon früh hinunter zum kleinen Hafen.
Magalie besuchte ihn manchmal, und dann gab es ein freundliches Hallo der Männer dort, die froh waren,
dem Einerlei des Netzeflickens für ein paar Augenblicke zu entkommen. Bald aber schickte der Vater sie wieder nach Haus,
denn die Gespräche der Männer waren nichts für kleine Mädchen.

So vergingen die Tage und Wochen. Magalie bestellte den Garten und fütterte Hühner und Gänse.
Spät am Nachmittag, wenn Sonne und Wolken sich um des Himmels beste Plätze stritten, lief Magalie zum Strand.
Sie liebte es, sich in den weichen Sand zu legen und nach oben zu schauen.
Man konnte so schön träumen und sich aus Wolkenfetzen die aufregendsten Bilder malen.

Abends erzählte sie ihrer Mutter davon, die traurig lächelte und ihr übers dunkle Haar strich.
"Wir sollten das Kind in die Stadt schicken", sagte die Frau zu später Stunde leise ihrem Mann.
"Sie ist anders als andere Kinder und könnte es weiterbringen als wir im Leben."
"Wovon willst du das bezahlen", brummte der Fischer, "schlag dir das aus dem Kopf".
Und es wurde nie wieder darüber gesprochen.

Eines Tages holte Magalie ihr rostiges Fahrrad aus dem Bretterverschlag gleich neben dem Hühnerstall und fuhr an den Strand.
Nach kurzer Zeit sah sie vor sich einen Mann, der in die gleiche Richtung lief. Es war sehr ungewöhnlich jemanden um diese Zeit zu treffen.
Neugierig und so langsam, dass sie gerade die Balance noch halten konnte, radelte sie an ihm vorüber und wäre fast gegen die efeubewachsene Steinmauer
der kleinen Brücke gestoßen, die einen meist ausgetrockneten Wassergraben überspannt.
"Holla, kleine Dame, das hätte auch schief gehen können", rief der Mann und streckte seine Arme aus, so als wolle er sie halten.
Magalie sah in an und musste lachen. Sie lachte mehr und mehr und wischte sich mit dem Saum ihres Kleides die Tränen aus dem Gesicht.
"Sie wollten mich halten?", prustete sie heraus, "wie soll das gehen mit ihren dünnen Armen und der Last ihres Alters?"
"Du hast recht, mein Kind", entgegnete der Mann und schaute sie ernst an, " Du hast ganz sicher recht, nie im Leben hätte ich dich auffangen können."
Magalie schämte sich jetzt ein bisschen, darum fragte sie ganz höflich, wohin er denn unterwegs sei.
"Ich weiß es selber nicht, manchmal muss man einfach hinaus, und dann ist es egal, wohin man geht."
"Kommen sie doch mit", rief das Mädchen ihm zu. "Ich zeige ihnen, was ich am liebsten mag."
Und schon rannte sie, das Rad neben sich herschiebend, die paar Meter weiter in Richtung Strand.
Sich immer wieder umblickend, ob der Alte ihr denn folgen würde, legte sie das letzte Stück zum Dünenrand zurück.
Schnaufend und mit offenem Mund erreichte auch der Mann schließlich den Strand und stützte sich auf den Stumpf eines vom letzten Sturm geknickten Baumes.
"Na los, legen sie sich neben mich", rief Magalie ihm durch das Rauschen der Wellen zu.
"Das geht nicht", wendete er abweisend ein, "liege ich einmal im weichen Sand, nie käme ich ohne Hilfe wieder hoch."
"Ach was, ich bin doch da und stärker als ich aussehe. Das bekommen wir schon hin."
Und das Mädchen klopfte einladend auf die Sandfläche neben sich, ganz so als wären da Stuhl oder Kissen.

So lagen also der alte Mann und das Mädchen nebeneinander im Sand.
Bald atmete der Alte ruhiger und schaute nach oben. Keiner von beiden sprach ein Wort.
Magalie suchte die passenden Wolkenstücke zu ihren Träumen, und er dachte darüber nach,
wann in seinem Leben er zuletzt am Meer gelegen und in den Himmel geblickt hatte..
Nach einer Weile stützte sie sich auf und sah ihn an. "Schön hier, nicht wahr?"
"Ja, ist es wirklich"
Magalie ließ sich wieder auf den Rücken fallen und zeigte nach oben. "Sehen sie dort diese große Wolke, gleich neben dem blauen Stückchen Himmel?
Sehen sie sie? Gut. Achten sie auf die kleine etwas hellere Wolke darunter, man kann sie nicht übersehen. Passen sie auf was gleich geschieht!
Jetzt !!
Die große böse Wolke frisst die kleine einfach auf. Zuerst passiert das ganz langsam. Man muss genau hingucken, um überhaupt eine Bewegung zu sehen.
Ist fast so wie bei der Uhr, die zu Haus in der Küche hängt. Da starre ich auch auf die Zeiger und denke, sie sind stehengeblieben.
Doch schaut man kurz nicht hin, schon sind sie ein Stück weiter gerutscht .
Sehen sie, die kleine Wolke ist verschwunden. Weg für immer.
Aufgefressen!"
Jetzt stützte sich auch der Alte ächzend hoch und schaut Magalie an. "Das ist nicht wahr!
Sie ist nicht weg, ich habe etwas ganz anderes gesehen.
Möchtest du es hören?"
"Ja, natürlich!" rief das Mädchen ganz aufgeregt und setzte sich hin.
"Gut, dann will ich es dir erzählen.
Die große etwas dunklere Wolke hat die kleinere nicht aufgefressen. Sie hat sie nur zugedeckt und ihr leise ein Schlaflied gesungen."
Magalie stutzte kurz und entgegnete forsch: "Phhh, und wieso ist sie dann weg?"
"Ist sie doch nicht, guck' hoch!
Siehst du oberhalb unserer dicken dunklen Wolke die kleine weiße? Da ist sie wieder." Und zur Bekräftigung des Gesagten zeigte er mit zitternder Hand nach oben.
Und tatsächlich, wie vorher trieben große und kleine Wolke andächtig nebeneinander im warmen Wind des ausgehenden Tages.
Magalie schaute den Alten lächelnd an. Seine Augen blitzten verschmitzt zurück:
"Mein Kind, es ist manchmal so im Leben, da sieht man Dinge, die ganz anders sind als man glaubt.
Ich könnte dir viele Geschichten darüber erzählen, aber ich denke, jetzt ist es Zeit für mich. Hilfst du mir hoch?"
Magalie streckte ihm beide Hände hin, und so stand er bald neben ihr im Sand.
"Kommen sie morgen wieder?", fragte sie ihn. "Ich würde gerne die Geschichten hören..."
"Wenn ich nichts besseres vorhabe, dann sehen wir uns morgen wieder.
Jetzt aber los, deine Eltern warten sicher schon."

Am nächsten Tag war Magalie schon eine geschlagene Stunde früher als sonst am Strand. Immer wieder schaute sie zur kleinen Brücke, über die er kommen musste.
Als er nicht kam, wurde sie unruhig und lief zurück.
Da sah sie ihn. Langsam und bedächtig wie am ersten Tag war sein Schritt.
Auf der Brücke trafen sie sich.
"Lass' uns hierbleiben, junge Dame", sagte er mit müder Stimme. "Es ist wunderschön am Strand, aber es ist dein Lieblingsplatz, und der gehört nur dir.
Setzen wir uns einfach auf den Brückenrand, das ist in meinem Alter bequemer als im Sand zu liegen."
Magalie verstand das natürlich, und so wurde die Brücke kurzerhand zur neuen gemeinsamen Lieblingsstelle.
"Los, fangen sie schon an!
Sie wollten mir doch von den Dingen im Leben erzählen, die manchmal anders sind als man glaubt."
"Ja, ja, nicht so ungeduldig mein Kind, lass' mich nur kurz zu Atem kommen."

Der alte Mann räusperte sich und berichtete dann von Ökele, diesem wundersamen Mädchen aus dem kleinen ungarischen Städtchen Zalaszentgrot,
und wie sie den Menschen half bis sie selber Hilfe brauchte.
Magalie hing an seinen Lippen, und in ihrem Gesicht spiegelten sich Lachen und Weinen im Fluß der Erzählung.
Wochen und Monate gingen ins Land und Magalie hörte von einsamen Menschen, die in Berghütten wieder Freude empfanden,
sie lernte Fische kennen, die vor lauter Übermut Badende in die Hüften bissen, da war Nadelspitz mit seiner kleinen Freundin Schamina,
sie reiste mit dem alten Mann am Mond vorbei tief hinein in die Sternenwelt.
Erst als sie Cassiopeia erreichten und einen Blick hinter sie warfen, kehrten sie zurück.
Sie waren in Afrikas Osten unterwegs, lernten einen echten Massai kennen und verstanden, warum Kühe für diesen so wichtig sind. Kleine Mohnblumen am Wegesrand füllten die Erzählungen des Alten ebenso wie in tausend Teile zersprungenes Spiegelglas.

Irgendwann in einer mondhellen Nacht wachte Magalie erschrocken in ihrem Bett auf.
"Was", fragte sie sich angstvoll, "was ist, wenn ich die vielen Geschichten des Mannes eines Tages vergesse?"
In dieser Nacht machte sie kein Auge mehr zu.
Gleich am Nachmittag erzählte sie ihm von ihren Sorgen.
"Hm..." brummte der Alte, "das ist in der Tat eine schwierige Frage. Lass' mich überlegen!"
Und so saß der Mann minutenlang auf der Mauer der alten efeubewachsenen Brücke und dachte nach.
Dann hob er den Kopf und schaute Magalie an: "Bring' morgen vom Strand einige dieser Muscheln mit, die die Wellen angespült haben.
Sammle nicht nur die großen, nimm auch von den kleinen."

Am nächsten Tag war das Wetter wild und der Regen peitschte übers Land. Magalie saß am Fenster und schaute dem Wind zu wie er die Bäume in alle Richtungen bog.
Der Sturm dauerte drei Tage und hatte den Strand mit Muscheln übersät.

"Hier, schauen sie, hier sind die Muscheln, ich hab’ sie alle gesammelt", und das Mädchen legte fein säuberlich eine nach der anderen auf die Brückenmauer.
Kleine und große, bunte und einfarbige, von jedem etwas.
"Sehr schön", freute der Alte sich", nahm eine der kleineren Muscheln und gab sie ihr.
"Stell' dir vor, du erzählst der Muschel in deiner Hand eine unserer Geschichten.
Was meinst du, welche davon in die Schale passen würde? "
Magalie überlegte eine Weile und sagte dann: "Vielleicht die von der Frau, die ihr Lachen wiederfand?"
Die ist nicht so lang."
"Ja, das probieren wir jetzt aus, Magalie.
Nimm die Muschel in die Hand und erzähl'! Wir werden sehen, ob alles Platz findet in der Schale."
Und Magalie tat, wie ihr gesagt wurde.
Als sie fertig war, passte alles wunderbar in die kleine Muschel, und es war sogar noch ein wenig Platz übrig.
Zufrieden rieb sich der Mann die Hände. "Das hast du gut gemacht.
Ich schlage vor, du nimmst alle Muscheln mit nach Haus, und wenn du Zeit hast oder Wind und Regen dich nicht vor die Tür lassen,
erzählst du den Muscheln unsere Geschichten.
Den großen die langen und den kleinen die kurzen.“

Und so geschah es.

Die Tage vergingen, wurden zu Wochen und Monaten, und bald hatten alle Geschichten ihren Platz in den Muscheln gefunden.
An einem der letzten schönen Nachmittage im Herbst erzählte der alte Mann Magalie die Geschichte von den Steinen am Weltengrund.
Ihr fiel auf, dass etwas anders war als sonst. Seine Stimme klang leise, und sie musste sich recht vorbeugen, um ihn zu verstehen.
Als er geendet hatte, meinte er zu ihr, dass er den Winter über nicht da wäre.
"Aber im nächsten Jahr, da sehen wir uns wieder?“, rief sie ihm zu.
"Sicher, mein Kind, wir sehen uns wieder, und achte gut auf deine Muscheln."
Er legte seine zitternde Hand auf ihren Arm, und dann gingen sie noch ein Stück des Weges zusammen.

Als es Mai wurde an der nordwestlichen Küste in Frankreich und die Winde nachließen, ging Magalie Tag für Tag zur Steinbrücke,
die das fast immer trockene kleine Flussbett überspannt.
Zuerst saß sie auf der Mauer und ließ ihre Füße baumeln.
Später dann stand sie nur noch und schaute starr in die Richtung, aus der er kommen musste.
Doch er kam nicht.
Er kam nie wieder.

Irgendwann schließlich legte sie all ihre Muscheln in ein Stück des alten Fischernetzes, das im baufälligen Schuppen
am anderen Ende des Gartens lag und ging zur Brücke.
Dort sah man sie an jedem neuen Tag stehen und Ausschau halten.
Sie hielt das Netz mit den Muscheln fest an die Brust gedrückt, damit keine der Geschichten verloren ging.
Bald schon wand Efeu sich vom brüchigen Mauerwerk um ihre Knöchel und wuchs höher und höher....
Fortan nannten die Menschen sie die Frau mit dem Muschelkleid.
Und wer den Mut hat sich ihr zu nähern, der kann vielleicht ganz leise die eine oder andere Geschichte hören
....aus den großen die langen und aus den kleinen die kurzen....
 
Zuletzt bearbeitet:



 
Oben Unten