Von Schriftstellern und Sängern: "Brauchen" Gedichte den Klang?

sufnus

Mitglied
Grüße in die Theorie-lastige (?) Runde!

An anderer Stelle, nämlich in einem Gedichtethread von Stavanger, in dem es bezeichnenderweise um die "Wappentier-Klade" der Dichter*innen geht, nämlich die Vögel, wer weiß noch, wie dieser Satz losgegangen ist?, ich!, ich!, hat sich jedenfalls die Diskussion entsponnen (entspannt, entspinnt), wie es bei Gedichten im ganz allgemeinen und bei bestimmten Gedichtformen im Besonderen und allem Gedicht-artigen dazwischen, ist denn dieser Satz immer noch nicht zu ende?!, um das Verhältnis von Mündlichkeit (was ist das?) und Schriftlichkeit bestellt ist (und wer bis hierher durchgehalten hat darf weiterlesen!). Full stop.

Anders gesagt (geschrieben): Betreibt eine(r), die oder der still (!) am Schreibtisch hockt und ein Gedicht (?) in die Tastatur hackt, das nicht für den mündlichen Vortrag bestimmt ist, am Ende gar keine "richtige" Dichtung (Lyrik) (Poesie)?

Oder nochmal anders: Kommt die Lyrik nicht so wesenhaft aus dem Gesang und damit dem mündlichen Vortrag, dass sie ohne eine Betonung dieses Klangaspektes gar keine Lyrik sein kann? Ist das womöglich ein Argument gegen ungereimte und metrisch nicht gebundene "moderne" Gedichte? Oder ein Argument gegen Ideenlyrik und philosophische Gedichte mit ihrem primär inhaltlichen Fokus? Ist also dann ein Lautgedicht im Sinn von Kurt Schwitters und co. das"perfekte" Gedicht?

Und nochmal anders: Gibt es (auch) primär schriftliche (also eben nicht: mündliche) Traditionslinien in der Lyrik und wenn ja oder nein: Was bedeutet das dann für das "Wesen" von Gedichten?

LG!

S.
 

klausKuckuck

Mitglied
Selbstverständlich, verehrter sufnus, ohne den Klang, wenn er dem Gedicht per Metrum, Rhythmus, Gedankenverlauf eingearbeitet wurde, ist ein Gedicht in meinen Ohren weniger als die Hälfte wert – und umgekehrt: Wenn der oder die Dichtende sich Talent für den mündlichen Vortrag zutraut und draufloserzählt, mehr als das Doppelte. Der Haken bei der Sache: Die allermeisten Gedichteschreiber/-innen haben dieses Talent nicht. Viele aus dem Schauspielergewerbe haben es auch nicht und wagen sich dennoch in den Vortrag. Auf www.lyrikline.org kann man die Bemühungen hunderter vortragender Autoren/innen nachhören, und man fällt von einer Erschütterung in die nächste. Die große Ingeborg Bachmann, um ein Beispiel zu nennen, versagt beim Vortrag ihrer Gedichte erschreckend, der große Erich Kästner nicht minder. Auf der anderen Seite tummeln sich im Internet sogenannte Rezitatoren, die sich dem Tönen (dem und den) verpflichtet fühlen, aber nicht dem gedanklichen und inhaltlichen Verlauf eines Gedichts. (Über den Unfug des Gedichtevortrags, wie er in den Schulen an hilflosen Kindern verübt wird, hat Hans Magnus Enzensberger eine bemerkenswerte Kampfschrift veröffentlicht – Tenor: Lehrer quält die Kinder nicht mit Gedichtetorturen!)

Eine aussichtslose Lage also? Fast. Es gibt ein paar Theaterschauspieler, die es können; ein Beispiel für wenige: Goethes Prometheus, gesprochen von Burghart Klaussner (Prometheus, ein Gedicht das jeden Hilflosen von Beginn an zum verschwenderischen Verbrauch von Tönen verführt): https://www.youtube.com/watch?v=llZlQ3ZDgAE

Um mit einem zuversichtlichen Hinweis abzuschließen: Ein praktikables Mittel, um ein Gedicht in den Griff zu bekommen, ist der Vortrag des Gedichts am Zaun zum Nachbarn, real oder vorgestellt. Ob Goethe oder Gernhardt, einfach draufloserzählen, real oder in Gedanken, und wenn es sein muss fünfmal, zehnmal – bis man zu dem Text eine Art verwandtschaftlicher Bindung aufgebaut hat, bis man die Geschichte gewissermaßen auch per small talk erzählen könnte – und dann den behutsamen Einstieg wagen in Sprachmelodie und Rhythmus. Am Ende einer solchen Vortragspraxis steht dann die Erkenntnis: Gedichte hörenswert vorzutragen ist verdammt schwer, aber das Wagnis lohnt sich.

Gruß KK
 

James Blond

Mitglied
Nein, die Gedichte brauchen nicht den Klang. Gedichte tragen - im Gegensatz zu Liedern - keine Melodie in die Welt, sie folgen der vorgegebenen Phonetik und Satzmelodie ihrer Sprache.

Natürlich liegen auch die Wurzeln der Lyrik in der gesprochenen Sprache, weil jedes Sprachverständnis auf kindlichen Klangerfahrungen des Spracherlernens beruht. Gehörlose besitzen diese Voraussetzung nicht und können sich die Schriftsprache nur zu einem ganz geringen Teil aneignen. Insofern bildet die Phonetik auch eine Brücke zur Schriftsprache, die sich anschließend schrittweise vom Klang befreit. Doch warum sollte die Lyrik von dieser Emanzipation eine Ausnahme machen?

Nein, Gedichte brauchen nicht den Vortrag auf der Bühne. Man kann sie trotz (oder auch wegen ) ihres Metrums und/oder ihrer Reime auch still genießen. Dabei muss nicht einmal der Sinn im Mittelpunkt stehen.

Die Frage nach dem besonderen Klang von Gedichten ist prekär, denn was macht ihn aus, woraus besteht er überhaupt?

Ist es nicht vor allem die individuelle Stimm(lag)e, die einen Gedichtvortrag gestaltet? Sollte man folglich Gedichte für Sopran, Bariton oder Tenor verfassen? Oder für Männer-, bzw. Frauenstimmen?

Das mag für Lieder gelten, für die Lyrik wäre es tödlich. Denn entsprungen aus dem menschlichen Verlangen, einer einstmals wortlosen Angelegenheit eine sprachliche Gestalt zu verleihen, sucht die Lyrik, den Abstand zur unmittelbaren tierischen Lautäußerung zu vergrößern, die Freude und das Entsetzen, das Erstaunen, die Angst und das Lachen sprachlich zu entwickeln (abstrahieren) und in eine (möglichst) passende Form zu bringen - eine intellektuelle Leistung, die im Stillen stattfindet. Da mögen hin und wieder ein paar Urlaute durchschimmern, etwas illlustrieren, aber es macht nicht unbedingt den Wert eines Gedichts über Schweine aus, wenn beim Vortrag auch gegrunzt wird.

Die Lyrik kann auf Lautmalereien gut verzichten. Dort, wo sie es nicht tut, kann der Klang der Worte zum Ausdruck beitragen, er kann sogar zum alleinigen Gegenstand und somit zum Inhalt werden. Das Ergebnis sind dann meist lustige Verse.

Aber die Lyrik ist weit mehr als nur ein akustisches Phänomen, ein lustiges Spiel mit dem Klang. Sie schöpft aus allen gestalterischen Möglichkeiten der Sprache, wobei dem Klang meist nur eine Nebenrolle zukommt.

Der Vortrag eines Textes ist stets mit Handicaps behaftet. Zum einen müssen die Worte akustisch verstanden werden. Zum anderen können auch heterographe Homophone (wie z. B. lehren und leeren) das Verständnis beeinflussen.
Wichtiger noch ist aber der lineare Fluss eines Vortrages. Es wird sich auch der geschulteste Kopf nicht jeden Vers eines längeren Vortrages merken können. Was aber, wenn in einem 8-strophigen Gedicht zu je 4 Versen sich neben der Strophenabfolge (von Vers 1 bis Vers 32) auch noch ein weiterer Bezug zwischen den Versen jeder Strophe (V1, V5, V9 ...V2, V6, V10 ...) ergibt?

Wer ein Gedicht still liest, kann auch dessen Klang für sich erschließen. Er kann aber noch mehr: Den Lesevorgang wiederholen oder an anderer Stelle ansetzen, Verse vergleichen, Formulierungen abwägen, Formen erkennen und sich so ein Gesamtbild des Werks erstellen.

Die Vortragsfähigkeit eines Gedichts allein ist kein hinreichendes Gütekriterium. Im Gegenteil kann ein guter Vortrag über manche Unzulänglichkeit des Textes hinweg helfen, indem man die Theatralik entsprechend bemüht. Ich meine, typische Vortragsgedichte schon beim stillen Lesen identifizieren zu können, denke aber nicht, dass es stets die besten sind. Eine stille Lektüre hingegen wird auch die Unzulänglichkeiten erkennen können, die erst beim Vortrag laut werden. Und im Zweifel kann man sich - zur Kontrolle - selbst (oder dem Nachbarn) laut vorlesen. Dieser Rückgriff auf ursprüngliche Sprachgefühle begründet aber noch keinen Vortragszwang.

Grüße
JB
 

seefeldmaren

Mitglied
Die Frage nach dem besonderen Klang von Gedichten ist prekär, denn was macht ihn aus, woraus besteht er überhaupt?
Wortwahl und Syntax: wird von der Empfindsamkeit - und von dem Gefühl, Sätze zu bilden - des Autors bestimmt.
Rilke vs. Erich Kästner - Celan vs. Heinz Erhardt
Goethe vs. Jandl
Welten, Welten, Welten und Welten und keine davon ist - wie ich finde - falsch, jeder ist anders und das ist gut so. Ob uns alles gefallen muss?
Nein. Ich für meinen Teil bin sehr froh, dass es so viel Diversität gibt.
 

James Blond

Mitglied
Wortwahl und Syntax: wird von der Empfindsamkeit - und von dem Gefühl, Sätze zu bilden - des Autors bestimmt.
Rilke vs. Erich Kästner - Celan vs. Heinz Erhardt
Goethe vs. Jandl
Wo bleibt denn da die Diversität?
Wenn wir den besonderen Klang der Gedichte allein und grundsätzlich an den (spezifischen Sprachvorlieben und -fähigkeiten) von Autoren festmachen, dann erübrigt sich das Thema, weil dann ein klangloses Gedicht eines ohne Autor wäre. ;)
 

Patrick Schuler

Foren-Redakteur
Teammitglied
Wenn wir den besonderen Klang der Gedichte allein und grundsätzlich an den (spezifischen Sprachvorlieben und -fähigkeiten) von Autoren festmachen, dann erübrigt sich das Thema, weil dann ein klangloses Gedicht eines ohne Autor wäre. ;)
Das würde nur funktionieren, wenn es klanglose Gedichte gäbe. Ein Gedicht klingt immer, wie jeder Satz, nur eben nicht immer gut, rhythmisch, melodisch.

Nachtrag: die "spezifischen Sprachvorlieben und - fähigkeiten" eines Autors, müssen das Handwerk nicht ausschließen. Die ersten Gedichte von Rilke sind schlecht, obwohl seine eigene Sprache schon sichtbar ist.

Auch Autoren, die bewusst das (gängige) Handwerk, also Metrum, Inversionen, Enjambements usw. umgestalten, tun dies in der Regel nur gut, wenn sie genau wissen, was sie da umgestalten.

Picasso hätte sicherlich auch nicht so malen können, so ... rotzfrech gegen das Handwerk, wenn er dasselbe nicht beherrscht hätte.


Wie wichtig Klang, Rhythmus, Sprachfluss und Vortrag ist, lässt sich mmn. gut an Dylan Thomas Gedicht: "do not go gentle into that good night" darstellen.

Im Deutschen ist mit dem Inhalt einfach nichts gutes hinzubekommen, es klingt immer furchtbar:

(Übersetzung 2 = Johanna Schall):

Geh nicht gelassen in die gute Nacht,
Glüh, rase Alter, weil dein Tag vergeht,
Verfluch den Tod des Lichts mit aller Macht.

Denn weise Männer, wissend, nichts was sie gedacht
Hat Licht gebracht ins Dunkel, und es ist zu spät,
Gehn nicht gelassen in die gute Nacht.

Und gute Männer, brüllen, schon der letzten Welle Fracht,
Und denkend ihrer Mühn, im Meer verweht,
Verfluchen Tod des Lichts mit aller Macht.

Und wilde Männer, die der Sonne Pracht,
Im Fluge singend fingen, die nun untergeht,
Gehn nicht gelassen in die gute Nacht.

Und ernsten Männer, blind schon, wächst Verdacht,
Auch blindes Auge lacht und blitzt, eh es vergeht,
Verfluchen Tod des Lichts mit aller Macht.

Und du mein Vater, den der bei dir wacht,
Verdamm und segne weinend ihn. Hier mein Gebet:
Geh nicht gelassen in die gute Nacht.
Verfluch den Tod des Lichts mit aller Macht.

Im Original ist es gänzlich anders:

Do not go gentle into that good night

Do not go gentle into that good night,
Old age should burn and rave at close of day;
Rage, rage against the dying of the light.

Though wise men at their end know dark is right,
Because their words had forked no lightning they
Do not go gentle into that good night.

Good men, the last wave by, crying how bright
Their frail deeds might have danced in a green bay,
Rage, rage against the dying of the light.

Wild men who caught and sang the sun in flight,
And learn, too late, they grieved it on its way,
Do not go gentle into that good night.

Grave men, near death, who see with blinding sight
Blind eyes could blaze like meteors and be gay,
Rage, rage against the dying of the light.

And you, my father, there on the sad height,
Curse, bless, me now with your fierce tears, I pray.
Do not go gentle into that good night.
Rage, rage against the dying of the light.
Vorgetragen ist es unschlagbar.

 
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Mimi

Mitglied
Ihr Lieben,

eine sehr interessante Diskussion (Danke an der Stelle an sufnus), zu der ich meine Auffassung/Meinung/Perspektive gerne hinzufügen möchte ...

Wenn ich ehrlich bin: Die Gedichte, die mich am tiefsten bewegen, sind fast nie solche, die ich gehört habe. Es sind die, die ich gelesen habe. Still. Allein. Mehrmals. Gedichte, die mich auf dem Papier anschauen – nicht anschreien. Und genau da beginnt für mich die Erkenntnis, dass es in der Lyrik nicht nur mündliche, sondern sehr deutlich auch schriftliche Traditionslinien gibt. Und dass das etwas mit dem Wesen von Gedichten macht.

Ich erinnere mich zum Beispiel an ein Gedicht des arabischen Dichters Mahmoud Darwish – „Auf dieser Erde gibt es etwas, das des Lebens würdig ist“. Natürlich klingt das auch groß, wenn man es hört, wenn man die Stimme dazu hat, die Kraft der Sprache. Aber wirklich begriffen habe ich es erst, als ich es gelesen habe. Die leisen Brüche zwischen den Zeilen. Die scheinbar einfachen Worte, die plötzlich offen bleiben, vieldeutig, nachklingen. Ich habe immer wieder zurückgeblättert. Nachgelesen. Anders verstanden.

In solchen Momenten wird mir klar: Es gibt Gedichte, die brauchen die Schrift. Die sind nicht einfach für den Vortrag geschrieben, sondern für das stille Nachdenken, für die intime Begegnung mit dem Text. Das ist kein technisches Detail, sondern eine poetische Entscheidung. Und ich liebe das: Dass ein Gedicht mit mir als Leserin rechnet. Nicht mit meinem Applaus, sondern mit meiner Zeit.

Auch in der deutschen Lyrik ist das spürbar. Bei Ingeborg Bachmann, bei Celan. Da reichen Klang und Rhythmus allein nicht mehr aus. Da spricht das Gedicht nicht in erster Linie zu meinem Ohr, sondern zu meinem Blick, zu meiner inneren Bewegung. Und ich mag, dass das Gedicht sich dadurch entzieht, sich nicht einfach „konsumieren“ lässt. Es verlangt etwas von mir. Aufmerksamkeit. Geduld. Offenheit.

Und um auf sufnus' Ausführung in seinem Einstiegskommentar zurückzukommen:
Was heißt das nun für das „Wesen“ von Gedichten? Vielleicht, dass sie nicht nur gehört, sondern gesehen werden wollen. Dass sie sich in der Schriftlichkeit Räume erobern, die in der Mündlichkeit gar nicht existieren. Zwischen Zeilen und Leerstellen, zwischen Bedeutungen und deren Schweigen. Für mich bedeutet das: Ein Gedicht ist nicht bloß ein Text zum Vortragen. Es ist auch ein Ort, an dem ich bleibe. Wiederkomme. Mich (auch ein Stück weit) verändere.

Grüße zurück in die Runde!

Mimi
 

sufnus

Mitglied
Hey, Ihr Lieben!
Vielen Dank schon einmal für die vielstimmigen und anregenden Einschätzungen! :)
Die Frage, ob Lyrik in ihrem eigentlichen Wesen eher ein Vortrags- bzw. Anhör-"Medium" ist oder doch eher ein im wesentlichen schriftliches Phänomen darstellt (oder irgendwas dazwischen), kann und soll hier natürlich nicht allgemeinverbindlich entschieden werden. Sehr wohl kann aber die "Mündlichkeit" bzw. "Schriftlichkeit", ein Aspekt sein, der viel über unsere jeweilige persönliche Haltung zur Lyrik aussagt. Diese persönlichen Zugangswege, im Sinne von "Lyrik ist für mich .... ", spiegeln sich jetzt auch, wie ich finde, sehr schön in den jeweiligen Antworten von Euch wieder.

Dabei hat es mich nicht verwundert, dass Du, lieber @klausKuckuck für Dich in hohem Maße einen sozusagen mündlichen Haupt-Zugangsweg, nämlich über den Vortrag von Lyrik, präferierst. Schließlich bist Du ja auch, wovon sich die geneigten Zuhörer leicht überzeugen können, ein begeisterter und begeisternder Rezitator von Lyrik. :)

Vergleichsweise überraschend (im ganz und gar positiven Sinn!) fand ich, dass auch Du, lieber @Patrick Schuler eine ganz besondere Wertschätzung für die primär der Mündlichkeit zuzuordnenden Elemente von Lyrik äußert und auf den beeindruckenden Vortrag des Dylan Thomas-Gedichts hinweist - eigentlich kann man da von Vortrag nicht mehr sprechen, da hier doch gewissermaßen schon die Grenze zum Gesang überschritten wird, was die Präsentation, vermutlich nicht nur für meine Ohren, durchaus fremdartig (im gar nicht abwertenden Sinne von: unvertraut) klingen lässt. Mich hat das bei Dir deshalb verwundert, Patrick, weil Deine Gedichte ja neben den unstrittigen klanglichen Qualitäten auch in hohem Maße von rein schriftlichen Elementen wie Einzügen oder Klammern leben, die sich nicht so ohne Weiteres vortragen lassen.

In diesem Sinne war ich auch auf anregende Weise überrascht von Deiner Einschätzung, lieber @James Blond , wonach Du im Gedicht doch stärker die Schriftlichkeit betonst. Mir leuchtet dabei Deine Argumentation sehr ein. Interessant ist aber in dem Zusammenhang, dass Du ja auch ein (wenn ich das richtig verstanden habe) intensiver "Vortragstäter" in Sachen Lyrik bist, also durchaus diesen Zugangsweg auch stark mitverfolgst und entsprechend ja auch starke klangliche Akzente in Deinen eigenen Gedichten setzt.

Ganz besonders stark wiedergefunden habe ich persönlich mich aber in Deiner Betrachtungsweise, liebe @Mimi - daher hat mich Dein Beitrag besonders berührt. Vor allem Deine Beschreibung des Gedichts als eines Ortes ist für mich eine der schönsten Definitionen des schriftlich verfassten Gedichts, die ich seit langem gelesen habe!

Alles in allem - wie schon oben angerissen - geht es bei der Diskussion aber ja nicht ums "Rechthaben", sondern um vielfältige Facetten von dem was ein gesprochenes, gesungenes oder gelesenes Gedicht sein kann.

Ich bin dabei zwar grundsätzlich, in meinem ganz persönlichen Haupt-Zugang zu Lyrik der "Schriftfraktion" näher als der "Vortragsfraktion" (die - nochmal sei es betont - hier aber wirklich nicht gegeneinander ausgespielt werden sollen :) ). Und obwohl ich also eher ein Schreibtischtäter und -leser bin als ein Vortragender oder Vortragslauschender, ist es doch so, dass eine meiner Initialzündungen (noch als Kind) der Lyrikbegeisterung die Stimme von Paul Celan war beim Vortragen seiner Gedichte war. Celan war ja auch ein überaus akzentuierter und "singender" Vortragender. Mich hat das beim ersten Anhören tief beeindruckt. :)

LG!

S.
 

James Blond

Mitglied
Ja, das sind allesamt sehr gute Beiträge. Mich freut es, diese persönlich gehaltenen Betrachtungen hier zu finden.

Allein die einleitende Frage, was den besonderen Klang eines Gedichtes ausmacht, ihn von anderen Klängen menschlicher Stimmen unterscheidet und als Gedicht charakterisiert, wurde noch nicht beantwortet.

Ein Lied ist ein gesungener Text. Ohne den Vortrag wüssten wir nichts von seiner Melodie, anhand der wir das Lied leicht wiedererkennen, selbst wenn es von anderen Interpreten in unterschiedlichen Stimmlagen vorgetragen oder vielleicht auch nur vorgesummt wird. Hier lässt sich leicht erkennen: Ohne den Vortrag geht dem Lied etwas entscheidendes verloren, das sich allein aus seinem Text nicht wiederherstellen lässt. Daher: Ein Liedtext ohne Vortrag bleibt eine Arbeitsanweisung für ein Lied, ist aber selbst noch nicht das Lied.

Bei Gedichten gilt dieses nicht. Im Gegenteil: Derselbe Text kann sehr unterschiedlich vorgetragen werden, die Gestaltung obliegt dabei ganz dem Sprecher, von dem ein gehöriges Maß an eigener Interpretation erwartet wird, ganz ungeachtet der Tatsache, wie gelungen seine Interpretation ausfällt. Klaus Kinski, der sich auch mit den Villon-Gedichten einen Namen gemacht hat, würde wohl nicht in den Singsang eines Dylan Thomas verfallen, hätte er dessen Gedichte vertont.

Sicher geben Sprache, Worte, Metrum und Reim einiges an Melodie, Betonung, Rhythmus vor, dennoch bleibt der Vortrag eines Gedichtes eine eigene kreative Leistung. Insofern kann auch der Klang eines Gedichtes dabei ganz verschiedene Formen annehmen, je nachdem, ob seine Verse zärtlich dahingesäuselt oder in die Welt hinausgebrüllt werden, ob sie eher zäh herausfließen oder sich im Tempo zu überschlagen scheinen. Die Vortragstraditionen der altgriechischen Lyra-Lyrik sind für uns schon lange nicht mehr bindend.

Den spezifischen Klang eines Gedichtes gibt es somit gar nicht mehr: Ein Gedicht kann so viele diverse Klänge haben, wie sich Vortragende seiner annehmen. Und umgekehrt scheinen bei einem Vortragenden recht unterschiedliche Gedichte einen ähnlichen Klang anzunehmen ... ;)

Gruß

JB
 

seefeldmaren

Mitglied
Sicher geben Sprache, Worte, Metrum und Reim einiges an Melodie, Betonung, Rhythmus vor, dennoch bleibt der Vortrag eines Gedichtes eine eigene kreative Leistung. Insofern kann auch der Klang eines Gedichtes dabei ganz verschiedene Formen annehmen, je nachdem, ob seine Verse zärtlich dahingesäuselt oder in die Welt hinausgebrüllt werden, ob sie eher zäh herausfließen oder sich im Tempo zu überschlagen scheinen. Die Vortragstraditionen der altgriechischen Lyra-Lyrik sind für uns schon lange nicht mehr bindend.
Ergänzend dazu funktioniert unser Gehirn aber nicht ganz so schlicht, Stichwort: Bouba-Kiki-Effekt. https://royalsocietypublishing.org/doi/10.1098/rstb.2020.0390

Was ich sagen möchte: Strukturen in unserem Gehirn nehmen unter anderem offene Vokale unterschiedlich wahr (mit Weite und Größe). In Bezug - und abgeleitet vom Bouba-Kiki-Effekt - gab es eine weitere Arbeit (Achtung Halbwissen) von Edward Sapir, die Personen danach befragte, wie man "mil" und "mal" differenziert räumlich wahrnehme. Heraus dabei kam, dass "mil" klein und leicht wahrgenommen wurde und "mal" größer und schwerer. https://pure.mpg.de/rest/items/item_2381142/component/file_2381141/content und Stéphane Mallarmé erzählte vom "Raum der Stille", ich weiß aber gerade nicht, ob sich dies explizit auf dem wahrgenommenen Sprachraum bezieht. Schande über mein Haupt.

Der primäre auditive Kortex ist beim stillen Lesen eines Gedichtes genauso aktiv wie auch beim auditiven Sprachverständnis. Das muss demnach bedeuten, dass Gedichte selbst unvertont eine klangliche Figur aufrufen, die nicht beliebig durch den Vortrag determiniert wird. https://psycnet.apa.org/record/2013-44959-008

Ich denke, dass es Menschen gibt, die mehr Musik ins Wort legen können als andere. Vielleicht hängt dies mit unseren beiden Gehirnhälften zusammen. Je nach Dominanz oder gar Gleichschaltung. Ich gehöre auch zu jenen, die Lyrik mehr auf dem Papier genießen können als gesprochen. Bei mir hängt das damit zusammen, dass ich in einem privaten Raum mehr Intimität mit dem Papier und mehr Raum habe. Wenn ich auf Lesungen bin, habe ich oft massive Probleme und fühle mich von der Lyrik abgekapselt. Mein Kurzzeitgedächtnis ist allerdings auch nicht das Beste (Vergleiche fehlen mir ohnehin).

Maren
 

klausKuckuck

Mitglied
Zur Richtigstellung ein kurzes Nachwort, lieber sufnus:

Du schreibst: «Schließlich bist Du (KK) ja auch … ein begeisterter und begeisternder Rezitator von Lyrik.» – Nein. Gerade das bin ich nicht. Der Rezitator, wie ich ihn unzählige Male erlebt habe, ist dem Tönen und den Tönen verfallen (und dieses Tönen ist kinderleicht herzustellen). Ein Gedicht im wörtlichen Sinne «vorzutragen», vor die Zuhörenden zu tragen und aus sich wirken zu lassen, das ist ungleich raffinierter und bedarf der Fähigkeit des Hinhörens, Hineinhörenkönnens. Wenn du den hunderttausendmal heruntergeklapperten Panther Rilkes so vor einem Publikum entstehen lassen kannst, dass es ihn erlebt wie zum ersten Mal, dann solltest du mit einem Rilke-Programm auf Tournee gehen.


Vom Rezitator

Der Rezitator ist ein Mann der Töne,
Die er auf Vorrat hält wie Marinade;
Indem er mariniert, entsteht Gedröhne,
Und so verwandelt sich das leicht erdachte Schöne
Ins unverdaulich töneschwere Fade.


Gruß KK
 
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petrasmiles

Mitglied
Liebe Diskutant*innen,

da hat Sufnus ja ein wunderbares Fass aufgemacht!

Ich glaube, wir sind uns einig, dass das Niveau von Gedichten eine Kulturleistung ist, die ohne erschwingliches bedrucktes Papier nicht hätte stattfiinden können.
Und dass Sprache nicht von Klang zu trennen ist, das hat ja auch Maren noch einmal verdeutlicht, scheint mir auch unbestritten.

Aber seit den Ursprüngen von Chören, Minne- und Bänkelsängern hat sich doch jede Menge getan und eine Verschiebung vom Gesang oder Klang hin zum Inhalt hat stattgefunden. Mir will der Klang erscheinen wie das Kleid eines Gedichtes, das gelungen sein kann, und doch nicht jedem gefallen muss.

Ich finde das schöne deutsche Wort Gedicht da sehr aufschlussreich, weil es den Hinweis gibt, dass etwas 'verdichtet' wird. Als würde ein Dichter ein paar Instantperlen aufschreiben und der Leser (!) begießt sie mit seinem Inneren und es entsteht ein nachträglich gemeinsames Erleben, oder eine Verunsicherung, Unverständnis oder Ablehnung. Dieser Dialog ist weit entfernt von einer klanglichen Darbietung, da empfinde ich Mimis 'Ort' als sehr zutreffend.

Und diese intime Begegnung ist bei einem öffentlichen Vortrag gar nicht herstellbar, weil es primär eine soziale Situation ist.
Nun muss ich mich outen, dass mir meine Augen näher sind als meine Ohren, ich würde keinen Gedichtvortrag im Internet suchen, ich mag auch keine Hörbücher. Erst, was meine Augen mir 'vortragen', dockt an der richtigen Stelle an und setzt den Dialog in Gang.

Wenn meine Ohren Futter bekommen sollen, dann ist es die Musik selbst, die auch von den Worten im Libretto mitgetragen werden darf, aber da geht es dann nicht um die Worte.

Abgesehen davon stimme ich mit jedem geäußerten Aspekt überein, auch, wenn das keinen Sinn machen sollte - so weit sind wir hier nicht weg voneinander.
Ich gehöre (leider?) nicht der Generation an, die noch Gedichte auswendig lernen musste. Irgendwann in meinen Zwanzigern fand ich das schade und wollte das nachholen, aber in der Jugend ist man doch recht sprunghaft und darum ist es bei dem einen geblieben. Ich kann es noch und sage es mir auch noch ab und zu auf - in lyrischen Momenten - und habe (glaube ich) auch eine winzige Änderung vorgenommen - wegen des Klangs.

Liebe Grüße
Petra
 

trivial

Mitglied
Ich weiß nicht, ob ich damit noch am Thema dran bin, aber das ging mir durch den Kopf, nachdem ich über eure Beiträge nachdachte.

Gibt es ein Gedicht jenseits des geschriebenen oder gesprochenen Wortes?
Gibt es Gedanken, die übersetzt, decodiert, in eine übertragbare und teilbare Form gebracht werden müssen – oder entsteht das Gedicht erst im Schreiben und erfährt seinen Ich-Bezug im Nachgang?
Muss etwas im Schreiben begriffen sein, damit es geschrieben werden kann?

Muss etwas im Klingen begriffen sein, damit es erklingen kann?

Und ist es damit schon im Klang, bevor es verklanglicht wird – ohne dass es laut wird?

Sobald das Gedicht nach außen tritt – laut wird, gelesen wird, performt –,
wird es konkret, hörbar, teilbar.
Aber es wird auch limitiert: Es muss Form annehmen, es wird festgelegt.
Eine Limitierung, die im dialektischen Sinne neue Horizonte eröffnet –
und die Verklanglichung:
eine weitere Limitierung, eine weitere Öffnung,
eine weitere Ebene, ein weiterer Verlust des Universalen.
 

sufnus

Mitglied
Hey, Ihr Lieben!

Da habt Ihr ja wirklich eine Fülle von wirklich spannenden Gedanken beigesteuert!
Ich habe, durchaus in der Hoffnung auf vielstimmige und multiperspektivische Beiträge, im Eröffnungsthread kein sehr eng umgrenztes "Thema" abgesteckt und die vielen, ganz unterschiedliche Aspekte beleuchtenden Beiträge haben meine Hoffnung bei weitem übererfüllt. :)
Um ein paar Dinge herauszugreifen, die mir jetzt ad hoc aufgefallen sind:

- Den Bouba-Kiki-Effekt kannte ich z. B. noch nicht, ganz lieben Dank @seefeldmaren für diesen Hinweis. Insgesamt zeigen Deine Links wie vielfältig das geschriebene Wort auch an andere sensorische Zentren anknüpft - insbesondere eben auch an die Hörzentren. Ein wirklich "stilles" Gedicht kann es daher in einer aufgeschriebenen Form nicht wirklich geben, außer das leere Blatt oder der leere Bildschirm "zählen" bereits als Gedicht (das wäre aber selbst für mich eine etwas zu weitherzige Definition von Gedicht).
Was ich persönlich durchaus als Gedicht gelten lasse, sind die Werke der konkreten oder optischen Poesie (von den Barocken Figurgedichten bis zu Eugen Gomringer und darüber hinaus). Hier gibt es ein paar Beispiele: Rautenberg
Offensichtlich kann man konkrete oder optische Gedichte nicht im klassischen Sinn "vortragen", sie sind also einer der Pole der Lyrik, der sich sehr weit von der Mündlichkeit entfernt hat (es gibt noch andere "Sorten" Lyrik, die sehr weit von einer mündlichen Rezeption entfernt sind). Und natürlich kann man, wenn man den Aspekt der Vortragbarkeit betont (bis hin zu einer sprachlichen "Musikalität" im weitesten Sinn) auch die konkrete Poesie von der Definition des Gedichts ausschließen (ich persönlich mache das nicht). Ganz unabhängig davon, sind aber selbst die extrem stark abstrahierten visuellen Gedichte, z. B. das "Fragezeichen-Gedicht" von Arne Rautenberg in obigem Link, nicht völlig "still" - selbst da gibt es noch ein leichtes Flackern im auditorischen Cortex und außerdem vermutlich eine kommentierende innere Stimme (die vielleicht "cool!" murmelt oder auch "was'n das für'n Quatsch?!") :) Ich denke aber, solche visuelle Poesie ist ein möglicher Versuch für das was Du, lieber @trivial umreißt: Ein Gedicht jenseits des Wortes, sowohl jenseits seiner "Klanglichkeit" als auch jenseits seiner üblichen "Informations-Übermittelungsfunktion" (zumindest wenn ich da Deinen Punkt erfasst habe (?) ).

-Und @klausKuckuck bzgl. Deiner Präzisierung zum "rezitieren" vs. "vortragen" von Gedichten: Da bin ich nicht 100% sicher, ob ich Dich richtig verstehe; vermutlich rührt ein Teil meines Verständnisproblems daher, dass für mich "rezitieren" erstmal ein neutraler und sehr weit gespannter Begriff ist, der alles umfasst vom relaxten Vorlesen seitens Mama oder Papa für die lieben Kinder (ggf. damit die endlich einschlafen ;) ), über die Wasserglas-Lesung von (häufig wenig Lese-begabten) Autor*innen bis zur (das arme Gedicht u. U. völlig unkenntlich machenden) multimedialen Bühnenshow; und auch wenn ich parenthetisch hier Aspekte der Rezitation andeute, bei denen das Nahebringen eines Gedichts womöglich nicht so sehr im Vordergrund steht oder gar völlig misslingt, kann ich mir auch sehr gewinnbringende und "werktreue" (?) Rezitationen vorstellen.
Mir scheint, dass Du, indem Du den "Vortrag" von der "Rezitation" abgrenzt, betonen möchtest, dass es beim akustischen Matchmaking zwischen Gedicht und Publikum durch den "Interpreten" ein zu Wenig aber auch ein zu Viel an "künstlerischer Gestaltung" geben kann. Dir scheint als Ideal ein deutlicher und verdeutlichender, aber nicht zu manierierter (marinierter) Vortragsstil vorzuschweben. Kinski wäre Dir dann vermutlich zu viel "Eigen-Input", der das Gedicht eher in den Schatten stellt. Darüber kann man sicher diskutieren (wobei ich die Einspielungen der Kinski-Villon-Zech-Gedichte schon irgendwie auf ihre schräge Weise cool finde). :)
An diesem Punkt würde ich dann wieder auf den obigen Hinweis von @James Blond einbiegen, dass die ganz unterschiedlichen Herangehensweisen an einen Gedicht-Vortrag eine große Chance darstellt. Ich zitiere Dich hier nochmal (ohne die Zitatfunktion zu bemühen, um den Text jetzt nicht zu sehr auseinander zu reißen: "Ein Gedicht kann so viele diverse Klänge haben, wie sich Vortragende seiner annehmen.". An diesem Satz gefällt mir besonders, dass er eigentlich sowohl ein Lob der Schriftlichkeit darstellt (in einem geschriebenen Gedicht stecken unzählbar viele mögliche "Vortragsweisen", Schriftlichkeit als Voraussetzung für "Buntheit" von Gedichten) als auch für das Zugehörbringen von Lyrik (durch möglichst unterschiedliche Einzelstimmen), wodurch diese Buntheit, dann sozusagen manifest wird. :)

LG!

S.
 

sufnus

Mitglied
Hey Petra!
Dir antworte ich nochmal gesondert, weil ich mich erstens für die Komplimente-Blumen freundlich knicksend bedanken möchte *freundlichen Knicks mach!* und mir zweitens Deine Betrachtung nochmal den auch sehr spannenden literaturgeschichtlichen Aspekt anreißt (in dem man sich natürlich völlig verlieren könnte, was uns hoffentlich nicht blüht).

Ich glaube, wir sind uns einig, dass das Niveau von Gedichten eine Kulturleistung ist, die ohne erschwingliches bedrucktes Papier nicht hätte stattfiinden können.
Und dass Sprache nicht von Klang zu trennen ist, das hat ja auch Maren noch einmal verdeutlicht, scheint mir auch unbestritten.

Aber seit den Ursprüngen von Chören, Minne- und Bänkelsängern hat sich doch jede Menge getan und eine Verschiebung vom Gesang oder Klang hin zum Inhalt hat stattgefunden. Mir will der Klang erscheinen wie das Kleid eines Gedichtes, das gelungen sein kann, und doch nicht jedem gefallen muss.
Das mit dem erschwinglichen Schreibmaterial ist ja wirklich ein kritischer Punkt, weil noch in der frühen Neuzeit das auch Lumpen als einer wesentlichen Zutat gefertigte Papier (also vor der Zeit des Holzschliffpapiers) zwar sehr schön haltbar aber aufgrund eines Mangels an Lumpen auch ganz schön teuer war. Die heutigen Zeiten billiger Paperback-Bändchen mit Gedichten (Reclam lässt grüßen) haben sicher zu einer (potentiellen) Demokratisierung von Literatur im Allgemeinen und damit auch Lyrik im Besonderen beigetragen. Ironischerweise ist damit einhergehend die Lyrik dann doch wieder in nicht ganz kleinen Bereichen ins Elitäre abgedriftet - so laufen manchmal "technische" Entwicklungen wie billiges Papier und niedrige Druckkosten und kulturelle Trends gerade in entgegen gesetzte Richtungen. Wobei: Wenn wir auf die ganz aktuelle Jetztzeit schauen, erleben wir, dass digitale Lyrik (Instapoetry & Co.) und dargebotene Lyrik (Poetry Slams etc.) wieder einen kleinen Zuwachs an Popularität erbracht haben. Und kurioserweise finden dann manche Poet*innen aus den virtuellen Räumen wieder zurück in die Buchform, aktuell wohl prominentetes und populärstes Beispiel Rupi Kaur, die sogar - neben anderen primären Online-Dichter*innen - für eine Repopulierung der arg geschrumpften Lyrik-Bücherregale in Buchhandlungen gesorgt hat.

Was Deine Überlegungen zum Spannungsfeld von Gesang/Klang und Inhalt angeht, glaube ich aber, dass eigentlich auch schon die Lyrik der alten Römer, jedenfalls ab dem klassischen Zeitalter, viel stärker "schriftbezogen" war, als das oft dargestellt wird. Klar, da gab es die sehr komplexen "Rezepturen" zur Gewichtung von Silbenquantitäten und zum Vortragsstil, aber so sehr das Gedicht am Ende womöglich auf eine mündliche Performance hin geschrieben (sic!) wurde: Nach meiner Meinung nahm die Brücke zwischen Schriftlichkeit und Mündlichkeit bei den Römern ab Catull ihren Ausgangspunkt eher vom schriftlichen Ufer und führte von da aus wieder zum (altehrwürdigen) mündlichen Ufer hinüber und nicht umgekehrt. Oder allgemeiner: Nur weil ein einzelnes Gedicht (oder eine ganze Gattung von Gedichten) sehr starke "akustische" Berührungspunkte aufweist, muss es noch lange nicht ein primär "akustisches" Ereignis sein, dass quasi nur sekundär schriftlich festgehalten wurde.

Hier kann sicher der eigentliche Anstifter dieses Threads, unser Hansz, @mondnein , nochmal etwas beitragen (und mir auch gerne vehement widersprechen! :) ).

LG!

S.
 

Patrick Schuler

Foren-Redakteur
Teammitglied
Muss etwas im Schreiben begriffen sein, damit es geschrieben werden kann?
...
Muss etwas im Klingen begriffen sein, damit es erklingen kann?
...
Und ist es damit schon im Klang, bevor es verklanglicht wird – ohne dass es laut wird?
...
Was ich persönlich durchaus als Gedicht gelten lasse, sind die Werke der konkreten oder optischen Poesie (von den Barocken Figurgedichten bis zu Eugen Gomringer und darüber hinaus)
Da sprecht ihr beiden, trivial und sufnus, einen Punkt an, der mich etwas schüchtern macht, bei Diskussionen wie dieser.

1873 hat Friedrich Nietzsche, noch als Altphilologe maskiert, einen Essay geschrieben, mit dem Titel: "Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne"

Thema des Essays ist: wie Ver-sprachlichtes Denken Wahrheiten schafft.

"Was ist also Wahrheit? Ein bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen, kurz eine Summe von menschlichen Relationen, die, poetisch und rhetorisch gesteigert, übertragen, geschmückt wurden und die nach langem Gebrauch einem Volke fest, kanonisch und verbindlich dünken: die Wahrheiten sind Illusionen, von denen man vergessen hat, daß sie welche sind, Metaphern, die abgenutzt und sinnlich kraftlos geworden sind, Münzen, die ihr Bild verloren haben und nun als Metall, nicht mehr als Münzen, in Betracht kommen.“
Diese "Metaphern" und "Anthropomorphismen" sind genauer die Tatsache, dass es in der Welt nichts gleiches gibt und das wir dennoch alles nach Ähnlichkeiten in Kategorien packen und per Sprache eine Identität aus dieser kategorialen Zuordnung zurechschustern. Wir sagen: Das sind Schuhe, Bäume, Blumen, Blätter, Straßen oder eben Gedichte. In Wirklichkeit sind das alles Einzelphänome, von denen man "vergessen" hat, dass sie welche sind.

Der Gedanke hat dann gerade im Aufkommen der Neurowissenschaften an Fahrt gewonnen, die zu zeigen vermögen, dass das gar kein so stark sprachgebundener Prozess ist, sondern, dass das Gehirn dauernd so arbeitet, weil es sich sonst nicht in der Welt orientieren könnte.

Leuchtet ja auch ein. Würden wir alles als das Einzelphänomen wahrnehmen, das es ist und nicht Identitäten erschaffen, indem wir Unterschiede annullieren und Gemeinsamkeiten über das Brett kämmen oder so, würden wir uns zb. nie sicher fühlen, weil wir alles in unserer Umwelt einer Einzelüberprüfung unterziehen müssten.

Warum schreibe ich das? Weil die Frage nach dem was ein Gedicht ist/braucht/soll/kann/usw. häufig etwas zu erklären versucht, dass so -als tieferes Phänomen- gar nicht da ist. Wir suchen irgendwie immer nach dem Wesen der Dinge, aber meistens ist da keins.

Ein Gedicht ist ein Text, der gelesen, gesprochen, gegrunzt, gesungen, an die Wand projiziert, bei einem satanischen Ritual in Mayonnaise geschrieben oder in Blindenschrift an einen Laternenpfahl gedruckt, genügend Ähnlichkeiten mit Texten aufweist, die in der Geschichte dieser "Textgattung" oft genug Gedicht genannt wurden.

Und dieses Nennen, ist selber schon Teil des Problems. Narrationen (im ganz weiten Sinn) sind Identitätsbildungen (im ganz weiten Sinn). Wird etwas etwas genannt, wird es dazu. ... auch bei Menschen.

Was Gedichte nun gemeinsam haben, ist Sprache. Ungewöhnliche Sprache. Ist die Sprache nicht ungewöhnlich, sondern alltäglich, also richtig alltäglich - denn die meisten Gedichte, die in Alltagssprache geschrieben sind, sind es ja nicht wirklich.
Niemand spricht exakt so. Geht schon meistens nicht, weil die Erzählstimme fehlt - bleibt als Identitäts-stiftendes Element zb. nur noch die Versdarstellung oder einfach das Phänomen, dass der Text als Gedicht ausgegeben wird, indem er bei einer Lesung als solcher vorgetragen wird. Für sehr viele Menschen wird das ab diesem Punkt eng mit dem Begriff Gedicht.

Ungewöhliche Sprache hat die Eigenschaft, vor-allem wenn sie ästhetisch ist, anders auf das Gehirn zu wirken als Alltagssprache.

Gereimten Sätzen glaubt man eher. So funktionieren viele Sprichwörter. Man hat mal unterschiedlichen Menschengruppen ein Konvolut an gereimten Sprichwörtern vorgelegt und anderen Gruppen denselben Inhalt ungereimt. Jetzt sollten die Probanden die Sätze nach ihrem Wahrheitsgehalt bewerten. Alle Sätze schnitten in gereimter Form signifikant besser ab.

Das gilt aber für ästhetische und manchmal auch ungewöhliche Sprache im Allgemeinen. Deswegen glauben wir Gedichten so leicht und machen ein Mysterium draus.

Mit anderen Worten: wie führt man eine Diskussion, wenn man bei dem Thema nicht vergessen darf, dass unser Primatenhirn da -vielleicht- einfach Dinge zur Vereinfachung in einen Topf wirft und mystifiziert, die am Ende -vielleicht- nicht weiter zusammenhängen, als durch Ähnlichkeit? Und mehr ist da nicht ...
 

James Blond

Mitglied
Vortragen oder Rezitieren?
Ich bin mir nicht sicher, ob klausKuckucks Unterscheidung eines theatralischen Rezitierens von einem rein sprachlichen Vortragen allgemein geteilt wird. Ich sehe da - wie auch sufnus - eher ein kontinuierliches Spektrum künstlerischer Ausgestaltung, das durch die beiden Begriffe nur unzureichend getrennt wird.

Der "Bouba-Kiki" Effekt war mir unter dem Namen "Maluma-Takete" Effekt geläufig, unter dem er in den 20ern des letzten Jahrhunderts veröffentlicht wurde. Er zeigt sprachenübergreifend, dass unser Form- und Klanggefühl synästetisch auf einander wirken. Man könnte noch einen kleinen Schritt weiter gehen und aufzeigen, welche Laute stets einen spezifischen emotionalen Gehalt verströmen.

Aber muss man die Laute auch wirklich hören um die Wirkung zu erzielen? Reicht dazu nicht auch ein stilles Lesen?

Was sich wie ein "laut-und-still" Paradoxon liest, ist vielleicht doch keines. Ich möchte dazu noch einmal die angeborene Gehörlosigkeit ansprechen, die zur Folge hat, dass die Schriftsprache dann nur sehr schwer erlernbar ist. Etwa 50% der Gehörlosen sind Analphabeten, 90 % haben nur ein rudimentäres Verständnis. [Quelle: https://www.leseforum.ch/sysModules...en-Gehoerlose-was-sie-lesen-und-schreiben.pdf]

Demgegenüber gelingt das Erlernen von Sprache spielerisch über die Phonetik. Wir können uns fast mühelos Lautfolgen merken und sie im passenden Moment wieder abrufen. Unser intuitives Sprachgefühl basiert auf gespeicherten Klanginformationen. Auch beim Erlernen einer lautbasierten Schrift wird darauf zurückgegriffen, indem man sich zunächst laut vorlesend den Inhalt verdeutlicht. Das sog. stille Lesen ist davon nur einen Übungsschritt entfernt: Die aktive phonetische Umsetzung wird zunächst durch ein passives "inneres Flüstern" ersetzt, später führt das Wortbild direkt zum Inhalt.
Der primäre auditive Kortex ist beim stillen Lesen eines Gedichtes genauso aktiv wie auch beim auditiven Sprachverständnis. Das muss demnach bedeuten, dass Gedichte selbst unvertont eine klangliche Figur aufrufen, die nicht beliebig durch den Vortrag determiniert wird.
Der Klang entfällt also nie.
Doch im Gegensatz zum geäußerten Vortrag ist der Klang eines Gedichts beim stillen Lesen nicht mehr der Schlüssel zum inhaltlichen Verständnis. Er läuft im Hintergrund mit, wobei der Inhalt bereits aus den vorliegenden visuellen Informationen erschlossen wird. Das geschieht bei Geübten oft schneller, sicherer und vollständiger als die Entschlüsselung über die akustischen Signale von Sprache.

Fazit: Gedichte ohne Klang gibt es nicht, weil von allen Texten ein sprachlicher Klang ausgeht, der auch beim stillen Lesen wahrgenommen werden kann. Ob er auch beachtet wird oder unbemerkt im Hintergrund mitschwingt, hängt von der Aufmerksamkeit und Erfahrung des Lesers ab. Wer Lyrik liest, sollte sich diesen Aspekt nicht entgehen lassen.

Grüße
JB
 

klausKuckuck

Mitglied
Lieber JB,

was soll denn das sein: ein rein sprachliches Vortragen? Hast du dir den Prometheus mit Burghard Claußner angehört? Trägt der Gute rein sprachlich vor oder versetzt er sich in die Prometheus-Figur und kann in dieser Rolle den Dialog mit dem Göttervater glaubhaft für die Zuhörenden entstehen lassen? Sehen wir die Sache doch einmal realistisch (am Gegebenen orientiert): In der Leselupe wirst du kaum ein Mitglied finden, das mit einem geheimnisvollen Gedichttext rein sprachlich überzeugend umgehen kann, so dass aus dem Papiertext fürs Publikum ein Bild, eine Figur, eine Atmosphäre ensteht. Sowas kann der Burghard Claußner, der Henry Hübchen, der Ulrich Turkur, kann die Iris Berben, konnten die Hannelore Hoger und die Maria Wimmer (zum Beispiel). Und ganz bestimmt konnte es nicht der Klaus Kinski, dessen Villon-Interpretationen zum Totlachen miserabel ausfielen, ich weiß, wovon ich rede, ich habe ihn life in Düsseldorf bei der Exekution der Villon-Balladen erlebt (das berühmte «Ich bin so wild nach deinem Erdbeermund» wurde in seiner Darstellung zur Rezitationsverstümmelungstortur – doch das ist lange her; die Rezitatoren und ihre Manirismen gibt es aber leider noch immer, die sind unausrottbar). Ja, ich stimme zu: Es kann ein ungeheuer bereicherndes Erlebnis sein, ein Gedicht zu lesen und wieder zu lesen, und es in den Erinnerungen ein Leben lang mitlaufen zu lassen. Das Gedicht kann aber zum unerklärbaren Wunder werden, wenn eine Stimme es rezitationsbefreit und zum Mitgestalten überredend vor ein Publikum trägt.

Grüße an die Runde, KK.
 
Zuletzt bearbeitet:

petrasmiles

Mitglied
Jetzt hast Du mich neugierig gemacht, KK, auf den Prometheus. Die von Dir genannten Schauspieler sind für mich erste Garde - wenn ich nur meine, dass dies eine eigene Kunstform ist - nah dran, aber nicht identisch - auf jeden Fall spannende Erwägungen hier!

LG Petra
 



 
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