MarleneGeselle
Mitglied
Vor der Schicht
Neben dem Tor kann ich, wenn ich die Augen anstrenge, den dunklen Umriss eines Menschen erkennen, der dort an die Wand gelehnt sitzt oder sich schlafend zusammengerollt hat. Nur für einen kleinen Moment stutze ich. Mann oder Frau?
Jeden Morgen, auf dem Weg zur Frühschicht, gehe ich durch das Tor. Dass hier jemand übernachtet, einer von denen, wie man so unschön sagt, kommt im Sommer öfter vor. Aber heute, heute ist Anfang März.
Es hat gefroren über Nacht. Und es weht noch immer ein kalter Wind: durch die Straße, durch das Tor, über mein Gesicht. Wirklich nicht das richtige Wetter, um hier einen Mittsommernachtsschlaf abzuhalten.
Meine Füße haben mich zu der Gestalt am Boden hingetragen. Ein alter, abgewetzter Armeeparka, schmuddelige Wollmütze, ebensolcher Schal. Habe ich wirklich was anderes erwartet? Soll ich ihn/sie einfach ansprechen?
"Hallo, Sie da! Da haben Sie sich aber einen miesen Platz zum Schlafen ausgesucht." Meine vorlaute Klappe hat die Regie übernommen. Die Hände rütteln an der Schulter, folgen meinem Mundwerk nur nach.
"Scheiße, der ist tot!" Käsehaut, filziger Bart. Beides überzogen mit einer feinen Schicht Raureif. Das Gesicht hart und kalt wie Putenfleisch aus der Tiefkühltruhe. Spüre, wie ich anfange zu zittern.
Die Hände greifen von alleine nach dem Handy; wählen automatisch die 110. Die freundliche, routinemäßige Stimme einer Polizistin lotst mich durch den Fragebogen. Alles klar!
Zwei Minuten später ist der Streifenwagen da. Der Leichenwagen kommt gleich hinterher.
Die Polizeibeamten taxieren mich mit einem einzigen Blick. Gucken kurz nach dem Obdachlosen, der noch immer da liegt. Der ältere der Beiden winkt den Männern mit der Zinkwanne. Sehe zum ersten Mal wie das gemacht wird - wenn einer abgeholt wird.
Die beiden Polizisten winken mir zum Abschied kurz zu. Alles erledigt, meine Daten haben sie; ein Routinefall.
Die Männer mit der Zinkwanne sind jetzt auch fertig. Rein in den Wagen, Türe zu. Ich sehe den beiden Autos nach, wie sie durch das Tor fahren. Stille.
Schrecke zusammen, als ich die Turmuhr von St. Johann höre. Muss los, zur Frühschicht. Stecke die Visitenkarte der Polizisten ein, renne ein wenig. Keine Lust, drinnen am Band blöde Fragen zu beantworten. Keinen Bock auf Abzug, wenn die Minuten fehlen, damit die Produktionsmenge, damit der Mengenzuschlag am Monatsende, wenn ich zu spät komme. Nächste Woche ist Spätschicht. Will den Alten nicht fragen, ob ich tauschen kann. Hat schon rummgezickt, als die Magda krank wurde. Kann ja in der übernächsten Woche mal zum Friedhof hin und gucken gehen.
Neben dem Tor kann ich, wenn ich die Augen anstrenge, den dunklen Umriss eines Menschen erkennen, der dort an die Wand gelehnt sitzt oder sich schlafend zusammengerollt hat. Nur für einen kleinen Moment stutze ich. Mann oder Frau?
Jeden Morgen, auf dem Weg zur Frühschicht, gehe ich durch das Tor. Dass hier jemand übernachtet, einer von denen, wie man so unschön sagt, kommt im Sommer öfter vor. Aber heute, heute ist Anfang März.
Es hat gefroren über Nacht. Und es weht noch immer ein kalter Wind: durch die Straße, durch das Tor, über mein Gesicht. Wirklich nicht das richtige Wetter, um hier einen Mittsommernachtsschlaf abzuhalten.
Meine Füße haben mich zu der Gestalt am Boden hingetragen. Ein alter, abgewetzter Armeeparka, schmuddelige Wollmütze, ebensolcher Schal. Habe ich wirklich was anderes erwartet? Soll ich ihn/sie einfach ansprechen?
"Hallo, Sie da! Da haben Sie sich aber einen miesen Platz zum Schlafen ausgesucht." Meine vorlaute Klappe hat die Regie übernommen. Die Hände rütteln an der Schulter, folgen meinem Mundwerk nur nach.
"Scheiße, der ist tot!" Käsehaut, filziger Bart. Beides überzogen mit einer feinen Schicht Raureif. Das Gesicht hart und kalt wie Putenfleisch aus der Tiefkühltruhe. Spüre, wie ich anfange zu zittern.
Die Hände greifen von alleine nach dem Handy; wählen automatisch die 110. Die freundliche, routinemäßige Stimme einer Polizistin lotst mich durch den Fragebogen. Alles klar!
Zwei Minuten später ist der Streifenwagen da. Der Leichenwagen kommt gleich hinterher.
Die Polizeibeamten taxieren mich mit einem einzigen Blick. Gucken kurz nach dem Obdachlosen, der noch immer da liegt. Der ältere der Beiden winkt den Männern mit der Zinkwanne. Sehe zum ersten Mal wie das gemacht wird - wenn einer abgeholt wird.
Die beiden Polizisten winken mir zum Abschied kurz zu. Alles erledigt, meine Daten haben sie; ein Routinefall.
Die Männer mit der Zinkwanne sind jetzt auch fertig. Rein in den Wagen, Türe zu. Ich sehe den beiden Autos nach, wie sie durch das Tor fahren. Stille.
Schrecke zusammen, als ich die Turmuhr von St. Johann höre. Muss los, zur Frühschicht. Stecke die Visitenkarte der Polizisten ein, renne ein wenig. Keine Lust, drinnen am Band blöde Fragen zu beantworten. Keinen Bock auf Abzug, wenn die Minuten fehlen, damit die Produktionsmenge, damit der Mengenzuschlag am Monatsende, wenn ich zu spät komme. Nächste Woche ist Spätschicht. Will den Alten nicht fragen, ob ich tauschen kann. Hat schon rummgezickt, als die Magda krank wurde. Kann ja in der übernächsten Woche mal zum Friedhof hin und gucken gehen.