vor Freude

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Tula

Mitglied
vor Freude

Der Baum ist dekoriert. Ich will mich freuen.
So schlürf ich meinen Apfeltee mit Zimt
in Rum verrührt, damit die Seele glimmt
und um den Abend etwas aufzubläuen.

Ein Blick hinaus verinnerlicht: Es schneit
in meinem Kopf, zunächst in ephemeren
Fragmenten, die im Fall das Licht durchqueren
und dann versinken, in der Dunkelheit.

Es werden mehr. Jetzt größer, immer dichter.
Sie klumpen sich zu Bildern: eine Hand,
geöffnet, vor gesenktem Haupt, am Rand
des Zuges unbeteiligter Gesichter.

Ich sehe eine schöne Frau. Sie läuft
mit Style durch die Geschäfte der Passage,
vorbei an der verschrumpelten Visage
des Manns, der sich am Imbissstand besäuft.

Ich seh ein Kind mit Hunger in den Augen;
ein anderes will dieses Jahr ein Pferd;
den Herren auf der Bank, der sich beschwert,
weil seine Dividendenfonds nichts taugen.

Erst spät hört dieser Bilderschneesturm auf.
Ich grüble nach, was wohl der Menschheit bliebe,
gäb's nicht das große Fest der Nächstenliebe.
Ich weiß es nicht, doch trink ich schon mal drauf.
 
Zuletzt bearbeitet:
Gefällt mir gut.

Nur gefällt mir nicht das in Anführungsstrichen gesetzte „aufzubläuen“, dh die Anführungszeichen selbst wollen nicht so recht in ein Gedicht passen, wie ich finde.
Man meint doch die Worte, die man ver-dichtet, ganz direkt; somit ist diese akzentuierte Meta-Ebene irgendwie fehl am Platz.
Mir scheint, die betreffende Zeile gerät auch ein wenig aus dem Takt. Funktioniert vielleicht ohne das Wort „etwas“ etwas besser.


Aber ja, was bliebe uns ohne Nächstenliebe und die zugehörigen Feste?
Was macht das Menschsein aus?
Die großen Fragen.

Zwar wird gern so getan, als hätten wir den Zenit unserer Entwicklung schon erreicht und unentwegt klopft man sich in unserer Moderne auf die Schulter, ergeht sich in hohlen Phrasen von „Frieden“, „Gerechtigkeit“ usw. – der Zustand der Welt ist aber ein deutlich anderer und verschlechtert sich zusehends. Nichts Neues, aber brandaktuell.
Hinter den Schlagworten der Verantwortlichen stecken am Ende ja doch immer nur Geldgedanken und Profitinteressen und ein Casino-Kapitalismus, von dem keiner so recht weiß, wie er eigentlich funktioniert. Dann wundern sich die „Herren auf der Bank“, warum „Dividendenfonds“ nichts taugen, während Kinderaugen hungrig bleiben.

Zum Thema hätte ich 2020 gern den Film „Oeconomia“ im Kino gesehen, aber ist mir Corona dazwischengekommen.
Die Regisseurin Losmann stellt in ihrem neuesten Werk vor allem Fragen: Woher kommt Geld? Woher kommen Gewinne? Wie funktioniert diese fragile Finanzwirtschaft?
Im Trailer sieht man die geschniegelten Machermenschen der Kamera gegenübersitzen, verblüfft und überfordert von den einfachsten Fragen. Sie schweigen betreten oder ringen vergeblich nach Worten. Es scheint keine schlüssige Erklärung zu geben, wie das große Ganze läuft, sobald man in die Tiefe fragt.
Worauf das gewichtige System Börse aufbaut sind trügerische Scheinbilder, die nur so lange wirken wie sie von allen hingenommen werden.

In echt laufen Wirtschaftskrieg, Krieg und all das Ausbeutungs-Gedöns aus dem Ruder und verlaufen sich ineinander.
Nicht zu vergessen die individuelle Gratwanderung zwischen teilhabendem Konsumismus und erfolgreicher Vermarktung à la „gestylter Frau in der Geschäftspassage“ und auf der anderen Seite die diesbezüglich Abgehängten, Kaputten und Verbrauchten, die im Abseits stehen (sich besaufender Mann mit verschrumpelter Visage am Imbissstand). Ständig droht ein Absturz.

Dass man sich demgegenüber gern in Weihnachtliches und ins Private flüchtet, zeugt wohl von einer großen Sehnsucht und der Ahnung, dass der Mensch auch besser sein könnte – wenn man ihn ließe.
Da braucht es schon mal den tröstenden Schluck, ein bisschen blaue Hoffnung, also: Prost!


Und liebe Grüße,
Erdling
 

Ludwig W

Mitglied
Servus Tula,

ich schließe mich dem Kollegen Erdling uneingeschränkt an, was die Anführungszeichen anbelangt.
Du nimmst damit Deiner durchaus gelungenen Wortschöpfung "aufzubläuen" komplett die Durchschlagskraft.

Das "etwas" braucht's hingegen schon.

Unterm Strich - trotz der Anführungszeichen - 5 Punkte.

Herzliche Grüße
Ludwig
 

Tula

Mitglied
Hallo Dichter Erdling
Danke für deine so ausführlichen Gedanken und die zwei Vorschläge. D.h. nicht nur mit Bezug auf die erste Strophe, da hast du sicher Recht. Die Anführungszeichen nehme ich gleich raus, der V4 dürfte in den Hebungen stimmen, aber sprachlich geht es sicher eleganter, ich werde darüber noch nachdenken müssen.
Der zweite Vorschlag betrifft den Film, den ich nicht kenne. Ich habe mir gerade den Trailer angeschaut, der ist recht vielversprechend. Dann gibt es noch die Erzählung zum Thema Geld selbst, schon vor langer Zeit geschrieben (ein Australier?), ich muss das nochmal nachgoogeln. Ja, wie entsteht das Geld? - Sollte ja eigentlich proportional zu einem erwirtschafteten Wert stehen, ist es aber nicht bzw. nur zum Teil. Wenn ich an Bitcoin denke, dreht sich bei mir alles ... um! Die Alchemisten des Mittelalters drehen sich auch um, vor Neid in ihren Gräbern. Geld aus NICHTS! bzw. Energie, denn die braucht es und nicht wenig, sinnlos verschleuderte selbstverständlich.

Genau genommen ging es mir um das alte Thema, was Nächstenliebe eigentlich beinhaltet. Fast zwangsläufig wenden wir uns beim Fest nur den wirklich Nächsten zu, was sicher sehr engherzig ist.

Als "Erdling" denke ich an meine Erzählung auf der Pierre Montagnard web-Seite, der Auftrag. Geht eigentlich um dasselbe Thema, Plätzchen inbegriffen.

LG
Tula
 
G

Gelöschtes Mitglied 23450

Gast
Vielleicht ... leichter aufzubläuen
Und richtig: Keine Anführung! Aber wohl nicht so bedeutend, denn es bleibt ein formidables Gedicht!

Rudi
 

Tula

Mitglied
Hallo charlotte
Danke dir. Leider kommt da die Nachricht, dass der Film nur für Deutschland, Österreich und die Schweiz verfügbar ist :confused:
Irgendwann im Urlaub ...

LG
Tula
 
G

Gelöschtes Mitglied 22830

Gast
ach, schade. und da gibt es keine möglichkeit?
ich frage mal rum, ob es eine umgehungsstraße gibt ;) .
 

Tula

Mitglied
Hallo Isbahan
Eine Mütze kann ich bei meiner fast-Glatze immer gut gebrauchen :cool:
Danke dir und LG mit vorweihnachtlichen Wünschen
Tula
 
G

Gelöschtes Mitglied 16867

Gast
Die christliche Ideologie ist nicht zuletzt so erfolgreich, da sie ewiges Leben verspricht und die tätige Nächstenliebe auf Jesus abwälzt.

Aber einem alten Seewolf muss man das nicht flüstern.

Dir ein gutes 2022!
 

Tula

Mitglied
Hallo Aron
Ich überlegte gerade, ob und wie Karl Marx Weihnachten beging. Ich vermute, Engels schickte ihm (seinem Nächsten) ein paar Scheine :)

Aber so genau weiß das ein Seemann nicht. Er winkt den Möwen zu, seinen bereits im Ewigen schwingenden Brüdern und prostet ihnen zu. Gut, dass sie zwar gern herumschreien, aber dennoch nichts von seinem Rum wollen, den trinkt er lieber allein und für sich :cool:

Genug gesonnen, auch dir ein Frohes Fest und gutes, inspiriertes 2022!

LG
Tula
 

Tula

Mitglied
Hallo mimi
À saúde do coração!

Nun komme ich nicht umhin, Pessoa zu zitieren:

«Natal… Na província neva.
Nos lares aconchegados,
Um sentimento conserva
Os sentimentos passados.

Coração oposto ao mundo,
Como a família é verdade!
Meu pensamento é profundo,
Estou só, e sonho saudade.

E como é branca de graça
A paisagem que não sei,
Vista de trás da vidraça
Do lar que nunca terei!»


LG
Tula
 



 
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