klausKuckuck
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Vor sich die Nachwelt
In einem Moment des Erschreckens über sich selbst hat Michel Löweritz das Amt für Straßen und Verkehr betreten. Dort sitzt er seit einer halben Stunde auf einem Korbstuhl im Wartezimmer.
«Herr Löweritz, bitte!» Eine Blusenschöne hat ihn aufgerufen. Michel Löweritz betritt Zimmer 7a.
«Herr Löweritz, bitte setzen Sie sich! Sie haben uns geschrieben … Sie sind Musiker …»
Michel unterbricht: «War!»
«… waren es, aha, ja …»
«Ich habe den städtischen Männerchor geleitet.» Mit Nachdruck setzt Michel hinzu: «lebenslang!»
«Sie schreiben uns» – die Blusenschöne hat ihrer Ablage einen Brief entnommen – «Sie schreiben: Sehr geehrte Damen und Herren, mein Name ist Michel Löweritz, ehemals Musiker, heute Ruheständler und gelegentlich Trauerredner. Ich wohne in der Keulengasse 13, ich bin 83 Jahre alt, und ich werde demnächst sterben, ein konkretes Datum kann ich Ihnen aber noch nicht nennen.» Die Blusenschöne blickt auf und nickt verstehend. «Der Grund», schreiben Sie, «warum ich mich bei Ihnen melde, ist nun der: Ich möchte Sie bitten, nach meinem Tode eine Straße nach mir zu benennen. Ich denke da zum Beispiel an den Michel-Löweritz-Weg statt der bisher so genannten Hundsrottbiege, aber auch die derzeitig noch so firmierende Kanonenallee käme in Frage, die sich als Michel-Löweritz-Promenade (Chaussee ginge auch), künftig sehr viel klangvoller in das Konzert der Straßen einfügen würde als es Kanonenallee oder Hundsrottbiege jetzt tun.» Die Blusenschöne sieht auf und nickt zustimmend. «Sollten Sie, sehr geehrte Damen und Herren, meinem Begehren allerdings nicht nachkommen können oder wollen, werde ich mich gezwungen sehen», schreiben Sie, «meinem Angedenken als Kulturschaffender dieser Stadt eine ungleich erschreckendere Wendung zu geben …» Die Blusenschöne blickt auf: «Herr Löweritz, was wollen Sie uns damit andeuten, wenn ich fragen darf?»
Michel hat auf einmal das Gefühl, dass er sich den Gang zum Amt für Straßen und Verkehr hätte sparen können. Er erhebt sich von seinem Stuhl. «Der Tod sitzt mir im Nacken, junge Frau!» murmelt er. «Schon heute könnte er zuschlagen, um mal einen Tag herauszugreifen. Aber auch, weiß der Teufel, auch ohne Angabe eines genaueren Datums könnte es zum Beispiel nächste Woche passieren, was mir, ehrlich gesagt, sehr viel lieber wäre.»
«Verständlich, Herr Löweritz, aber so etwas dauert!»
«Sie meinen …?»
«Dass es dauert! Ehe der Stadtrat sich dazu durchgerungen hat, Ihnen einen Platz in der Galerie der Namensgeber unseres Straßennetzes anzuweisen, müssten Sie erst einmal einen Antrag stellen. Besser einen Eilantrag, dann dauert es nicht so lange.»
«Wie lange?»
«Ein paar Wochen, ein paar Monate, das wissen die Götter und der Stadtrat!» Die Blusenschöne lacht hell auf über den Scherz, den sie gerade gemacht hat.
«Soviel Zeit habe ich nicht, junge Frau, begreifen Sie das?»
«Herr Löweritz, nein …»
«Nein? Aha. Dann vergessen Sie das Straßenschild … wie heißen Sie?»
«Ellen Rötlich, Herr Löweritz, der Name steht an der Tür!»
«Klingt doch verheißungsvoll: Statt der Wummergasse wird man Ihnen eines Tages mit dem Ellen-Rötlich-Boulevard ein Denkmal setzen, vorausgesetzt, Sie reichen ihren Antrag dazu rechtzeitig ein!»
Michel Löweritz verlässt ohne ein weiteres Wort Zimmer 7a.
Erreicht über den Gang die Treppe nach unten.
«Sie hätte mich aufhalten können!» sagt er leise zu sich selbst. «Sie hätte erkennen können, dass ein Kulturschaffender meines Kalibers einen Anspruch auf Nachruhm hat!» sagt er.
Dann hat Michel das Amt für Straßen und Verkehr hinter sich gelassen und rennt mit geschlossenen Augen auf einen heranfahrenden Bus zu.