Vorbei (Sonett)

James Blond

Mitglied
Wir hofften immer, dass sie nach uns käme,
nun kam die Sintflut wirklich über Nacht
und hat seither uns um den Schlaf gebracht,
dass man Naturgewalten notfalls zähme.

Verspült sind letzter Zweifler Spott und Häme,
doch hilft es nichts, wenn späte Reue nagt –
man sieht nur zu, wie jetzt die Zukunft tagt,
die keinen fragt, ob er sich endlich schäme.

Die Erde stöhnt nicht auf, die Sonne lacht,
der Engel stürzt ins bodenlose Grab
mit einem unerhörten Herzensschrei.

Man hatte anfangs etwas falsch gemacht.
Der Himmel schließt die Fensterläden ab
und hofft, die Schöpfung ginge bald vorbei.
 
Sonst sehr geschätzter James Blond,

ob es sachdienlich ist, die Thematik auf diese Weise zu behandeln, da habe ich so meine Zweifel. Ich verlinke hier mal einen Text des Geographen Dr. Karl August Seel (1933 - 2018), wohl aus dem Jahr 1983. Die Ausarbeitung scheint seit längerem so auf der Landkreis-Website zu stehen. Man kann daraus u.a. die Bedingungen für die häufigen extremen Hochwasserlagen an der Ahr entnehmen. Ferner sehen wir, dass es dort 1804 und 1910 ähnliche Katastrophen gegeben hat, mit Opferzahlen im hohen zweistelligen Bereich.


Persönlich habe ich keine Zweifel, dass die allgemeinen Klimastatistiken über längere Zeiträume und für ganze Länder und Kontinente Anlass zu ernster Besorgnis geben und Politik und Gesellschaft erhebliche Verhaltensänderungen nahelegen. Und genau deshalb stört es mich, wenn ein einzelnes Ereignis falsch eingeordnet wird und man sich dabei auch noch eines hohen, schrillen Tons bedient. Das ist kontraproduktiv, es führt zu ebenso unsachlichen, hysterischen Gegenpositionen à la Trump.

Um auch noch auf die Form einzugehen: Sintflut und Reue sind quasi-religiöse Formeln, mit denen historisch vor allem Unterwerfung gefordert und Macht abgesichert wurde. Ich finde sie heute ebenso klischeehaft wie vollkommen abgenutzt.

Freundliche Grüße
Arno Abendschön
 
G

Gelöschtes Mitglied 15780

Gast
Das Sonett, lieber James,

ist wunderbar. Und übertroffen wird es noch von Arnos informativem Kommentar, der sich insbesondere der sachkundlichen inhaltlichen Einordnung der Hochwasser widmet. Ich bin begeistert von diesem Kommentar. Und gewiß wäre noch einiges im Vergleich mit den Hochwässern z.B. in Tschechien und in den Alpentälern zuzufügen, und über die besonderen Tief-Akkumulationen, die dort möglich sind.

Ich muß gerade abbrechen (Frau ruft zum Essen), will aber (später) noch auf die beiden Terzette des Sonetts eingehen.

grusz, hansz
 

James Blond

Mitglied
Ich wünsche dir ganz schnell noch guten Appetit, hansz und danke auch dir, Arno für deinen Hinweis.

Ich muss auch gestehen, dass der Zufall bei der Entstehung eine große Rolle gespielt hat. So findet heute - was ich am Morgen noch nicht wusste - in Hamburg eine Konferenz über Extremwetterlagen statt, in der vor der zunehmenden Häufigkeit solcher Ereignisse (mal wieder) gewarnt wird. Und auch deren Unvermeidlichkeit betont wird.

Und auch dieses Sonett schaut weiter in die Zukunft als auf die jüngsten Ereignisse, die lediglich den Anlass gaben, es noch einmal zu überarbeiten, denn es ist aus einem älteren Text hervorgegangen, der dann - zufällig - von der Realität eingeholt wurde, als ich in den TV-Berichten zu den Überschwemmungen einen Engel aus Stein sah, der von den Fluten mitgerissen, anschließend von der Feuerwehr aus dem Bachbett geborgen, nun als ein Zeichen der Hoffnung betrachtet wurde.

Sintflut und Reue sind religiöse Formeln, zu denen Menschen angesichts gewaltiger Katastrophen auch heutzutage noch Zuflucht nehmen. Das Sonett greift diese Wendung ins Religiöse auf, aber nicht affirmativ, sondern um die Hoffnungslosigkeit im Widerspruch noch zu betonen. Denn nach wie vor bestimmt das 'nach uns die Sintflut'-Denken das konkrete Handeln des Menschen, selbst noch im Anblick realer Wassermassen.

"Tiefer als in Gottes Hand kann ich nicht fallen" lautet ein oft zitierter Bibelvers ( Psalm 139 ), hier aber stürzt der Engel ins bodenlose Grab, wie die von den Wassermassen fortgerissene Skulptur.

Ich denke aber nicht, dass ich trotz aller Aussichtslosigkeit einen schrillen oder hysterischen Ton angeschlagen habe. Meines Erachtens kommt das Sonett trotz seines Pessimismus sehr nachdenklich daher.

Gern geantwortet.

Viele Grüße
JB
 

James Blond

Mitglied
Nachtrag:
ob es sachdienlich ist, die Thematik auf diese Weise zu behandeln, da habe ich so meine Zweifel.
Wenn man mich dazu verpflichten wollte, Themen nur "sachdienlich" zu behandeln, dann würde ich bestenfalls Gebrauchsanleitungen verfassen. ;)

Ich weiß ja nicht einmal, welcher Sache ich dienen soll, geschweige denn, womit ich ihr diene. Und will es als Dichter auch nicht wissen.
Die einzige Sache, der ich mit Sicherheit dienen will, ist meine Sprache. :cool:

Grüße
JB
 
Lieber James Blond, das ist schon in Ordnung, wie du dein Recht auf individuelle sprachlich-lyrische Produktion grundsätzlich verteidigst. Ich fand nur die hier verwendeten Bilder und Begriffe eher konventionell.

Und für den Leser spielt es schon eine Rolle, ob er bei einem aktuellen, vieldiskutierten Thema den Zugriff als sachdienlich empfindet. Auch ein veröffentlichtes Gedicht will in solchem Zusammenhang ja wirken - oder?

Freundliche Grüße
Arno Abendschön
 

James Blond

Mitglied
Und für den Leser spielt es schon eine Rolle, ob er bei einem aktuellen, vieldiskutierten Thema den Zugriff als sachdienlich empfindet. Auch ein veröffentlichtes Gedicht will in solchem Zusammenhang ja wirken - oder?
Lieber Arno,
eigentlich nicht.

Es ist richtig, dass in diesem Sonett konventionelle Inhalte in einer konventionellen Form präsentiert werden. Allerdings in einer recht unkonventionellen, eigenwilligen Zusammenstellung, die einer 'sachdienlichen' Auseinandersetzung mit dem Thema 'Öko-Katastrophen' nicht unbedingt förderlich ist.

Aber geht es überhaupt um dieses Thema?

Ich habe die jüngsten Überschwemmungen in D zwar zum Anlass genommen, aber nicht, um allein diese zu thematisieren. Der Titel heißt 'Vorbei' und der Text beschreibt das gesch(w)undene Gottvertrauen und unsere Angst vor der Zukunft. Ob das 'sachdienlich' ist, möchte ich bezweifeln, aber es dient mir, um meinen Blick auf die Welt zu verdeutlichen. Mehr will ich nicht, mehr brauche ich nicht.

Liebe Grüße
JB
 
Aber geht es überhaupt um dieses Thema?
Na ja, James Blond, du fängst mit der Sintflut an und weitest das dann zu einer apokalytischen Vision hoffnungsloser Endzeitstimmung aus. Das kommt mir von A - Z ausgesprochen modisch vor. Es geht nur einen Trippelschritt weiter als jene, die uns gerade auf so vielen Plakaten vor die Alternative stellen: Wir oder der Untergang.

Im Übrigen bleibt es unbefriedigend, wenn ein Autor sich an eine allgemeine rege aktuelle Diskussion anhängt - denn das hast du getan -, bei Lesers Nichtgefallen sich dann aber auf seine strikt autonome Kreativinsel zurückzieht. Entweder - oder.

Freundlichen Gruß
Arno Abendschön
 

James Blond

Mitglied
Lieber Arno,

ich denke nicht, dass ich mich an etwas rangehängt habe und auch nicht, dass Endzeitstimmungen nur zur Zeit Konjunktur haben. Wenn ich das Plakat entworfen hätte, so stünde dort: "Wir sind der Untergang." ;)
Ich denke auch nicht, dass ich mich damit zurückziehe, ich wehre mich nur gegen den Anspruch, hier einen zweckdienlichen 'Sachtext zu aktuellen Fragen der Gegenwart' abliefern zu müssen.

Du argumentierst hier im Lyrischen gegen die Lyrik, Arno.

Liebe Grüße
JB
 

James Blond

Mitglied
Das ist schade, lieber Arno,

denn du störst ja gar nicht, sondern hilfst mir mit deinen Einwänden zu einer Rückbesinnung auf das Wesen der Lyrik.

Man hat sie ja oft als Elfenbeinturm geschmäht, dein Bild der Zitadelle irritiert mich allerdings: Eine Festung als letzter sicherer Rückzugsort der Soldaten vor feindlichen Truppen. Das soll sicher ironisch überspitzt meine Argumentation kommentieren, aber so hatte ich es gewiss nicht gemeint, denn ich führe hier keinen Krieg mit Worten.

Ich denke nur, dass das Wesen der Lyrik im Kern etwas anderes beinhaltet als eine analytische, objektive Auseinandersetzung mit den Fragen der Zeit. Hier geht es um subjektives Erleben und die Möglichkeiten, es in einer adäquaten Sprache anderen so zu vermitteln, das es nicht nur verstanden, sondern auch nachfühlbar wird. Wenn dies gelingt, hat die Lyrik ihre Hauptaufgabe gelöst.

Das legitimiert auch die Konventionalität solcher Texte als guten Boden für Emotionen. Ich denke da z. B. an die barocken Sonette von Gryphius, aus denen noch heute die Verzweiflung über eine aus den Fugen geratende Welt spricht, ohne dass jedes Gräuel im Einzelnen aufgeführt wird. Konventionen helfen, die Wege der Gefühle zu öffnen.

Liebe Grüße
JB
 



 
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