Voyeur

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Gudrun

Mitglied
Ich bin kein Voyeur. Ich suche nicht nach sexueller Stimulation. Ich werde keine Lust empfinden. Und dennoch – jeden Abend lösche ich das Licht und setze mich im Dunkeln ans Fenster.
Ich beobachte das Haus von gegenüber. Nicht das Haus natürlich, diesen schmucklosen Betonbau, dem nur ein erleuchtetes Fenster einen Hauch von Wärme entlocken kann.
Auch die Menschen hinter den Fenstern sind nicht mein Hauptinteresse, ich interessiere mich für ihr Leben. Nicht die Augen sind mein Werkzeug, sondern meine Seele.
Heute entscheide ich mich für das Parterrefenster, schräg rechts unter meiner Position.
Die ahnungslosen Bewohner machen es mir leicht, die Vorhänge sind zurückgezogen, die Fenster weit geöffnet, um die aufgestaute Hitze des Tages gegen kühlende Abendluft einzutauschen. Es ist ein Blick ins Wohnzimmer. Der mir sichtbare Teil erzählt die Geschichte eines älteren Paares.
Beide sitzen auf einem Sofa, vor ihnen ein niedriger Tisch mit 2 Gläsern, einer Schüssel Knabbergebäck und einer Fernbedienung. Schweigsam widmen sie sich einer Fernsehshow.
Ich kenne die beiden nicht – eine Grundbedingung für mein Vorhaben.
Ich schließe die Augen, lösche meine Gedanken, mein Leben... und betrete den fremden Raum, schlüpfe in die männliche Person und lebe sein Leben.
Ich bin Du, Franz!

Ich fühle mich ausgelaugt von meiner Arbeit in der Fabrik und aufgebläht vom viel zu späten Abendessen.
Ein Blick zu Brigitte, die mir spätabends Schweinsbraten serviert, um meine Arbeitskraft zu erhalten. Sie sieht mich nicht, lächelt den feschen Moderator im Fernsehen an.
Ich greife zu den Chips und spüle mit einem kräftigen Schluck vom bereits lauwarmen Bier.
Wie ich dieses Sofa hasse. Beige, durchgesessen unter meinem Übergewicht und mit gestickten Pölstern verschönt. Glaubt zumindest Brigitte, unsere Vorstellungen von Schönheit sind gegenläufig. Ich brösle auf den Teppich, ausgesucht passend zum Sofa, beige, was sonst. Zum Glück ist er nicht von Brigitte bestickt worden.
Soll ich die Brösel aufheben? Wozu?
Im Fernsehen setzt lautes Gelächter ein. Hab ich wohl verpasst, die Pointe des Abends.
Ich greife zur Fernbedienung, doch der Blick meiner Frau hält mich zurück. Sie liebt diese Sendungen, bewundert diese Fernsehmenschen, hört ihnen zu und wünscht sich, dass auch ihr jemand zuhören möge. Doch ich bin müde.
Ich stehe auf und verlasse den Raum, meine Hausschuhe sind stehengeblieben, für den kurzen Weg. Sie Spülung rinnt schon wieder, ich werde sie morgen reparieren.
Am Weg zurück hole ich ein frisches Bier aus dem Kühlschrank. Ich freue mich darauf.
Lasse mich aufs Sofa fallen und drücke Brigitte einen Kuss auf die Wange. Sie lächelt mich an und sagt etwas, ich höre sie nicht, ich verstehe sie nicht – das ist sie gewohnt.
Wir sind ein glückliches Paar, wir streiten nie, wir ertragen uns ohne Klagen.
Ob das Glück früher anders ausgesehen hat, als wir jung waren und Träume hatten? Hatten wir Träume? Was ist daraus geworden? Ein stilles Glück am beigen Sofa.
Es wird kühl, ich stehe auf und schließe das Fenster. Brigitte kommt nach und zieht die Vorhänge zu.

Ein wenig Wehmut schwingt mit, als ich die beiden verlasse.
Das blaue Flimmern des Bildschirms begleitet mich zurück in mein eigenes Leben.
Wer werde ich morgen sein?
Ich ziehe meine Hose hoch....nein, erschrecken Sie nicht, nur ein Spaß..........ich bin kein Voyeur.
 
Hallo Gudrun,

da ist dir eine Superidee für die Geschichte eingefallen:
[QUOTE="Gudrun, post: 796393, member: 21527"
Ich schließe die Augen, lösche meine Gedanken, mein Leben... und betrete den fremden Raum, schlüpfe in die männliche Person und
[/QUOTE]

.... wirst zu dieser. Auch noch richtig gut geschrieben. Top!

LG SilberneDelfine
 

Gudrun

Mitglied
SilberneDelfine - ich danke dir, so viel Lob ist mir richtig peinlich, aber ich freue mich unglaublich!
 

Gudrun

Mitglied
Danke Franke! Weiß nicht, warum ich so oft über Tippfehler drüber lese. Werd mich zukünftig... ja was? Hab noch kein wirkungsvolles Mittel gefundenn, aber ich werde mich bemühen.
 
G

Gelöschtes Mitglied 14616

Gast
Das gefällt mir sehr gut. Auf kleinem Raum das pure Leben. Hier wird nichts erzählt, sondern "erlebt". Man ist als Leser sofort drin, wenn einem diese Situation vielleicht nicht unbedingt angenehm ist.

LG
Cellist
 



 
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