Wacholderismus

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ackermann

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Wacholder stand im Garten. Mit der einen Hand stützte er sich auf einen überdimensionalen Regenschirm, den er seit einiger Zeit immer mit sich führte, mit der anderen Hand kratzte er sich abwechselnd am oberen Oberschenkel und im Nacken. Er hatte die Krätze. Ideologische Krätze, wie er es nannte. Er duschte dreimal täglich, doch es half nichts. Sobald er aus dem Haus ging, legte sich ein schmieriger Film auf seine Haut. Love is in the Air. Von wegen, dachte Wacholder, Ideologie is in the Air. Everywhere.

Sorgenvoll schweifte Wacholders Blick durch seinen Garten: Rote Erdbeeren, rote Himbeeren, rote Johannisbeeren. Und die Stachelbeeren – rotgrün. In der Ecke schwarze Brombeeren, davor ein Topf mit Blaubeeren. Und von Nachbars Garten hingen Zweige mit schwarzbraunen Haselnüssen herüber. Und der Rhabarber … Furchtbar, dachte Wacholder, furchtbar.
Litt er unter Verfolgungswahn? Vor Monaten hatte er rund um sein Grundstück Tafeln mit der Aufschrift „Ideologiefreie Zone“ aufgestellt. Natürlich half es nichts, ein rein symbolischer Akt.

Plötzlich hörte er hinter seinem Rücken ein bedrohliches Sirren, das schnell lauter wurde. Mit einer fließenden Bewegung, die jedem Kung-Fu-Kämpfer zur Ehre gereicht hätte, drehte er sich halb um seine Achse und spannte gleichzeitig den Regenschirm auf. Gerade noch rechtzeitig. Ein Schwarm Ideologie-Stechmücken flog in Keilformation auf ihn zu und prallte auf den straff gespannten, mit einer Spezialbeschichtung versehenen Stoff des Regenschirmes - und verpuffte. Puff, puff, puff. Typisch, dachte Wacholder, ganz typisch. Ideologiemücken waren nicht in der Lage, den einmal eingeschlagenen Kurs zu korrigieren. Stur folgten sie ihrem antrainierten Programm.

Aus den Augenwinkeln verfolgte er das seltsame Treiben eines Zitronenfalters, der ihn umkreiste und sich gleichzeitig in die Höhe schraubte. Auch du, mein Freund Brutus?, dachte Wacholder. Immer höher schraubte sich der Zitronenfalter. Dann, genau über seinem Kopf, stürzte er sich aus circa 10 Metern Höhe wie ein Kamikazeflieger, wie ein Sturzkampfbomber, senkrecht in die Tiefe. Das Ziel des Falters war klar. Doch Wacholder hatte keine Eile.
Auch der Zitronenfalter, wahrscheinlich eine genmanipulierte Spezialzüchtung aus dem Ideologielabor des Dr. Mabuse, war nicht in der Lage, den einmal eingeschlagenen Kurs zu korrigieren. So trat Wacholder einfach einen Schritt zur Seite und sah zu, wie der Falter auf den Boden knallte. Sorry, dachte Wacholder, und setzte seinen Schuh auf das zappelnde Tierchen. Es roch nach Gas. Ideologiegas, aus den Labors des Dr. Mabuse. Hätte der Falter ihn getroffen, wäre er sofort der aufgeprägten Ideologie verfallen.

Als er neulich unter dem Birnbaum stand, wie weiland Herr von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland, löste sich aus großer Höhe eine dicke, überschwere, rotgrüne Birne. Nur um Haaresbreite verfehlte sie seinen Kopf. Die Birne zerschellte auf dem Boden und aus dem Kernhaus quollen stinkende Würmer und Maden. Pfui Teufel. Wacholder war entsetzt, ja er war geradezu „verstört“. Er mochte gar nicht daran denken, was passiert wäre, hätte die Ideologie-Birne seinen Kopf getroffen. Wacholder hatte die Schnauze voll. Aus dem Gerätehaus holte er den Anti-Ideologie-Flammenwerfer, den er normalerweise zur Unkrautvernichtung verwendete, und verbrannte das Gewürm und die Überreste der Birne. Zurück blieb ein schwarzer, verkohlter Fleck auf dem Rasen.

Wacholder drehte sich um. Im Sekundentakt tropften reife Früchte vom Mirabellenbaum. Kaum hatten sie Kontakt mit der Wiese, zerflossen die Mirabellen zu einer klebrigen, stinkenden ideologiegetränkten Masse. Wehe dem, der dort ausrutschte und in den schmierigen Brei fiel. Er war verloren. Für immer und ewig.

So geht das nicht weiter, dachte Wacholder und runzelte die Stirn. Er erinnerte sich an den Andy. Damals, während der Lehrzeit, als sie mit dem Zug in die Firma fuhren … Immer wieder Montags erzählte Andy von den tollen Büchern, die er am Wochenende gelassen hatte. Immer ging es in diesen Büchern um Ideologien. Und je mehr der Andy, der mit seinen langen, glatten Haaren von hinten fast wie ein Mädchen aussah, las, umso blasser und verbohrter wurde er. Wacholder hatte irgendwann aufgehört, dem Andy zuzuhören. Es interessierte ihn einfach nicht, was irgendwelche Leute, die er nicht kannte und die scheinbar die Weisheit mit Löffeln gefressen hatten, da verzapften. ES INTERESSIERTE IHN NICHT!
Er, Wacholder, fuhr beim schönem Wetter lieber mit dem Fahrad an seinen Lieblingssee, legte sich ins Gras und meditierte ins Blaue. Das reichte ihm völlig. Mehr Ideologie brauchte er nicht.

Plötzlich wusste Wacholder, was er tun würde. Er würde sich übers Internet eine Destille für den Hausgebrauch besorgen. Er hatte sich bereits schlau gemacht, ein halber Liter Destillat war steuerfrei. Und war die Destille erst im Hause, würde er die Erdbeeren, Himbeeren, Johannisbeeren, Stachelbeeren, Brombeeren, Blaubeeren, Birnen, Mirabellen, Haselnüsse usw. einsammeln, und seine gesammelten Werke in einen Bottich schmeißen und zerstampfen.
Dann würde er die Masse gären lassen. Mindestens 2 Wochen, vielleicht länger. Und dann würde er die Destille anheizen und aus der vergorenen Masse ein Anti-Serum destillieren, ein Anti-Ideologie-Serum. Er wusste jetzt schon, es würde scheußlich schmecken. Aber es musste sein. Und dann, nach dem „Genuss“ dieses Anti-Serums würde er endlich immun sein gegen alle Ideologien dieser Welt. Endlich.
Vielleicht würde er sein Anti-Serum sogar auf den Markt „werfen“. Doch er verwarf den Gedanken sofort wieder. In Zeiten wie diesen hatte ein Anti-Ideologie-Serum keine Chance. Der Zug war bereits abgefahren und hatte den Bahnhof verlassen.

Wacholder runzelte die Stirn. Zusätzlich zum Anti-Serum würde er seine eigene Ideologie kreieren. Einen Namen hatte er schon. Er würde seine Ideologie „Wacholderismus“ nennen. Nur mit dem Inhalt seiner Ideologie tat er sich noch schwer. Aber instinktiv wusste er auch, dass er einen Fehler machte. Nein, er würde nicht noch eine Ideologie erfinden und sich damit auf eine Stufe stellen mit verbohrten, gedanklich unfreien Menschen, die mit ideologischen Scheuklappen herum liefen und nicht in der Lage waren, ihr Denken an die Realität anzupassen. Nein, das würde er nicht tun. Auf keinen Fall.

Wacholder legte sich in die Relaxliege unterm Apfelbaum. Seltsam, dachte er, der Apfelbaum hatte noch nie Probleme gemacht. Schon komisch. Doch kaum war Wacholder eingeschlafen, prasselten Dutzende Äpfel auf ihn nieder.

Und dann wachte Wacholder auf und rieb sich die Augen.
Er hatte alles nur geträumt.
Gottseidank.

Er nahm den Apfel, der in seinen Schoss gefallen war, und biss krachend hinein ...
 



 
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