Wär' ich ein Fischlein

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van Geoffrey

Mitglied
Wär' ich ein Fischlein

Wär' ich ein Fischlein
Im großen Ozean
Und verlöre mich ganz
In seinen schweigsamen Weiten –
Wie einsam wäre ich da.
Wenn der Ozean, stürmisch bewegt,
Oder schweigsam, wie sinnend,
Mich umschlösse wie ein unendlicher Raum,
Wie kostete da meine Seele
Mit Schaudern die Einsamkeit.
Einsamkeit – ich trinke aus diesem Kelch
Verderben und Gift - -
Und siehe: ich lebe.
Lasst mich schreiben mit blutigen Tränen
In den Staub, dass ich sterblich bin.
Für immer will ich mich verbergen
In einer Festung aus Staub.
 
Hallo Geoffrey,
ich kann mir nicht erklären, woher das „Fischlein“ im stürmisch bewegten Ozean den Staub nimmt, um mit blutigen Tränen etwas darin zu schreiben.
Zum Schluss verbirgt es sich noch in einer Festung aus Staub.
Ich sehe da einen gewaltigen Widerspruch. Oder habe ich etwas nicht begriffen.
Viele Grüße,
Marie-Luise
 

van Geoffrey

Mitglied
Erklärung

Mein Protagonist träumt davon, ein Fischlein im Ozean zu sein.
In diesem Bild stellt er eine Metapher zu seiner empfundenen Einsamkeit her.
Dann wechselt er zur realen Situation, die er auch metaphorisch beschreibt, und zwar als giftigen Becher. Du siehst, dass mein Protagonist von der wenn-Form in die Gegenwart wechselt:
"Wär' ich ein Fischlein...."
"Ich trinke aus diesem Kelch" (Wenn dieser Sprung in die Gegenwart nicht gemacht wäre, müßte es ja heißen: Ich tränke aus diesem Kelch...)
Der Staub ist also ganz gut mit dem wahren Protagonisten erklärbar, wie er wirklich ist: ein Landsäuger, ein Mensch, der von seinem Tagtraum zur emotional gefärbten Gegenwart zurückkehrt.
Der Staub ist nicht wörtlich zu nehmen, sondern als "Materie" aufzufassen.
Auch die blutigen Tränen sind eine Metapher und sollen für bohrenden Schmerz und vernichtende Trauer stehen.

Klar hast du recht: das Bild eines WEINENDEN Fisches, der seine blutigen Tränen in den Staub weint erschlägt jeden Sinn.
Das war nicht so gemeint, und ich denke, wenn man das genau liest, erkennt man den Sprung vom Tagtraum zur bitteren Realität.

Ich danke dir für die Kritik und die Auseinandersetzung mit dem Text.

LG,

Roman
 
Hallo Roman,
gut, dass du es mir erklärt hast.
Ich habe den Konjunktiv "wär ich ein... übersehen, doch vielleicht hättest du aber - nur meine Meinung - noch geschrieben:
Da ich kein Fischlein bin
kann ich nur mit blutigen Tränen
in den Staub schreiben oder so ähnlich.

Dass es Methaphern sind, ist mir klar.
Solche Gefühle kenne ich auch.

Ich grüße dich noch einmal,
Marie-Luise
 

juttavon

Mitglied
Ein klanglich und rhythmisch wunderschönes Gedicht! Das Bild von der "Festung aus Staub" finde ich gerade wegen seiner sinnlich wahrnehmbaren Widersprüchlichkeit sehr stimmig mit dem Thema Einsamkeit. - Ansonsten geht der Text haarscharf an die Grenze zum übertriebenen Pathos. - Herzlichen Gruß, Jutta
 

anbas

Mitglied
Hallo Roman,

ja, auch aus meiner Sicht schrammt dieses Gedicht doch sehr knapp am Pathos vorbei. Meine Sache ist es nicht so - aber die Geschmäcker sind zum Glück verschieden.

Vom reinen Handwerk her, könnte ich mir vorstellen, dass eine Überarbeitung der Gliederung des Textes, dem Gedicht gut tun könnte. Vorschlag:


Wär' ich ein Fischlein
Im großen Ozean
Und verlöre mich ganz
In seinen schweigsamen Weiten –
Wie einsam wäre ich da.
Wenn der Ozean, stürmisch bewegt,
Oder schweigsam, wie sinnend,
Mich umschlösse wie ein unendlicher Raum,
Wie kostete da meine Seele
Mit Schaudern die Einsamkeit.

Einsamkeit – ich trinke aus diesem Kelch
Verderben und Gift - -
Und siehe: ich lebe.

Lasst mich schreiben mit blutigen Tränen
In den Staub, dass ich sterblich bin.
Für immer will ich mich verbergen
In einer Festung aus Staub.
oder
Wär' ich ein Fischlein
Im großen Ozean
Und verlöre mich ganz
In seinen schweigsamen Weiten –
Wie einsam wäre ich da.
Wenn der Ozean, stürmisch bewegt,
Oder schweigsam, wie sinnend,
Mich umschlösse wie ein unendlicher Raum,
Wie kostete da meine Seele
Mit Schaudern die Einsamkeit.

Einsamkeit – ich trinke aus diesem Kelch
Verderben und Gift - -
Und siehe: ich lebe.

Lasst mich schreiben mit blutigen Tränen
In den Staub, dass ich sterblich bin.
Für immer will ich mich verbergen

In einer Festung aus Staub.
Wie gesagt, das sind Vorschläge - vielleicht ist ja etwas dabei, das Dir zusagt.

Liebe Grüße

Andreas
 

van Geoffrey

Mitglied
Hallo, Jutta!

Danke für Lob und Kritik.
Ich finde ja, dass eigentlich nur besonders befähigte Autoren öffentlich lesen sollten oder das einem Schauspieler überlassen sollten. Denn das Pathos kann recht wohl von der Art und Weise abhängen, wie man den Text spricht. (Es gibt unsagbar schlechte Beispiele im Internet, wie man etwa Hamlets großen Monolog besser nicht darbringen sollte.)
Sieh dir einmal einen deiner Lieblingsszenen aus einem Schauspiel in verschiedenen Versionen auf Youtube an. Du wirst neben gelungenen Versionen solche finden, die ganz unpassend und gewissermaßen tragisch misslungen wirken.
Aber gerne gebe ich zu, dass der Kelch voll Verderben und Gift stark pathetisch ist. Aber - wie gesagt - ich meine, dass der Tonfall und möglicherweise auch die Gestik der Sache Konturen verleihen würden.
Die "Festung aus Staub" übersetze ich als "mein Leib". Die Forumulierung kommt aus dem Zwischenbereich zwischen geplantem Effekt durch Wortwahl und unterbewußt gewähltem Bild. Die Erklärung einzelner Gedichtzeilen im Nachhinein ist dann eben ein Überdenken im Nachhinein.
Danke noch einmal für deinen Kommentar.

LG
 

van Geoffrey

Mitglied
Hallo, Jutta!

Es mag nicht immer sinnvoll sein, ein Gedicht im Detail zu erklären, aber hier liegt mir doch, dass jeder, der will, versteht, was ich meine.
Deshalb ist hier eine Ergänzung zum Wort "Staub". Das ist für mich das Wort, das für unbeseelte Materie, letztlich für den Kosmos steht.
Ohne den Verstand, den Geist, die Seele bleibt der Staub in meinem Weltbild unvollkommen und leer.
So könnte purer Materialismus bei mir als "an den Staub gebunden" gelesen werden.

LG,

Roman
 

van Geoffrey

Mitglied
Hallo, Andreas!

Deine Gliederung macht Sinn.
Der Text erscheint tatsächlich leichter lesbar, obwohl daran nichts verändert worden ist.
Ursprünglich als "Monolog aus einem Guss" gedacht erhält man drei locker verbundene Gedanken mit einem "Schlussakkord".
Vorläufig lasse ich das Gedicht so stehen - aus einem gewissen Respekt vor der ursprünglichen Intention und dem ursprünglichen "Schwung", mit dem ich das geschrieben habe.

Danke für deine Mühe!

Roman
 



 
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