Wahn

O

Oliver Uschmann

Gast
WAHN​

Es kam ihm vor, als wäre er schon seit Stunden auf der Autobahn. Die Straße wird bei Nacht zu einem Ort ohne Zeit und Raum. Die Orte am Straßenrand sieht man nicht, lediglich die verdreckten Ausfahrtschilder deuten daraufhin, daß es sie gibt.
Es könnte sie ebensogut nicht geben und man würde es nicht merken.
Die Stunden verschmelzen wie die Striche auf der Fahrbahn und erst am Ziel wird einem wieder bewußt, daß man irgendwo hin wollte.

Die Lüftung brummte betäubend und aus dem Radio flüsterten Stimmen und Musik verhalten in die stickige Luft des Wagens.
Er hatte für Momente wirklich mit Sekundenschlaf zu kämpfen, er war erschöpft,müde und ausgelaugt.
Die Messe selbst war keine große Anstrengung gewesen, aber das ständige Apres‘ an der Bar mit den Kollegen, die nahezu schlaflosen Nächte im Hotelzimmer – das schlauchte ganz schön, auch wenn er sich für seine Erschöpfung fast schämte.
Immer, wenn er einen LKW überholte, linste er aus den Augenwinkeln in die erleuchtete Kabine, sah große, haarige Männer in Unterhemden, die sich müde über’s Steuer beugten, dachte an ihr Gehalt, dachte an sein Gehalt und sagte zu sich, daß er so erschöpft nun doch nicht wäre.

Er zog gerade wieder an einem massigen Lastzug vorbei und blickte herüber.
Wieder war die Kabine erleuchtet und wieder drehte der Fahrer, der gerade noch resigniert geradeaus gestarrt hatte, nach einer Sekunde den Kopf und sah ihn an.
Erstaunlich. Seit er ein Kind war, hatte er dieses Spiel gespielt und war immer wieder verblüfft gewesen, wie schnell die Leute bemerken, daß sie angestarrt werden.
Freie Bahn. Er beschleunigte ein wenig mehr und ließ die Straße unter sich weggleiten. Nach einer Zeit wurde es ihm zu ungemütlich und er fuhr wieder auf der rechten Spur. Das Radio wisperte, die Lichter zogen vorbei.
Ruhe.
Monotonie.
Rauschen.
Plötzlich zuckte er zusammen, als dieses Gesicht links neben ihm in der Scheibe erschien. Der Wagen überholte ihn quälend langsam, fuhr neben ihm her und der Typ hinterm Steuer blickte kurz zu ihm herüber.
Es war nur ein Moment, aber der Schreck saß ihm so tief in den Gliedern, daß er abbremste und der andere Wagen davonschoß.
Sein Herz raste. Seine Hände waren feucht.
Dieser Blick...dieses Grinsen...
„Was soll das ? Bin ich verrückt, oder was ?“ Er rief sich zur Ordnung. Es war doch gar nichts passiert, oder ? Meine Güte, was für ein lächerlicher kleiner Anfall. Er drehte das Radio ein bißchen lauter und hörte sich die Nachrichten an.
Im Kopf formten sich Kommentare zum Gehörten. Er schüttelte zufrieden den Kopf über die Fehltritte, die er wieder in der Politik erkannte. Er beurteilte,er verurteilte, er setzte ein süffisantes Lächeln auf. Er war wieder Herr der Lage,sein Verstand fuhr wieder mit im Cockpit. Dieses winzige Gefühl, diese vage Ahnung einer kindlichen Angst vor etwas Undefinierbarem, hatte sich in tiefere
Regionen verabschiedet.

Der Motor brummte. Kraft. Durchzug. Er fühlte sich gut, was sollte das Ganze, worüber sollte er sich beschweren ? Hier saß er in einem großen, komfortablen Wagen. Er sah gut aus trotz der letzten Tage, er kam von einer Messe nach Hause zu seiner Frau. Es gab keine Probleme, keinen Beziehungsknatsch. Das Auto surrte, er war gut rasiert.

Es ging nicht um das Auto oder ob er trotz mageren zehn Stunden Schlafs in drei Tagen noch gut aus sah – es ging darum, was das alles bedeutete, wofür das alles stand.

Ein großes Schild kündigte eine große Raststätte an. Eines dieser monströsen Schilder mit vielen Symbolen – Toilette, Restaurant, Hotel, Tanken, Essen, Trinken, Schlafen, Duschen, Picknicken, Fernsehen, Telefonieren – ein wahrer Freizeitpark.
Er setzte den Blinker und fuhr auf den opulenten Parkplatz. Er erleichterte sich, schaufelte sich schönes, kühles Wasser ins Gesicht und betrat das Restaurant. Es war ein großer, runder Raum. In der Mitte eine runde Theke mit Salatbuffet und Obst, an den Seiten kantinenartige Theken mit den verschiedensten Gerichten und kleinen Straßen für die Tablette.
Er schnappte sich ein kühles Diät-Bier, mixte sich gut gelaunt einen Salatteller zusammen und bezahlte.
Er saß in einer dieser gemütlichen Sitzecken, knabberte ein frisches Salatblatt, machte der Raststätte stille Komplimente, trank einen Schluck Bier und verschluckte sich derart, daß er würgen mußte, um Atem rang und für einen Moment seine Augen hervortraten. Da saß er. Da drüben. Am anderen Ende des Raumes.
Dieses Gesicht. Diese Augen. Hatte er ihn gesehen ? Anscheinend nicht, er stocherte mit Gabel und Augen in seinem Teller herum, sein Kopf spiegelte sich in der dunklen Scheibe und er...hob den Blick, drehte den Kopf und sah für eine Sekunde zu ihm herüber...und grinste.

Er zuckte zusammen, spuckte seinen Salat aus, stieß im Aufstehen seine Flasche um und ging zügig hinaus, während das Bier den Tischrand erreichte und in zähen Fäden auf den Boden tropfte.
Seine Augen tasteten hektisch nach seinem Wagen, eine leichte Panik überfiehl ihn, als er ihn nicht sofort sah, aber dann lief er, rannte er darauf zu, hieb den Schlüssel in die Tür, stieg ein, riß die Handbremse los, zündete und fuhr los.
Der Schweiß saß ihm im Nacken. Er fuhr auf die Autobahn und als er gerade aufatmen wollte, sah er einen weiteren Wagen die Raststätte auffällig schnell verlassen.
Das mußte er sein, jetzt war er hinter ihm her.
Er trat aufs Gaspedal und zitterte. Die Autobahn war leer. Bis auf die zwei Lichter hinter ihm, die beständig näher kamen.
Er hatte das Gefühl, als liege der Typ hinten auf der Rückbank und würde ihn gleich im Nacken packen ; als könne er ewig fahren und er hätte ihn doch schon längst. Es war so dunkel.
Es war so unwirklich.
Wo sollte er hin, was sollte er denn jetzt machen ?
Die Lichter kamen näher. Er gab alles, die Tachonadel war mittlerweile bei 250 angekommen. Die Lichter entfernten sich langsam. Ein kurzer Gedanke an die Messe schoß ihm durch den Kopf. Sein Atem wurde etwas ruhiger.
Übersicht, das war es, was er brauchte. Er wurde kühn, verlangsamte etwas und ließ den Wagen ein bißchen herankommen.
Er starrte in den Rückspiegel und versuchte, das Nummernschild zu erkennen.
Er nahm all seinen Mut zusammen, verringerte den Vorsprung noch mehr...nun erkannte er es, seine Angst prägte ihm die Zeichen in Sekundenbruchteilen unauslöschbar ins Gehirn und er gab wieder Gas.

Diese Aktion gab ihm etwas Selbstbewußtsein. Er hatte sich dem Feind genähert.
Der Feind hatte eine Nummer, war eindeutig geworden.
Hinter ihm erschien ein LKW. Endlich wieder anderes Leben auf der Autobahn.
Das massige Gefährt gab ihm Rückendeckung. Es tat gut, einen Schutz zu haben.
Er wurde ruhiger. Plötzlich zog hinter dem LKW ein Wagen heraus und überholte. Er. Von wegen Schutz. Von wegen Ruhe. Was bildete er sich eigentlich ein ?
Es war noch nicht zuende. Er trat wieder aufs Gas, doch der andere Wagen näherte sich und wechselte wieder auf die rechte Spur. Er hatte ihn wieder im Nacken.
Die Minuten vergingen, nichts passierte.
Die zwei Lichter blieben beständig hinter ihm. Sie wurden nicht schneller, sie wurden nicht langsamer.

Sollte das nun so weiter gehen, ja ? Stellte er sich das so vor ? Saß er nun da in hinter seiner Windschutzscheibe und grinste ? Wollte er ihn solange trietzen, bis er nicht mehr konnte ?
Seine Angst verwandelte sich langsam. Sie wurde zur Wut. Zu einer beißenden Wut, die den Magen zusammenzieht. Zu einer Wut der Demütigung.
Das konnte er mit ihm nicht machen.
Er hatte Angst wegen diesem Typ.
Er war verschwitzt und stank.
Er geriet in Panik wegen diesem grinsenden Mistkerl.
Das konnte man mit ihm nicht machen, das ging zu weit.
Er konnte nicht mehr kontrollieren, was er tat. Seine Wut zog ihn hinter sich her und er war ihr hilflos ausgeliefert.
Er zog auf die linke Spur, trat auf die Bremse bis der andere Wagen plötzlich rechts neben ihm war, riß das Steuer rum und rammte ihn.
Der andere Wagen geriet ins Schleudern, kam von der Straße ab, schlidderte über das kleine Rasenstück und raste seitlich in den dichten Baumbewuchs am Straßenrand, fräste eine kleine Schleuse in die dünnen, zersplitternden Bäume und hämmerte letztlich gegen einen großen Baum auf dem Feld dahinter.

Er betrachtete das Spektakel im Rückspiegel und wußte nicht, was er fühlte.
Ein Gefühl von Triumph kam in ihm auf, doch es drehte ihm den Magen um.
Ein Gefühl von Erleichterung kam in ihm auf, doch es war die Art von Erleichterung,die man hat, wenn man ein durchgehendes Pferd erschießen muß, da es einen sonst zu Tode trampelt und hinterher liegt es da, blutend.
Er trat auf die Bremse und fuhr auf die Standspur.
Als er die Tür öffnete, den Asphalt unter seinen Füßen spürte und die frische, kühle Luft einatmete, wußte er nicht, was er dachte, was er fühlte, wer er war.
Eine ganz normale Autobahn. Eine laue Sommernacht. Leiser Wind.
Zitternd ging er zu der Stelle, an der der Wagen durch die Bäume gebrochen war.
Seine Schritte waren zögernd, seine Beine wurden immer weicher, als er in den freigefrästen Weg einbog und das Wrack des Wagens sah.
Er ging darauf zu, horchte, zitterte, öffnete die verbogene Tür.
Ein zerschundener Körper im inneren des Wagens.
Er berührte die Schulter, bog ihn zurück.
Es war eine junge Frau.
Sie war tot.

In seinen Augen starb etwas. Er drehte sich um, rannte zur Autobahn zurück und übergab sich auf den Asphalt. Auf seine Knie abgestützt blickte er in Fahrtrichtung.
Ein Schild kündigte die nächste Ausfahrt in tausend Metern an.
Es wäre seine gewesen.
 



 
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