Wahnsinn (Priamel)

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Bernd

Foren-Redakteur
Teammitglied
Eine moderne Form der Priamel.
Wahnsinn
Verstand
Vernunft
-------------
Raserei

Antlitz
Fratze
Freude
-------------
Tränenfluten

tanzen
stampfen
verschleppen
-------------
federn

Mut
Schande
Schuld
-------------
Sühne
 

mondnein

Mitglied
Eine moderne Form der Priamel.
Danke, Bernd.
Mir war der Begriff "Priamel" nicht aus der Germanistik bekannt, wo ein kleiner Vierzeiler aus drei Parallelen und einer zu den "Thesen" dieser ersten drei Verse gegenläufigen Pointe als "Priamel" (eingedeutscht von lat. praeambula) bezeichnet zu werden pflegt, sondern aus meinem altphilologischen Studium wo ich gelernt habe, daß das carmen 1.1 von Horaz als eine Muster-Priamel gilt. Das ist allerdings eine ziemlich weit ausgeführte Sammlung vom "Berufen", die der Dichter erwogen hat, um schließlich als "Dichter" zu enden.
Genau genommen also nicht so sehr "modern", als vielmehr antik.
Die antithetischen Schlüsselbegriffe hast Du gut gebündelt. Ich vermute, Du hast zwei Spalten vorgegeben, aber es erscheint mir als Leser wie eine bloße Liste. Ich ordne etwas schlichter:
Wahnsinn - Verstand
Vernunft - Raserei
Antlitz - Fratze
Freude - Tränenfluten
tanzen - stampfen
verschleppen - federn
Mut - Schande
Schuld - Sühne
wobei gelegentlich die Attribute und anderes Prädikatzeug die entsprechenden Antithesen verstärken.

Es ist ja, wie man an der Großschreibung und dem - nenne ichs mal - "neobarocken Stil" erkennt, ein älteres Stück von mir, gefühlte dreihundert Jahre alt ("modern").

Von heute aus, in ästhetischer und altersdementer Distanz, reflektiert frage ich mich aber, ob am Ende eindeutig ist, daß der "wahnsinnige" Herr Tristan im ersten Akt der (wie es letztes Wochenende in der Sächsischen Zeitung, in einer Artikelüberschrift tatsächlich wortwörtlich geschrieben stand) "LSD-Oper" Richard Wagners hier als Lyri fungiert.
Vielleicht liest eine Jemandin die dipolare Litanei des Lyri als Verzweiflung der verliebten Isolde, die eben deshalb, weil sie sich gedemütigt fühlt, "Sühne" verlangt, aber in selbstmörderischem Eifer den Kelch mittrinken will. Den Todestrank.

Tja.

grusz, hansz
 

Bernd

Foren-Redakteur
Teammitglied
In der Literatur sind Priameln mehrzeilige Werke, bei denen jeder Vers eine Art Anhäufung desselben Themas ist. Es ist eine alte Form, aber Deine entspricht ihr nur teilweise.
Priamel – Wikipedia

Ein typisches Beispiel ist:

Ich leb und waiß nit wie lang,
ich stirb und waiß nit wann,
ich far und waiß nit wahin,
mich wundert das ich [so] frölich bin.
Martinus von Biberach – Wikipedia (Die Zuweisung zu Biberach kann nach Wikipedia als widerlegt betrachtet werden.
Es ist eine der ältesten Versformen. Deine erschien mir modernisiert, weil die Parallelität "gestört" ist und die Beziehungen eher kompliziert sind.

Hier ein Beispiel von Rosenplüt:


Beispiel für Priamel von Rosenplüt:[5] in Hans Rosenplüt – Wikipedia

Wer einem wolf trawt auf die haid
Vnd einem pawrn gelaubt auf seinen aid
Vnd einem munch auf sein gewissen,
Der ist hie vnd dort beschissen.

In heutigem Deutsch:

Wer einem Wolf traut auf der Heide
Und einem Bauern(?) glaubt auf seinem Eide
Und einem Mönch auf sein Gewissen,
Der wird hier und dort beschissen.
 

Bernd

Foren-Redakteur
Teammitglied
PS: Diese Form der Priamel ist schon sehr alt und kann auch sehr lang sein.

Ich habe Deine Verse als Modernisierung betrachtet, weil zwar immer ein gleichartiges Thema vorhanden ist, aber insgesamt nur die Themen parallel sind, nicht die Formen.
Ich habe als Liste die Themen jeses Verses aufgestellt, wie ich sie gesehen habe.
 

mondnein

Mitglied
nur die Themen parallel sind, nicht die Formen
genau so wie bei Horaz, siehe: http://12koerbe.de/pan/horaz.htm

Ich bin allerdings strenger im Parallelismus bzw. der Polarität der jeweiligen Doppelverse. Horaz führt nur verschiedene Lebensweisen und Berufe auf, sehr locker, unter Vermeidung jedes formalen Parallelismus, in immer neuer Satzformulierung. Man bemerkt die "Priamel" fast garnicht. Quizthema für Prüfungen: "Welche literarische Form hat das erste Gedicht des ersten Buches der carmina von Quintus Horatius Flaccus?" Insiderfrage.

Ich habe auch gefunden, wie Du gewiß auch, daß die Germanisten, d.h. alle direkt googelbaren Vorkommnisse von Lexikoneinträgen usw., nur die mittelalterliche "Form" zu kennen scheinen. Googelt man aber das Horaz carmen 1.1, bietet ausnahmslos jeder Kommentar zu dem Gedicht (carmen 1.1) die Klassifikation als "Priamel", genauso wie mein Professor damals.
 
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Ubertas

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Lieber Hansz,
nebst deiner und Bernds absolut fachmännischen Auseinandersetzung in Bezug auf eine Priamel, der ich gerne nachgelesen habe, obwohl ich sie vielleicht nur ansatzweise begreifen werde. Und hinsichtlich der Tatsache, dass zwei wirklich nicht nur beflissene, sondern zwei überaus intelligente Menschen darüber diskutieren. So sehe ich nebst der betrachteten Form doch einen Inhalt, ein bipolares Verhalten beider, in Tristan und Isolde. So gelänge die Übersetzung in heutige Krankheitsbilder. Dipolar gefällt mir allerdings besser. Tristans "weiße Isolde" spiegelt für mich das, was sich beide ursprünglich wünschen. Zu wünschen haben sie Heilung. Ohne dem falschen Trank gäbe es weder Schuld noch Sühne. Und zu Richard Wagner braucht es kein LSD.
Hier am Rande bemerkt: ein großartiges Gedicht, setzt es doch der Scham ein Ende!
Lieben Gruß ubertas
 

mondnein

Mitglied
bipolares Verhalten
Diesen Begriff, liebe Ubertas,
habe ich nicht psychologisch-fachmännisch verwendet, sondern ganz normal wortwörtlich: "bi" bedeutet "zwei", Pole sind Gegensätze. Es meint dort das Gleiche wie der Begriff "antithetisch".
Das "Krankheitsbild" ist nichts anderes als das hormonell bedingte Irresein, das man als Verliebtheit zu bezeichnen pflegt.
Und zu Richard Wagner braucht es kein LSD.
Eben das ist ja der Grund, warum der Redakteur der Sächsischen Zeitung die Bewußtseinserweiterung-Droge in den Titel seines kleinen Artikels übernommen hat: Man braucht kein LSD, um diese Bewußtseinsverschiebung zu erfahren, sondern es genügt, sich den Tristan, mindestens den zweiten Akt, aufmerksam und wach-konzentriert anzuhören.
Ohne dem falschen Trank gäbe es weder Schuld noch Sühne.
Das ist sachlich falsch. Die Sühneforderung geschieht eindeutig vor dem Trank. Es spiegelt die Vorgeschichte und das Tun Tristans, die irische Prinzessin seinem Herrn Marke zum Geschenk zu machen. Eben deshalb trinken die beiden "Sühne".

Natürlich sind Tristan und Isolde in dem Gedicht hier nur metaphorisch eingesetzt, von dem Verliebten, der diese Priamel herunterbetet und sich mit so einem ästhetischen Gleichnis zu (v)erklären versucht.
Ursprünglich vergleicht bzw. verglich sich der Verliebte hier mit Tristan. Erst vorige Woche fiel mir auf, daß es auch von seiten einer Verliebten unter dem metaphorischen Deckmantel der (insgeheim hormonell bedingt irren) Isolde aus so gesehen werden könnte.

grusz, hansz
 
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Ubertas

Mitglied
Lieber Hansz,
ich danke dir für deine ausführliche Rückantwort. Ich stimme dir absolut zu.
Ganz besonders möchte ich dir für die Erhellung meines zu undifferenzierten Gedankengangs danken. Da habe ich mich geirrt. Natürlich geht die Sühneforderung dem Trank voraus.
Sehr gut gefällt mir auch dein Gedanke, eine beidseitige Sichtweise zuzulassen.
Lieben Gruß ubertas.
 



 
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