Wahr oder Wahrscheinlich

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trivial

Mitglied
Wahrscheinlich ist das Monty-Hall-Problem mittlerweile schon popkulturelles Gedankengut. Es gibt drei Türen, hinter zwei Nieten und hinter einer der Preis. Der Spieler wählt eine Tür, dann öffnet der Moderator eine falsche Tür. Entscheidet sich der Spieler nun um, erhöht er seine Gewinnchance von ursprünglich 1/3 auf 2/3. Das ist die allgemein anerkannte Wahrscheinlichkeitsrechnung.

Aber was hat Wahrscheinlichkeit mit Wirklichkeit zu tun? Könnte das vielleicht erklären, warum Physik im Kleinen wie im Großen immer öfter von der gelebten Realität abweicht und sich mit zusätzlichen Variablen, Konstanten oder exotischen Konzepten zu retten versucht? Sobald sie versucht, einmalige Systeme, ein einzelnes Teilchen oder das Universum als Ganzes zu beschreiben, stößt sie an ihre Grenzen: Ein einmaliges Ereignis lässt sich nicht wiederholen, seine Wahrscheinlichkeit kann nur die Möglichkeiten darstellen, nicht das konkrete Resultat. Es sind nur strategische Konstrukte, um die Diskrepanz zwischen Modell und Wirklichkeit zu überbrücken.

Stellen wir uns vor, glücksspielbesessene Aliens kämen zur Erde und stellten für jeden Menschen eine Tür auf. Jeder muss sich vor eine Tür stellen, und nur derjenige vor der „richtigen“ Tür würde überleben. Dann werden alle bis auf zwei mit einem Todesstrahl vernichtet. Nun stehen der vorletzte Überlebende und ein anderer vor ihren Türen und müssen entscheiden: bleiben oder wechseln.

Nach statistischer Logik würde das Wechseln die Überlebenschance von fast 0 auf nahezu 1 erhöhen – also wäre es rational, die Tür zu wechseln. Trotzdem wird einer sterben, denn real ist die Überlebenschance für jeden einzelnen höchstens 50 %, während die Wahrscheinlichkeit in der idealisierten Rechnung 0,999… beträgt. Dieses Beispiel zeigt, dass Modelle und Wahrscheinlichkeiten das einzelne, einmalige Ereignis nie vollständig erfassen können.

Physik beschreibt nicht die Realität, sondern ihre Wahrscheinlichkeit – und verwechselt das eine mit dem anderen. Aus dem Trauma der Unbestimmtheit entsteht eine Massenpsychose – um nicht wahnsinnig zu werden. Die Realität, in der wir leben, hängt an diesen Modellen – genau wie unsere Existenz an den Rollen, die wir für uns selbst erschaffen.

Identität stabilisiert das Individuum, Wissenschaft stabilisiert die Welt. Und so ist Wissenschaft nichts anderes als die Psychose aus der Psychose: ein Meta-Konstrukt, das die Unbestimmtheit abfedert, auf dass wir in ihr überhaupt leben können.
 

Aniella

Mitglied
Hallo @trivial,

interessanter Text, den ich gern gelesen habe.
Ich folgte Deinen Gedankengängen und obwohl ich das zunächst ohne Widerspruch tun wollte, kann ich jetzt nicht umhin, doch einige Einwände zu haben.
Zu Beginn die Wahl für eine der drei Türen. Wenn die erste Tür falsch war, erhöht sich die Wahrscheinlichkeit bei der Wahl der zweiten ( diesmal richtig zu liegen) auf 50:50, denn auch die Wahlmöglichkeit verringert sich. Oder sehe ich das falsch?
Statistikberechnungen sind ja vielleicht interessant, aber sie treffen eben nicht unbedingt auf das Individuum zu. Aber natürlich können und werden sich Individuen daran festhalten (wollen).
Gruselige Vorstellung einer von zwei Menschen zu sein, der mit einer fifty-fifty Chance überleben kann. Ich kann mir gerade nicht vorstellen, dass man in dieser Situation auf eine Statistik zurückgreifen würde, außer man richtet sich grundsetzlich nach deren Wahrscheinlichkeit und lässt die Realität vor der Tür stehen, um bei Deinem Bild zu bleiben.
Das Trauma der Unbestimmtheit (und ja, Ungewissheit kann in den Wahnsinn treiben und man braucht etwas, woren man sich halten kann) wird man nur auf zwei Arten umgehen können. Entweder man richtet sich nach eigenen Regeln, die man individuell auf sich bezogen anwendet, oder man verlässt sich auf die Regeln von einem Außenstehenden (dem man vertraut).
Die Schlussfolgerung, dass die Wissenschaft eine Psychose der Psychose ist, hast Du genial hergeleitet. Ich habe das Gedankenspiel genossen.

LG Aniella
 

petrasmiles

Mitglied
Ein erfrischender Perspektivwechsel!
Wenn man einmal anfängt, seine Realität nach solchen Konstrukten abzusuchen, stellt man fest, wieviel fake in unserer Selbstgewissheit steckt. Konsequent zu Ende getrieben könnten wir alle ständig ausrufen: Der Kaiser ist nackt. Aber auch schiene die Tonne der einzig sinnvolle Aufenthaltsort.
Glücklicherweise sind wir nicht nur Intellekt, sondern können uns auch vorstellen, dass ein Kissen die Tonne gemütlicher machen könnte, und wenn jemand ab und zu einen Teller Suppe vorbeibrächte, wäre das auch schön, und dann geht es wieder von vorne los, das zivilisatorische Spiel, bis wir wieder ausspeien möchten, angesichts dessen, was so ein Kissen und ein Teller Suppe aus uns macht ...

Liebe Grüße
Petra
 

Frodomir

Mitglied
Hallo trivial,

eine interessante Herleitung hast du da geschrieben, welche dem Leser einen Metablick auf das wissenschaftliche Denken gewähren kann.

Ich muss aber gestehen, dass ich zunächst die Sprache so sperrig fand, dass ich mehrere Anläufe brauchte, den Einstieg in den Text zu bewerkstelligen. Das kann aber auch an meinem übermüdeten Zustand liegen. Aber z.B. in diesem Satz:

Es gibt drei Türen, hinter zwei Nieten und hinter einer der Preis.
würde ich noch zwei Verben einfügen und das Zahlwort anpassen, weil es sonst beim ersten Lesen irgendwie falsch klingt. Also: ..., hinter zweien sind Nieten und hinter einer ist der Preis.

Weiterhin klingt es hier so, als würde das absichtlich geschehen:

Der Spieler wählt eine Tür, dann öffnet der Moderator eine falsche Tür.
Ist das wirklich so gemeint oder eher konditional? Und, wie Aniella schon anmerkte, erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, wenn er nur noch zwei Türen zur Auswahl hat, doch nicht um zwei Drittel, sondern er steht vor einer neuen Situation mit einer 50:50 Chance?

Der zweite Absatz hat mich dann ein bisschen verloren, weil mir diese Wissenschaftskritik für einen Prosatext zu belehrend erschien. Mit den Aliens hattest du mich dann doch wieder abgeholt und die aus dem Beispiel entstehende Herleitung, welche der Wissenschaft ihren a-priori-Anspruch gänzlich abspricht, finde ich wie eingangs erwähnt interessant. Vor einigen Jahren, als die Sphäre der Wissenschaft eine quasireligiöse Rennaissance erlebte, wäre dein Text möglicherweise an der ein oder anderen Stelle angeeckt. Bei mir aber nur aus den oben genannten Gründen, deine Grundidee jedoch finde ich beachtenswert und gut.

Viele Grüße
Frodomir
 

trivial

Mitglied
Danke für die netten Kommentare.
Ich hatte das Monty-Hall-Problem als bekannt vorausgesetzt und es vielleicht deshalb zu schnell abgehandelt.


Es ist statistisch so: Wenn in dieser Konstellation der Kandidat sich umentscheidet, erhöht er seine Chancen theoretisch auf 2/3.
Und das war ja das, worauf ich hinauswollte – Statistik gegen Intuitionen, Wahrheit oder Wahrscheinlichkeit – und dass die Welt nur noch berechnet und nicht mehr erlebt wird.
Dass Statistik für den Einzelfall nicht zählt und sie dennoch überlebensnotwendig geworden scheint, da sie die Struktur unserer Weltvorstellung bildet und damit den spirituellen Weltzugang abgelöst hat.

Da kein System sich selbst vollständig erklären kann, braucht es entweder ein Meta-System oder diesen Wackler – Unschärfe, Wahrscheinlichkeit, ein Rauschen, das die totale Bestimmbarkeit verhindert und Stabilität verleiht.

Gerne sieht sich der Mensch als Homo sapiens – der weise Mensch –, obwohl er eher das Geschöpf des Ausschlusses ist, die Creatura exsilii.
Religiös könnte man es als Sündenfall beschreiben, die Tragödie der Zwischenwelt – immer Prozess, immer Werden, immer zerrissen.
Und jetzt rechnet er sich selbst das Göttliche raus,
und so wird aus der Spannung zwischen Transzendenz und Immanenz nur noch Leere und Verlorenheit,
der Mensch zum strukturellen Fehler.
Losgelöst von der Substanz wird er selbst zur Unschärfe.

Entschuldigung, jetzt bin ich ziemlich abgeschweift. Ich wollte ursprünglich nur den Wikipedia-Link zur Erläuterung teilen.
 

jon

Mitglied
Wahrscheinlichkeitsrechnung und Physik sind zwei verschiedene Sachen.
Physik beschreibt sehr wohl die Realität. Wenn man hier und heute eine Kugel auf eine schräge Ebene legt, rollt sie diese Schräge herunter - und zwar garantiert, nicht nur wahrscheinlich. Selbst Teilchenphysik beschreibt die Realität, auch wenn diese Realität in einigen Ebenen nur durch Wahrscheinlichkeiten beschreiben werden kann.
Die Wahrscheinlichkeitsrechnung gehört zur Mathematik.
 

trivial

Mitglied
Ich wollte natürlich nicht abstreiten, dass die Physik – oder Wissenschaft allgemein – in ihrer experimentellen Praxis völlig berechtigt ist.
Ich dachte auch, das irgendwie (wenn auch etwas verkopft) zum Ausdruck gebracht zu haben.
Mir ging es eher um die Struktur, in der das Ganze überhaupt gebettet ist.
Also hier noch ein paar Ergänzungen – wahrscheinlich macht es das Ganze nur noch wirrer,
aber für mich erscheint es logisch konsistent und kohärent. ;)


"So weit die Gesetze der Mathematik sich auf die Wirklichkeit beziehen, sind sie nicht sicher;
und so weit sie sicher sind, beziehen sie sich nicht auf die Wirklichkeit.“
— Albert Einstein

Physik als Wissenschaft ist die Projektion des Realen durch Formeln.
Sie ist die symbolische Form der Naturbeobachtung – in der Sprache der Mathematik.

Jede symbolische Form trägt ihre eigene Unschärfe in sich.
Sie muss verfehlen, um überhaupt zu treffen.
Sie erzeugt Bedeutung durch den Abstand zum Realen.

Die exakte Berechnung einer Kugelbahn ist unmöglich; die Abweichungen sind für unseren Maßstab jedoch irrelevant.
Selbst eine ideale Kugel oder eine Fläche ohne Reibung existieren nur in der Theorie.

Die Unschärfe ist der Physik – wie jeder symbolischen Form – immanent.
In der klassischen Mechanik war sie latent angelegt, verborgen hinter der Idealisierung des Kontinuierlichen.
In der Quantenphysik tritt sie als Prinzip zutage und wird zur Struktur der Wirklichkeit selbst.

Doch diese Unschärfe betrifft nicht allein die Physik.
Sie ist Bedingung unseres Verstehens, das nur durch Wiederholung und Musterbildung möglich wird.
Alles Erkennen geschieht im Abstand zum Jetzt; jenseits davon liegt nur das reine, meditative Sein.
 

jon

Mitglied
"Ich wollte natürlich nicht abstreiten, dass die Physik – oder Wissenschaft allgemein – in ihrer experimentellen Praxis völlig berechtigt ist." Das habe ich dir auch nicht unterstellt, es geht um die falsche Wortwahl. Die macht, dass einige deiner Aussagen falsch sind, und wenn einzelne Aussagen falsch sind, zerbricht die ganze Argumentationskette.
 

trivial

Mitglied
Liebe Petra,
es freut mich immer, wenn ich das Gefühl habe, von Dir verstanden zu werden :)

Lieber Jon,
mir erscheint es in sich schlüssig. Vermutlich ist genau das, was du als Fehler siehst, der Punkt, auf den ich hinauswill.
Ich möchte es aber nicht weiter strapazieren.

Liebe Grüße
Rufus
 

jon

Mitglied
"Physik beschreibt nicht die Realität, sondern ihre Wahrscheinlichkeit" ist - wegen der falschen Wortwahl - schlichtweg falsch. Es ist richtig, dass oft vereinfacht wird (z. B. die kleinen Unebenheiten der schrägen Ebene, die die Kugel hinabrollt, nicht in die Rechnung einbezogen werden), aber das Anwenden vereinfachter Formeln ist nun mal nicht dasselbe das Abbilden von Wahrscheinlichkeiten.
Die Crux beginnt doch schon bei der Wahl „Physik“. Warum nicht „Chemie"? Warum nicht „Biologie"?
 

trivial

Mitglied
So, jetzt habe ich den Text ein wenig überarbeitet und meine weiteren Gedanken zusammengefasst.
Ich denke, mit Jon werde ich immer noch nicht auf einen Nenner kommen, und er wird es wohl weiterhin als grundsätzlich falsch ansehen – trotzdem danke, dass du mich zum tieferen Nachdenken inspiriert hast. :)


Abschweifung: Creatura exsilii


Unschärfe und Wahrscheinlichkeit


Wahrscheinlich ist das Monty-Hall-Problem mittlerweile schon popkulturelles Gedankengut.
Es gibt drei Türen, hinter zwei Nieten und hinter einer der Preis.
Der Spieler wählt eine Tür, dann öffnet der Moderator eine falsche Tür.
Entscheidet sich der Spieler nun um, erhöht er seine Gewinnchance von ursprünglich 1/3 auf 2/3.
Das ist die allgemein anerkannte Wahrscheinlichkeitsrechnung.

Aber was hat Wahrscheinlichkeit mit Wirklichkeit zu tun?
Könnte das vielleicht erklären, warum Physik im Kleinen wie im Großen immer öfter von der gelebten Realität abweicht und sich mit zusätzlichen Variablen, Konstanten oder exotischen Konzepten zu retten versucht?

Sobald sie versucht, einmalige Systeme, ein einzelnes Teilchen oder das Universum als Ganzes zu beschreiben, stößt sie an ihre Grenzen:
Ein einmaliges Ereignis lässt sich nicht wiederholen, seine Wahrscheinlichkeit kann nur die Möglichkeiten darstellen, nicht das konkrete Resultat.
Es sind strategische Konstrukte, um die Diskrepanz zwischen Modell und Wirklichkeit zu überbrücken.


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Das Paradox der Berechnung

Stellen wir uns vor, glücksspielbesessene Aliens kämen zur Erde und stellten für jeden Menschen eine Tür auf.
Jeder muss sich vor eine Tür stellen – und nur derjenige vor der „richtigen“ Tür würde überleben.
Dann werden alle bis auf zwei mit einem Todesstrahl vernichtet.
Nun stehen der vorletzte Überlebende und ein anderer vor ihren Türen und müssen entscheiden: bleiben oder wechseln.

Nach statistischer Logik würde das Wechseln die Überlebenschance von fast 0 auf nahezu 1 erhöhen – also wäre es rational, die Tür zu wechseln.
Trotzdem wird einer sterben. Denn real ist die Überlebenschance für jeden einzelnen höchstens 50 %, während die Wahrscheinlichkeit in der idealisierten Rechnung 0,999… beträgt.

Dieses Beispiel zeigt: Modelle und Wahrscheinlichkeiten können das einzelne, einmalige Ereignis nie vollständig erfassen.
Denn was die Wahrscheinlichkeit beschreibt, ist nicht das Wirkliche – sondern nur die Ordnung seiner Möglichkeiten.


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Das Trauma der Unbestimmtheit

Und genau an dieser Stelle beginnt die eigentliche Verwechslung:

Die Physik beschreibt nicht die Realität, sondern ihre Wahrscheinlichkeit – und verwechselt das eine mit dem anderen.
Vielleicht muss sie das sogar tun, um überhaupt beschreibbar zu bleiben.

Aus dem Trauma der Unbestimmtheit entsteht eine Massenpsychose – um nicht wahnsinnig zu werden.
Die Realität, in der wir leben, hängt an diesen Modellen – genau wie unsere Existenz an den Rollen, die wir für uns selbst erschaffen.

Identität stabilisiert das Individuum, Wissenschaft stabilisiert die Welt.
Und so ist Wissenschaft nichts anderes als die Psychose aus der Psychose:
ein Meta-Konstrukt, das die Unbestimmtheit abfedert,
auf dass wir in ihr überhaupt leben können.


---

Statistik und Spiritualität

Statistik gegen Intuitionen, Wahrheit oder Wahrscheinlichkeit –
die Welt wird nur noch berechnet und nicht mehr erlebt.

Da Statistik für den Einzelfall nicht zählt
und sie dennoch überlebensnotwendig geworden scheint,
bildet sie die Struktur unserer Weltvorstellung
und hat damit den spirituellen Weltzugang abgelöst.

Kein System kann sich selbst vollständig erklären.
Es braucht entweder ein Meta-System oder diesen Wackler –
Unschärfe, Wahrscheinlichkeit, ein Rauschen,
das die totale Bestimmbarkeit verhindert und zugleich Stabilität verleiht.


---

Die Creatura exsilii

Gerne sieht sich der Mensch als Homo sapiens – der weise Mensch –,
obwohl er eher das Geschöpf des Ausschlusses ist: die Creatura exsilii.

Religiös könnte man es als Sündenfall beschreiben,
die Tragödie der Zwischenwelt – immer Prozess, immer Werden, immer zerrissen.

Und jetzt rechnet er sich selbst das Göttliche raus.
So wird aus der Spannung zwischen Transzendenz und Immanenz
nur noch Leere und Verlorenheit –
der Mensch zum strukturellen Fehler.

Losgelöst von der Substanz wird er selbst zur Unschärfe.


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Physik als Symbolsystem

Ich möchte natürlich nicht abstreiten,
dass die Physik – oder Wissenschaft allgemein –
in ihrer experimentellen Praxis völlig berechtigt ist.

Mir geht es um die Struktur, in der das Ganze überhaupt gebettet ist.

> "So weit die Gesetze der Mathematik sich auf die Wirklichkeit beziehen, sind sie nicht sicher;
und so weit sie sicher sind, beziehen sie sich nicht auf die Wirklichkeit."
— Albert Einstein



Physik als Wissenschaft ist die Projektion des Realen durch Formeln.
Sie ist die symbolische Form der Naturbeobachtung – in der Sprache der Mathematik.

Jede symbolische Form trägt ihre eigene Unschärfe in sich.
Sie muss verfehlen, um überhaupt zu treffen.
Sie erzeugt Bedeutung durch den Abstand zum Realen.


---

Die Immanenz der Unschärfe

Die exakte Berechnung einer Kugelbahn ist unmöglich;
die Abweichungen sind für unseren Maßstab jedoch irrelevant.
Selbst eine ideale Kugel oder eine Fläche ohne Reibung existieren nur in der Theorie.

Die Unschärfe ist der Physik – wie jeder symbolischen Form – immanent.
In der klassischen Mechanik war sie latent angelegt,
verborgen hinter der Idealisierung des Kontinuierlichen.
In der Quantenphysik tritt sie als Prinzip zutage
und wird zur Struktur der Wirklichkeit selbst.

Doch diese Unschärfe betrifft nicht allein die Physik.
Sie ist Bedingung unseres Verstehens,
das nur durch Wiederholung und Musterbildung möglich wird.

Alles Erkennen geschieht im Abstand zum Jetzt;
jenseits davon liegt nur das reine, meditative Sein.


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Emergenz und Bedeutung

Jede höhere Wissenschaft ist eine Form symbolischer Verdichtung physikalischer Komplexität.
Was wir Emergenz nennen, ist die epistemische Notwendigkeit,
aus unendlicher Präzision Bedeutung zu gewinnen –
eine Transformation der Unschärfe in Sprache.

Die emergente Ebene der Biologie ist die symbolische Schicht,
die das Unendliche der chemischen Detailstruktur in Sinn überführt,
so wie die Chemie die symbolische Schicht ist,
die das Unendliche der physikalischen Detailstruktur in Sinn überführt.

Temperatur, Druck, Zelle, DNA – sie alle sind Verdichtungen:
Temperatur symbolisiert Bewegung,
Druck symbolisiert Stoß,
die Zelle symbolisiert chemische Reaktionsketten,
und die DNA symbolisiert Materie als Information.

In jeder dieser Transformationen entsteht Bedeutung aus Unschärfe –
ein Übergang von der bloßen Möglichkeit zur erfahrbaren Welt.


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Die Metaebene der Physik

Die Sprache ist die Mathematik –
und jeder biologische Prozess wäre in ihr abbildbar,
wenn auch nur als unendliche Komplexität.

Das Anwenden vereinfachter Formeln ist nicht das Abbilden von Wahrscheinlichkeiten;
es ist vielmehr die Verschleierung der inhärenten Wahrscheinlichkeit,
die in der Realität und in den zugrunde liegenden Prozessen liegt.

Physik beschreibt Wahrscheinlichkeit ist insofern falsch,
als die empirische Physik keine Wahrscheinlichkeiten beschreibt,
sondern nur mit ihnen arbeitet.
Dies ist ihre innere Notwendigkeit – und zugleich ihre Schwäche.

Sie kann nicht beschreiben, dass sie selbst in Wahrscheinlichkeiten gefangen ist.
Das vermag nur eine Metaebene, die sich ihrer eigenen Symbolik bewusst ist.

Jede Ebene ist eine emergente Erscheinung der darunterliegenden Unschärfe,
doch keine kann diese Unschärfe aus sich selbst heraus beschreiben.

Physik beschreibt keine Wahrscheinlichkeiten –
sie ist Teil der Wahrscheinlichkeit.

Wir beschreiben die Wahrscheinlichkeiten,
die der Physik zugrunde liegen.


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Fazit

Die Sprache ist die Mathematik,
doch Sinn entsteht erst,
wenn aus unendlicher Berechenbarkeit Unschärfe wird –
und aus Unschärfe Bedeutung.
 



 
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