Waldemar

fuuly

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Waldemar war aus der Zeit gefallen. Die nächsten Nachbarn und Verwandten warfen schon früh das Handtuch, weil sie seine verschrobenen Ansichten nicht annähernd teilen mochten. Alles sei schlecht, nichts sei mehr wie früher. Die Welt ginge sowieso unter, weil sich keiner mehr an die Regeln hielte, und er alleine könne es ja nicht stemmen.
„Nun ja“, meint sein Enkel Luca, „man kann es ihm nicht verübeln, schließlich hat er noch am zweiten Weltkrieg teilgenommen!“
„Wie echt, mit Knarre und Stahlhelm?“, fragt verblüfft sein Kumpel Rouven.
„Quatsch nein, er war ja ein Säugling und sein strammer Vater kämpfte für den Gröfaz in Russland.“
„Gröfaz?“
„Größter Feldherr aller Zeiten, den richtigen Namen spreche ich nicht aus!“

Waldemars Mutter kämpfte derweil tapfer an der Heimatfront mit den Kartoffeln.Die Knollen mussten schließlich aus der Erde und sie waren ja auch ein wichtiges Zahlungsmittel, nachdem das Geld, das Papier nicht mehr wert war, auf das es gedruckt wurde.
Die Tiefflieger mit ihren gefürchteten Maschinengewehrsalven näherten sich am Horizont. Da rannten sie in den nahegelegenen Wald. Mutter und der ihr zugeteilte französische Kriegsgefangene. Die Schwiegereltern warfen sich mit Grünzeug getarnt in die Kartoffelreihen. Der Luftangriff muss länger gedauert haben, denn der hübsche, junge Franzose warf sich schützend über seine Mutter.

Wenn über alles Gras gewachsen ist, wenn keiner mehr dumm fragt und wenn die Kartoffelwährung durch den Euro ersetzt ist, dann könnte gnädige Ruhe einkehren. Es sei denn man hat einen schlauen Enkel, der Ahnenforschung betreibt auch noch rechnen kann.
„Weißt du Opa“, beginnt Luca stockend, „ich habe da mal nachgeforscht!“ Es schwingen da so Worte, wie Staatsarchiv, Kirchenbücher, Geburtsdaten durch den Raum. Ein Glück, neben Opas Sessel steht die Flasche Doppelkorn. Er, der so gegen alles Fremde ist, sollte vielleicht sogar selbst ein halber Fremder sein? Schweigend hört der Angesprochene hin, was da alles zwischen dem Papiergeraschel alter Dokumente an sein Ohr dringt. Freilich war da was, immer geahnt, aber tapfer verdrängt.
Es ist schon spät, aber Luca redet immer weiter, von Nachforschungen in Frankreich, einer französischen Zeitung, die alles berichtet.
„Wir fahren da mal hin, heute bin ich müde!“ winkt Waldemar ab, nur um den Quälgeist los zu werden.

Der Plan war schnell gereift, sie fuhren beide zu der kleinen Stadt in Frankreich, wo Luca die Nachfahren seines wirklichen Urgroßvaters ausfindig machte. Kein Problem für Luca, als Schüler eines bilingualen Gymnasiums, mit französischer Sprache und Kultur vertraut. Die französischen Zeitungen brachten schon große Berichte. Die Gastfreundschaft der plötzlich entdeckten Verwandtschaft in Frankreich war überwältigend. Sie wurden überall herumgereicht. Die TV-Sender France 2 und Arte brachten Berichte. Die Feiern nahmen kein Ende, auch durch die landesweiten Medien befeuert. So krönte schließlich ein festlicher Empfang im Élysée diese Begegnung, bei dem selbst der neue Staatspräsident vorbeischaute.

Die Tonne knallt gegen den Bordstein, wie immer dienstags gegen fünf. Da ist die Müllabfuhr mal wieder laut. Waldemar fährt aus seinem Kissen hoch, starrt benommen an die Decke. Vorne steht die Schnapsflasche und es liegen ein paar vergilbte Papiere herum.
 

ThomasQu

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Hallo fuuly,

die uuuralte Leier, alles nur geträumt, aber so gut, wie du es interpretierst, habe ich das hier noch nicht gelesen.
Einen kleinen Haken habe ich gefunden:
… der junge Franzose warf sich schützend über seine Mutter …
Wessen Mutter ??

Gruß, Thomas
 



 
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