Waldspaziergang

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Gelöschtes Mitglied 24351

Gast
Ich packe meine Siebensachen, also: Handy, Notizbuch, Kugelschreiber, Trinkflasche mit Tee, Schlüssel und Sonnenbrille, in eine schwarz gepunktete Stofftasche. Welche Schuhe ziehe ich an? Brauche ich eine Jacke? Es dauert, wie immer, bis ich endlich die Wohnungstür abschliesse und über die Treppe hinunter ins Freie gelange. Die Sonne lacht mir von einem kitschig blauen Himmel entgegen. Sie blendet mich. Ich bleibe stehen und setze die Sonnenbrille auf. Schon besser. Ich komme zur Betonbrücke mit Chromstahlgeländer. Darunter gurgelt munter ein Bach. Ich folge dem Wasserlauf wenige Meter in Richtung der grossen Strasse. Am Wegrand sehe ich etwas Blaues liegen und bleibe stehen. Eine achtlos weggeworfene Verpackung von irgendetwas. Ist einfacher und bequemer, den Dreck liegenzulassen, als sich auf die Suche nach dem nächsten Abfalleimer zu machen. Ich überquere eine vielbefahrene Strasse. Nun fliesst auf der einen Seite das Bächlein und auf der anderen stehen noch kahle Apfelbäume in Reih und Glied.

Auf meinem Weg zum Wald gehe ich an einer Sägerei vorbei. Ein zarter Windhauch weht mir eine Mischung aus Harz und frisch gesägtem Holz um die Nase. Ich liebe diesen Duft. Nun ist es nicht mehr weit. Noch vorbei am Bauernhof mit den Kaninchenkäfigen. Kisten aus Holz mit Gittertüren, die auf der Wiese direkt am Weg stehen. Darin eingepfercht Kaninchen, die auf ihr Todesurteil warten. Ob es am Sonntag einen Braten gibt? Mir ist flau im Magen. Schnell gehe ich die Strasse weiter, bis ein Forstweg in den Wald führt. Die Vögel zwitschern aus voller Kehle. Je länger ich diesem Lied zuhöre, desto unterschiedlichere Gesänge kann ich vernehmen. Herrlich, dieses Frühjahrskonzert.

Ich trete ins Zwielicht des Forstes. Hier zwitschert, trällert, piept und pfeift es aus allen Himmelsrichtungen. Ein Specht hämmert und unterbricht die Symphonie abrupt. Ich geniesse die Klänge des Waldes in vollen Zügen. Die feinen Kiesel des Pfades knirschen unter meinen Schuhen. Links und rechts des Weges überall moosbewachsene Steine, Baumstrünke und grosse Wurzelstöcke, die aus dem Unterholz ragen. Hie und da strecken blaue, gelbe und weisse Blümchen ihre Köpfe aus dem trockenen Laub vom letzten Herbst. Ich mach noch kurz einen Abstecher zum Blindsee. Wobei Tümpel das treffendere Wort wäre. Eine braune, trostlose Wasserlache grösstenteils mit trockenen Grasbüscheln zugewachsen. Und trotzdem hat dieser Ort etwas Mystisches. Diese Stille. Ich tauche ein in diese Atmosphäre. Kindergeschrei zerstört jäh das zarte Band der Idylle, welches ich soeben gewoben habe. Müssen die Eltern mit ihren Balgen gerade jetzt kommen und diesen magischen Moment kaputt machen? Hätten sie nicht einfach geradeaus weitergehen und mich in Ruhe lassen können? Mit einem tiefen Seufzer und halbherzigen Gruss flüchte ich. Ja, der Wald gehört nicht mir allein. Diese Erkenntnis mildert meinen Ärger über das rücksichtslose Zertrampeln meiner kleinen, heilen Welt nur wenig. Sei’s drum. Ich schlendere weiter durch den Märchenwald. Rieche, lausche, beobachte und geniesse. An einer weiteren Abzweigung, wovon es hier Millionen zu geben scheint, nehme ich den gekiesten Pfad. Dieser führt durch einen dicht bewachsenen Teil des Zauberwaldes. Am Ende stehe ich an einem wunderschönen See mit einem Holzsteg. Er liegt mitten in einer Moorlandschaft, umsäumt von Bäumen. Schon als ich mich dem Gewässer nähere, vernehme ich aufgeregtes Quaken. Ich entdecke einen Frosch, dann einen zweiten und dritten. Es herrscht ein reges Treiben im Wasser. Von Frühlingsgefühlen geleitet, wird bestiegen, gestritten und voller Inbrunst der Herzdame ein Liebeslied dargebracht. Etwas raschelt neben mir im Laub. Eine Froschdame mit einem viel kleineren Männchen auf dem Rücken kriecht durch die Blätter. Kurz darauf hüpft dieses frisch verliebte Paar über den Steg und ab in den See. Ich widme meine Aufmerksamkeit wieder den Fröschen im Wasser. Betrachte und studiere sie bis ins kleinste Detail, lasse mir die Sonne ins Gesicht scheinen und versinke wieder in meinen Gedanken. Eines dieser grünen Geschöpfe nähert sich mir, schaut mich von unten mit seinen rötlichen Augen keck an und flüstert: «Küss mich, Baby, ich bin ein Prinz.» Was? Beschämt schaue ich zur Feuerstelle hinüber, wo die Familie inzwischen dabei ist, ein Feuer zu machen. Zum Glück, die sind mit Holzsammeln beschäftigt. Herrgott, ich lebe doch in keinem Märchen und in der Realität können Frösche nicht sprechen. Überhaupt fehlt mir die goldene Kugel und wo bitte ist mein Schloss? Ich ignoriere das Geschehene, schliesse die Augen und spüre die Wärme der Sonnenstrahlen auf meiner Haut. Als ich meine Augen wieder öffne, sitzt der Froschprinz immer noch da, sieht mich erwartungsvoll an und fordert mich noch eindringlicher auf, ihm einen Kuss zu geben. Ein scheuer Blick links, einer rechts. Ich beuge mich vor, unterdrücke das Würgen und küsse diese schleimige Kreatur. Doch der erwartete Knall bleibt aus. Vielmehr macht es platsch und der Frosch verschwindet auf Nimmerwiedersehen im Wasser. Kein Prinz, kein Schloss, nichts. Etwas enttäuscht stehe ich auf und lasse meinen Blick hinüber zur anderen Seite des Sees schweifen. Erschrocken drehe ich mich um, weil mir jemand auf die Schulter getippt hat. Eine adrett gekleidete, ältere Dame steht vor mir. Sie sieht mich mit ihren etwas geröteten Augen an und lächelt. «Gehört die Ihnen?», fragt sie mich und drückt mir eine goldene Kugel in die Hand. Noch bevor ich den Mund aufmachen kann, ist die freundliche Dame weg. Etwas verwirrt zucke ich mit den Schultern und mache mich auf den Rückweg. Immer wieder schaue ich dieses schöne Stück an. Wie erkläre ich das nur meinem Liebsten?
 



 
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