Walpurgis

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MelP

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Die Wahrsagerin zuckte zurück und blickte mich kurz aus schreckgeweiteten Augen an, sah dann auf die Hand herunter, in der gerade meine eigene gelegen hatte. In diesem Moment erfasste ein kräftiger Windstoß das Zelt, in dem wir saßen, so dass die lose herunterhängenden Planen laut klatschend aufeinander schlugen. Gleichzeitig hatte ich den Eindruck, das sich die ohnehin etwas muffige Luft im Zelt auf eigenartige Weise zu verdichten schien. Es fühlte sich an, als ob alle Atome ein Stückchen zusammenrücken würden. Das Atmen fiel mir schlagartig schwerer. Auch die Wahrsagerin rang nach Luft und blickte mich noch immer erschrocken an. Für einen Moment sahen wir uns tief in die Augen, doch die in bunte Tücher gehüllte Frau konnte oder wollte meinem Blick nicht standhalten.

Ruckartig erhob ich mich von meinem Stuhl, drehte mich um und verließ völlig übereilt und wortlos das Zelt, ohne die Frau, die mir aus der Hand hatte lesen sollen noch einmal anzusehen. Draußen schlug mir kalte klare Luft und Lärm entgegen. Ich sog die frische Luft tief in meine Lungenflügel ein, so dass es fast wehtat. Ich blickte auf dem vollen Festplatz umher und musste mich kurz orientieren. Das Zelt der Wahrsagerin stand etwas abseits von den anderen Zelten, aus denen ein grausiges Gemisch unterschiedlichster Musikrichtungen nach draußen schallte. Dann entdeckte ich das Bierzelt, aus dem ich mich kurz von meinen Freunden verabschiedet hatte, um kurz auf die Toilette zu gehen, die leider aus einer langen Reihe Baustellentoiletten bestand.

Auf dem Rückweg von der Toilette war mir das Zelt der Wahrsagerin aufgefallen. Auf einem handgemalten Pappschild, das etwas schief über dem Zelteingang angeheftet war, stand "Frau Luna - Handlesen". Neugierig war ich sofort in das kleine Zelt gestapft und hatte "Frau Luna" gebeten, mir aus der Hand zu lesen. Nachdem sie 5 Euro dafür kassiert hatte, war nichts weiter als dieser kurze erschreckende Moment zwischen uns beiden passiert.

Nun marschierte ich durch den aufgeweichten Boden wieder zu dem Bierzelt, in dem ich meine Freunde zuvor kurz zurückgelassen hatte. Aber meine gute Laune von vorhin war mir irgendwie abhanden gekommen. Ich trank noch ein Bier, konnte aber den fröhlichen Gesprächen meiner Freunde nicht mehr recht folgen. Meine Gedanken schweiften immer wieder ab und huschten ungewollt zu der kurzen unangenehmen Situation im Zelt der Wahrsagerin zurück.

Nach kurzer Zeit verabschiedete ich mich von meinem Freund und den anderen, die klassische Ausrede Kopfschmerzen vorschiebend. Mein Weg führte mich quer über den Festplatz, der sich langsam zu leeren begann. Ein paar Betrunkene stolperten zum Pinkeln ins Gebüsch, nahmen jedoch keine Notiz von mir. Es war noch ein wenig kälter geworden und ich beschleunigte meine Schritte. Schließlich hatte ich noch ein gutes Stück Weg zu Fuß zurückzulegen. Ich hatte den Blick auf den Boden gesenkt und fuhr bei einer Bewegung, die ich nur aus dem Augenwinkel wahrnahm, erschreckt zusammen. Im Schatten der bereits ausgeschalteten Straßenlaterne bewegte sich an deren Lampenkopf ein gewaltiger Schatten! Mein Herz machte vor Schreck einen Sprung, im gleichen Moment fiel mir jedoch wieder ein, dass an den Laternen lebensgroße Hexenattrappen zum Walpurgisfest angebracht worden waren. Eine solche wackelte im Wind hin- und her. Ich musste ein wenig über meine Schreckhaftigkeit lächeln und marschierte weiter.

Schnellen Schrittes erreichte ich den Ortsrand. Um nach Hause zu gelangen, musste ich eine Straße entlanggehen, die den Ortsrand vom Wald trennte. Der Weg war ziemlich finster und ich ärgerte mich nicht zum ersten Mal über die Sparmaßnahmen der Stadt, die darin bestand die Straßenbeleuchtung ab ein Uhr bis 6 Uhr morgens völlig abzuschalten. Leise fluchte ich vor mich hin. Die Kälte kroch langsam in meinen Hosenbeinen hoch und obwohl ich einen Rollkragenpullover trug, hatte ich schlagartig das Gefühl, dass ich ganz besonders am Hals fror. Meine Nackenhaare prickelten und es entwickelte sich eine Art Gänsehaut dort. Ich hatte sprichwörtlich das Gefühl, als ob sich meine Nackenhaare sträuben würden - wenn dies bei langen Haaren denn so möglich wäre.

Ich legte noch ein wenig an Geschwindigkeit zu, aber ich hatte den Eindruck, dass je mehr ich mich bemühte schnell vorwärts zu kommen ich umso langsamer vorankam. So als ob die Wirklichkeit anfangen würde sich zu verzerren und Zeitlupentempo anzunehmen. Nun begannen meine Beine immer schwerer zu werden und der Zeitlupeneindruck verstärkte sich noch. Ich blieb stehen und blickte umher. Wie narkotisiert fiel mir inzwischen selbst schnelles hin- und hersehen schwer. Meine Augenlider schlugen unendlich langsam zu und wieder auf, gleichzeitig hörte ich ein unangenehmes Dröhnen in meinem Kopf, ein Schwindelgefühl stellte sich ein. Was passierte hier nur mit mir? Soviel Bier hatte ich doch nicht getrunken... Außerdem kamen mir die Symptome nicht wie die eines Rausches vor. Merkwürdigerweise hatte ich plötzlich den Eindruck, beobachtet zu werden. Die Welt um mich herum fing an sich mehr und mehr zu drehen, begann zu schlingern und in unregelmäßigen Ellipsen um mich herum Wellen zu schlagen.

Mühsam wandte ich meinen Kopf in Richtung Wald - irgendwie meinte ich, dass mich jemand von dort aus beobachten würde. Angestrengt kniff ich die Augen zusammen, als ich Schatten am Waldrand wahrnahm, die sich kaum vom dunklen Hintergrund der Bäume abhoben. Magnetisch von diesem Eindruck angezogen schleppte ich mich schweren Schrittes Richtung Wald. Hierzu musste ich die Landstraße überqueren. Sie kam mir breiter vor als eine sechsspurige Autobahn. Je näher ich den auf- und abspringenden Schatten kam, desto stärker wurden meine Beschwerden. Irrsinnigerweise wurde jedoch auch mit jedem noch so schweren Schritt, das Bedürfnis dorthin zu gelangen noch größer. Die Schatten wurden deutlicher und hoben sich besser vom Wald ab, je näher ich kam. Aber ich wollte meinen beeinträchtigten Augen nicht glauben, was sie mir zeigten.

Eine Gruppe blasser nackter Frauen sprang wie wildgeworden um ein kleines Bündel, das im Gras lag und sich bewegte. Dabei murmelten sie monotone Silben vor sich hin, aus denen ich kein zusammenhängendes Wort erkennen konnte. Völlig ferngesteuert hatte mein Körper inzwischen den Fahrbahnrand erreicht. Ich fühlte mich wie ein rotierendes Stück Blei. Auf dem Rasenstreifen angekommen kam ich ins stolpern und stürzte ungelenk in den jenseitigen Straßengraben. Nachdem ich mich mühevoll hochgerafft hatte und noch halb im Graben liegend wieder zu den Frauen blickte, hatten diese offensichtlich das Geräusch meines Stolperns wahrgenommen und blickten ein wenig beunruhigt in meine Richtung. Sie warfen gehetzte Blicke zur Straße und blickten sich anschließend fragend untereinander an. Eine der Nackten mir langem lockig-schwarzem Haar zuckte mit den Schultern und alle anderen wandten sich wieder dem Bündel in der Mitte des Kreises zu. Eine andere Frau mit kurzem blonden Haar trat einen Schritt vor, hob die Hände zum Himmel und reckte mit geschlossenen Augen den Kopf ebenfalls Richtung Himmel. Die Gruppe um sie herum begann mit einem leisen Singsang.

Ich versuchte auf die Beine zu kommen. Doch jedes Mal, wenn ich versuchte, mein Körpergewicht auf ein Bein zu verlagern, knickte das Bein unter mir weg, als hätte ich keinen Muskel mehr darin. Also zog ich mich mit den Händen im Gras so gut es ging langsam vorwärts. Inzwischen trennten mich noch etwa 20 Meter von der Gruppe. Mit zusammengekniffnen Augen versuchte ich auszumachen, was in der Mitte des Kreises lag, was mir jedoch allein aufgrund meiner liegenden Position nicht gelang.

Plötzlich hob die blonde Frau einen glasklaren und erschreckend lauten Gesang an, der sich zunächst überirdisch schön anhörte. Das Singsang der anderen wurde im Hintergrund etwas volltönender. Der Gesang der Blonden kletterte in der Tonleiter beständig höher und wurde für meine Ohren immer unangenehmer. Die Geräusche der Gruppe wurden immer dröhnender, die Mischung hallte in meinem Kopf wie ein grausiges Echo wider. Während die Stimme der Blonden nunmehr für meine Begriffe nicht mehr im menschlichen Stimmspektrum währte, hob die schwarzhaarige Frau das Bündel in der Mitte des Kreises auf und hielt es der Blonden hin. Das Bündel zappelte und begann zu schreien. In meinem Kopf gesellte sich zu den Gesängen, die sich inzwischen zu einem Crescendo aufgeschwungen hatten, eine fürchterliche Vorahnung. Mir schwindelte noch schlimmer als zuvor und ich musste mich in das Gras vor mir übergeben.

Gleichzeitig blieb jedoch noch immer der Wunsch bestehen, dem Geschehen näherzukommen und ich kroch durch mein eigenes Erbrochenes weiter auf die Gruppe zu. Plötzlich verstummte die blonde Frau und es war nur noch das Gemurmel der Gruppe zu hören. Die Blonde griff das wimmernde Bündel, das die Dunkle ihr hinhielt, warf das Tuch, das es umhüllte beiseite und riss das höchstens wenige Wochen alte Baby an den Füßen in die Höhe. Im gleichen Moment schien die Welt um mich herum einen Herzschlag lang auszusetzen. Entsetzen krallte sich wie eine Klaue um meinen Magen.

Unvermittelt begann sich ein sanftes Glühen um die Gruppe auszubreiten, welches sich am dichtesten um den Körper des Babys zu schmiegen schien. Schlagartig warfen sich alle Frauen außer der Blonden, die das Baby hielt zur Erde und murmelten immer wieder "Aradia, Aradia" vor sich hin. Nach einer kleinen Weile schien das Glühen zu verblassen und das Baby hörte auf zu weinen. Die Blonde nahm die Arme herunter und legte das Baby an ihre Brust. Sie lächelte. Die übrigen erhoben sich und scharten sich dicht um die Frau mit dem Kind. Sie schienen sie zu beglückwünschen. Schlagartig fiel die Spannung und das magnetisierende Gefühl von mir ab und mir wurde schwarz vor Augen.
 
R

Rote Socke

Gast
Hallo,

ich finde, da ist Dir ein finsterer Spannungsaufbau gelungen und der Schreibstil gefällt mir auch. Das lässt hoffen noch weitere interessante Texte von Dir hier zu sehen.

Schöne Grüße vom Rotstrumpf
 

MelP

Mitglied
Der Text ist fertig. Kurzgeschichten sollen doch vom Leser ausphantasiert werden, oder?
Gruß
Mel
 



 
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