Reinhard Dowe
Mitglied
Thema: Wann beginnt das Dritte Jahrtausend?
Vorwort: Eigentlich ist es völlig egal, ob am 1.1.00 oder am 1.1.01; was macht es schon? Aber wenn einige meinen, sie wären sehr schlau und müßten andere für dumm halten, dann ärgert mich das schon; denn ich gehöre zu den anderen. Ich habe lange gebraucht, das Thema in Worte zu fassen. Jetzt ist mir eine Form gelungen, bei der ein "fabel"-hafter Vater seiner Tochter die Zusammenhänge erklärt.
Die Erzählung:
Aber, aber Herr Professor?
„Papa!“ So kam sie ins Wohnzimmer gestürmt – die zweite Silbe langziehend und fragend. Die Tür zum Schlaftrakt fiel ins Schloss. Sie versuchte ihre Unsicherheit zu überspielen, was ihr misslang.
Vater Wowalu, versunken im behaglichen Ohrensessel nahe dem geöffneten Fenster, las das Buch „Mythos Jahrtausendwechsel“. Angeregt durch den einer wissenschaftlichen Feder entflossenen Artikel „Keine Zeit für das Jahr Null“ in der Silvesterausgabe der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung, hatte er beschlossen, sich mit diesem Thema zu befassen.
Endlich hob er den Kopf, lächelte seiner zwölfjährigen Tochter zu und fragte: „Nun, was ist, Wiwelé?“
Sie hatte sich auf dem Teppichboden niedergelassen und geduldig gewartet, bis er ausgelesen hatte. Sie wusste genau, dass er es nicht ausstehen konnte, unterbrochen zu werden.
Sie blickte nicht auf und murmelte verschämt: „Ich brauche deine Unterschrift.“ Dann streckte sie ihre Hand aus und reichte ihm das aufgeschlagene Schulheft. Als sie nun doch ihre blonden Locken nach hinten strich, sah er in ihre feuchten, schon glänzenden Augen. Die erste Träne drohte zu kullern. „Der Lehrer sagte heute, ich sei dumm. Und wenn ich so weitermache, dann werde ich nicht versetzt, hat er gedroht!“ So quoll es kaum hörbar und stockend aus ihrem Mund.
Gerührt setzte sich nun Wowalu zu ihr auf den Boden und strich ihr liebevoll übers Haar. Es war bedrückend mit anzusehen, wie sehr sie unter der Verwarnung des Lehrers litt. Gequält und schockiert saß sie da wie ein kleines Häufchen Elend.
„Hat der Lehrer auch gesagt, warum du dumm bist?“ fragte Wowalu einfühlsam.
„Nein! Aber ich verstehe überhaupt nichts von dem, was der uns einbläuen will – selbst wenn ich mich noch so anstrenge. Ich möchte am liebsten alles hinschmeißen.“
„Na,“ versuchte er sie zu beruhigen, „dann lernst du erst recht nichts und wirst ewig dumm bleiben! Möchtest du, dass dein Lehrer recht behält?“ Und nach einer Atempause fragte er weiter: „Aber sag’ mir, bist du die Einzige in der Klasse, die so dumm ist und nichts versteht oder wie viele sind es in deiner Leidensgemeinschaft, die alle nichts kapieren?“
„Das weiß ich nicht so genau,“ erwiderte sie zögernd und grübelnd zählte sie an ihren Fingern ab, „es sind bestimmt elf, vielleicht sogar dreizehn.“
„Und wie viele sind insgesamt in deiner Klasse?“
„Zweiunddreißig sind wir – achtzehn Mädchen und vierzehn Jungs – aber das weißt du doch.“ Sie wurde ein wenig kecker und gewann erneut Vertrauen zu sich selbst und ihrer Welt.
„Richtig, aber das hätte sich doch auch in letzter Zeit noch etwas ändern können, oder?“ begründete er seine Frage und sagte dann: „Hast du schon errechnet, wie viel Prozent es sind, elf oder gar dreizehn von zweiunddreißig?“
Ihre Augen wurden größer und ihr Gesicht nahm ernste Züge an. „Ja!“, sagte sie, „das ist ja ein Drittel, sogar mehr – daran habe ich noch gar nicht gedacht.“
Er spornte sie weiter an: „Nimm deinen Rechner und schau, wie viel dreizehn von zweiunddreißig sind. Ich wette mit dir, dass das bei vierzig Prozent liegt!“
Wiwelé stand auf, holte den Taschenrechner aus der Schultasche, tippte die Werte ein und sagte selbstsicher: „Vierzig Komma sechs Prozent!“
„Na ja!“, dämpfte Wowalu nun, „allzu froh solltest du darüber wiederum nicht sein; denn du gehörst ja nicht gerade zu denen, die den Unterrichtsstoff verstanden haben! Aber eine so hohe Zahl von Schülern, die den Lehrstoff nicht verstehen, kann auch ein Indiz dafür sein, dass dein Lehrer es nicht vermag, den Unterrichtsstoff zu vermitteln. Ich könnte auch sagen: ,du hast einen dummen Lehrer‘! Ich will damit nur ganz allgemein sagen, dass es schwierig ist festzustellen, wer also dumm ist. Einen anderen für dumm zu halten, ist so einfach und deshalb sind wir auch so flink dabei! Aber nur allzu oft ist derjenige dumm, der andere dafür hält! Diesen Leuten fehlt es zudem an der Fähigkeit zur Eigenanalyse. Oft haben sie dazu die bessere Position inne und leisestes Hinterfragen gerät schnell zum Nachteil!
Derjenige, der andere für dumm hält, läuft leicht Gefahr, den anderen zu unterschätzen! Daher möchte ich dir raten: Halte andere nicht für dumm und misstraue denen, die dich für dumm halten! Glaube mir, irgendwie sind wir alle einwenig dumm und zugleich auch einwenig schlau!“
„Papa, bekomme ich jetzt deine Unterschrift?“ bat Wiwelé unvermittelt.
„Hast du es eilig?“ fragte Wowalu neugierig zurück. „Wartet jemand auf dich? Bist du verabredet?“
„Ja,“ enthüllte sie ihm, „in einer Stunde kommen Gerda und Conny. Ich wollte noch vorher meine Hausaufgaben machen.“
„Ok!“ sagte er, „ich möchte dir einen Vorschlag unterbreiten. Gib mir dein Schulheft. Ich möchte es mir noch näher ansehen und ebenso die Hausaufgaben, die du zu machen hast. Und wenn Gerda und Conny heimgehen – um acht müssen die doch bestimmt wieder zu Hause sein – dann machen wir zusammen deine Hausaufgaben und ich unterschreibe nachher. Jetzt aber möchte ich dir etwas von dem erzählen, was ich gerade hier im Buch gelesen habe, als du hereinkamst. Das hat nämlich auch etwas mit Lehrern zu tun; denn auf der Rückseite des Buches steht im Klappentext: ,Eine Fundgrube für Publizisten, Pädagogen, Pfarrer und Gruppen in Politik, Schule und Gemeinde’. – Also auch für Lehrer! Möchtest du wissen, was in der Fundgrube zu finden ist?“
„Ja! Erzähl! Bis Gerda und Conny kommen, dann hören wir auf! Ja?“
„Dann will ich mich beeilen. Zuerst lese ich dir einen Satz auf der Seite 15 vor: ,... das neue Jahrtausend beginnt, allen anderslautenden Gerüchten zuwider, mit dem 1. Januar 2001, ebenso, wie wir die einundzwanzigste Flasche dem neuen Bierkasten entnehmen müssen, nicht Flasche 20.’ Was meinst du, ist diese Behauptung logisch und richtig?“
„Ehrlich, da habe ich noch nicht drüber nachgedacht. Aber so auf Anhieb erkenne ich nichts Falsches. Mir scheint nur, dass es ein etwas schrulliger Vergleich ist!“, war Wiwelé’s Antwort.
„So wie dir, wird es wohl vielen ergehen. Aber wenn ich etwas schreibe und meine Ergüsse den Lehrern und Schulen empfehlen wollte, dann würde ich über solche aufklärerischen Behauptungen vorher genauestens nachdenken und nicht auf halben Wege stecken bleiben. Behaupten ist einfach, aber um solche Behauptungen zu beweisen, muss über sie sorgfältig nachdacht werden. Das machen wir jetzt gemeinsam, Ok?“ Sie nickte zustimmend und ihr Vater fuhr mit ein wenig Ironie fort:
„Um dabei geistig ,voll am Ball’ zu bleiben, sollten wir die Halbliter-Bierflaschen nicht austrinken! Das würde wahrscheinlich unsere Gehirne und damit das Zählen beeinträchtigen!“ Wiwelé kicherte belustigt, dann lauschte sie gespannt. „Wir nehmen einen Zehn-Liter-Behälter mit Litereinteilung und füllen die Bierflaschen einzeln hinein. Die erste Flasche füllt das leere Gefäß von Nichts oder ,Null’ an mit dem ersten halben Liter. Nach der zweiten Flasche ist ein Liter eingefüllt. Nach der dritten Flasche sind ein und ein halber Liter eingefüllt. Nach der vierten Flasche sind es jetzt schon zwei Liter. Kannst du mir folgen?“
„Ja! Wir sind bei ,Null’ angefangen, das ist doch kinderleicht! Nach sechs Flaschen sind es drei Liter, nach acht Flaschen sind es vier Liter. Wenn wir das verdoppeln, dann sind es nach sechzehn Flaschen acht Liter, nach achtzehn Flaschen neun Liter, nach neunzehn Flaschen sind es neun und ein halber Liter.“, führte Wiwelé die Rechnung eifrig fort.
„Du siehst, du bist gar nicht dumm. Dir muss das nur richtig veranschaulicht werden! Es ist also die zwanzigste Flasche, die das Zehn-Liter-Gefäß bis zum Rand füllt.
Jetzt aber müssen wir ganz exakt und höchst penibel weiterarbeiten. Solange noch drei Tropfen in der zwanzigsten Flasche verbleiben, solange sind im Zehn-Liter-Gefäß erst 9,999999... Liter. Erst die letzten drei Tropfen aus der Flasche ‚Zwanzig’ füllen das Gefäß randvoll auf zehn Liter!
Und schon der erste Tropfen aus der ‚einundzwanzigsten’ Flasche würde das Gefäß zum Überlaufen bringen, wenn da nicht noch andere physikalische Einflüsse wären. Was folgern wir daraus?“
„Richtig!“, sagte Wiwelé, „so wie der eine Pfennig, den wir zu 99,99 DM hinzufügen, den ersten Einhundert-Markschein voll macht, so beginnt auch der zweite Einhundert-Mark-Schein mit dem ersten Pfennig über 100,00 DM und nicht erst nach der ersten vollen Mark über 100,00 DM – also bei 101,00 DM. Und gleichfalls nicht mit dem ersten vollen Groschen über hundert Mark bei 100,10 DM. Dies können wir auf den Euro ebenso anwenden wie auch auf die Zeitrechnung! Das dritte Jahrtausend begann also schon am 1. Januar 2000! Genau mit der ersten Sekunde nach Mitternacht des Silvesterabends 1999!“
„Ist es nicht komisch, das solche Fehler in empfohlenen Büchern für Lehrer und andere Gebildete vorkommen?
Aber höre noch einmal zu! Der Autor sagt auf Seite 17: ,... die Konsuln des Jahres 1 n. Chr. folgen unmittelbar auf die Konsuln des Jahres 1 v. Chr., sodass es kein Jahr Null gibt.’ Was fällt dir dabei auf?“
Wiwelé ist verwirrt und überlegt. Nach kurzer Pause versucht der Vater, ihr eine Gedankenbrücke zu bauen.
„Ich wollte heut Morgen nach dem Frühstück eine Zigarette rauchen und als ich die Streichholzschachtel öffnete, da war diese leer! Ich hatte also eine Dose Streichhölzer mit null Streichhölzern! Ja?“
„Sag’ bloß, du rauchst wieder?“ fragte sie entsetzt.
„Nein, nein!“, beruhigte er sie, „ich hatte keine Streichhölzer und blieb deshalb meinem Vorsatz treu.“
„Das freut mich“, sagte Wiwelé und fuhr dann fort, „eine Dose Streichhölzer ohne Inhalt – mit null Streichhölzern! – ist gewissermaßen auch mit einem Jahr ‚Null’ – mit null Monaten, null Wochen und Tagen, null Stunden, Minuten und Sekunden – vergleichbar! Das Jahr ,Null’ kann daher nicht eine ,Zeitspanne’ sein, sondern das Jahr ,Null’ ist nur ein ,Zeitpunkt’ – etwas ohne Dauer, ohne Ausdehnung! Es ist kein richtiges Jahr – es ist nur ein Wendepunkt!“ Nach einer Pause, in der ihr scheinbar tausend Fragen durch den Kopf schossen, ergänzte sie nachdenklich: „Ohne Ausdehnung – doch nur theoretisch! Ja, aber praktisch ist es der Moment, in dem die Nabelschnur des kleinen Knaben durchtrennt wird – dieser Zeitpunkt ist der Abschluss der Geburt, nach der sich unsere christliche Zeitrechnung sozusagen ausrichtet.“ „Du hast es erfasst“, meinte nun Wowalu, „aber es gibt auch Leute, die doch wirklich in einer Zahlenskala die Ordnungszahl ‚Null’ als realen Wert einbauen wollen – vielleicht nur, um doch noch Recht zu behalten – anders kann ich es mir nicht erklären.“
Die Mutter Wowali hatte das Gespräch mitangehört und kam jetzt mit einem Vorratsbehälter ins Wohnzimmer. „Ich habe hier eine Zuckerdose mit null Kilogramm Zucker!“, behauptete sie und Wiwelé fragte spontan: „Könnten es nicht auch null Kilogramm Salz sein?“ „Nein!“, kam triumphierend die Antwort, „Es steht doch ,Zucker’ auf dem Etikett!“ Und Wowali drehte lachend den Schriftzug auf der Dose in unsere Blickrichtung.
„Ich habe gehört“, mischte sie sich jetzt weiter in das Gespräch ein, „dass Jesus drei oder sogar sieben Jahre vor unserer Zeitrechnung geboren worden sein soll.“
„Stimmt, diese Annahmen habe ich in diesem Buch auch nach-lesen können.“, bestätigte ihr Mann und ergänzte, dass der Autor auf derselben Seite weiter ausführt, dass vom 17. August 1 v. Chr. bis zum 17. August 1 n. Chr. nur ein einziges Jahr verflossen sei und dass deshalb einige Leute in der Geschichte zum falschen Zeitpunkt die Jahrtausendfeier zelebrierten.
„Entschuldige Papa,“ unterbrach Wiwelé, „wenn die Zeitrech-nung vor Christus rückwärts zählt, wie kann dann der Kalender vorwärts zählen? Wäre es da nicht auch logisch, Tage, Wochen und Monate rückwärts zu zählen?“ Sie unterbrach sich selbst, um dann fortzufahren: „Ach, nein, das ist Unsinn; denn die Uhren hätten ja auch rückwärts laufen müssen! Vielleicht ist es gut, dass es zu der Zeit noch keine mechanischen Uhren gab!“
„Du hast recht!“, lachte Wowalu, „die heutige Zeitrechnung ist erst viel später entstanden. Der Zeitpunkt des Beginns der Zeitrechnung war schon lange vorbei. Heute wissen wir – Mutti sagte es schon – mit großer Wahrscheinlichkeit, dass Jesus schon ein paar Jahre alt war, als unsere Zeitrechnung begann. Da gibt es einige Unstimmigkeiten in den überlieferten Schriften. Es ist schon beinahe lächerlich, sich darüber zu streiten.“
„Und warum erzählst du mir das alles, wenn es eigentlich doch lächerlich ist?“
„Weil es zugleich sehr traurig ist. Ich hörte viele Leute, die sich für sehr gebildet halten, darüber streiten und mir scheint, als hätten sie nie etwas von der Mathematik gehört.“
Es klingelte an der Haustür. Wie angekündigt waren Gerda und Conny angekommen. Wiwelé eilte zur Tür und tönte dabei ein wenig bissig: „Papa, ich habe gehört, es kommen dreißigtausend Green-cart-Inder nach Deutschland. Unterrichten diese dann vielleicht auch unsere Lehrer, Dozenten und andere Promis?“
Vorwort: Eigentlich ist es völlig egal, ob am 1.1.00 oder am 1.1.01; was macht es schon? Aber wenn einige meinen, sie wären sehr schlau und müßten andere für dumm halten, dann ärgert mich das schon; denn ich gehöre zu den anderen. Ich habe lange gebraucht, das Thema in Worte zu fassen. Jetzt ist mir eine Form gelungen, bei der ein "fabel"-hafter Vater seiner Tochter die Zusammenhänge erklärt.
Die Erzählung:
Aber, aber Herr Professor?
„Papa!“ So kam sie ins Wohnzimmer gestürmt – die zweite Silbe langziehend und fragend. Die Tür zum Schlaftrakt fiel ins Schloss. Sie versuchte ihre Unsicherheit zu überspielen, was ihr misslang.
Vater Wowalu, versunken im behaglichen Ohrensessel nahe dem geöffneten Fenster, las das Buch „Mythos Jahrtausendwechsel“. Angeregt durch den einer wissenschaftlichen Feder entflossenen Artikel „Keine Zeit für das Jahr Null“ in der Silvesterausgabe der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung, hatte er beschlossen, sich mit diesem Thema zu befassen.
Endlich hob er den Kopf, lächelte seiner zwölfjährigen Tochter zu und fragte: „Nun, was ist, Wiwelé?“
Sie hatte sich auf dem Teppichboden niedergelassen und geduldig gewartet, bis er ausgelesen hatte. Sie wusste genau, dass er es nicht ausstehen konnte, unterbrochen zu werden.
Sie blickte nicht auf und murmelte verschämt: „Ich brauche deine Unterschrift.“ Dann streckte sie ihre Hand aus und reichte ihm das aufgeschlagene Schulheft. Als sie nun doch ihre blonden Locken nach hinten strich, sah er in ihre feuchten, schon glänzenden Augen. Die erste Träne drohte zu kullern. „Der Lehrer sagte heute, ich sei dumm. Und wenn ich so weitermache, dann werde ich nicht versetzt, hat er gedroht!“ So quoll es kaum hörbar und stockend aus ihrem Mund.
Gerührt setzte sich nun Wowalu zu ihr auf den Boden und strich ihr liebevoll übers Haar. Es war bedrückend mit anzusehen, wie sehr sie unter der Verwarnung des Lehrers litt. Gequält und schockiert saß sie da wie ein kleines Häufchen Elend.
„Hat der Lehrer auch gesagt, warum du dumm bist?“ fragte Wowalu einfühlsam.
„Nein! Aber ich verstehe überhaupt nichts von dem, was der uns einbläuen will – selbst wenn ich mich noch so anstrenge. Ich möchte am liebsten alles hinschmeißen.“
„Na,“ versuchte er sie zu beruhigen, „dann lernst du erst recht nichts und wirst ewig dumm bleiben! Möchtest du, dass dein Lehrer recht behält?“ Und nach einer Atempause fragte er weiter: „Aber sag’ mir, bist du die Einzige in der Klasse, die so dumm ist und nichts versteht oder wie viele sind es in deiner Leidensgemeinschaft, die alle nichts kapieren?“
„Das weiß ich nicht so genau,“ erwiderte sie zögernd und grübelnd zählte sie an ihren Fingern ab, „es sind bestimmt elf, vielleicht sogar dreizehn.“
„Und wie viele sind insgesamt in deiner Klasse?“
„Zweiunddreißig sind wir – achtzehn Mädchen und vierzehn Jungs – aber das weißt du doch.“ Sie wurde ein wenig kecker und gewann erneut Vertrauen zu sich selbst und ihrer Welt.
„Richtig, aber das hätte sich doch auch in letzter Zeit noch etwas ändern können, oder?“ begründete er seine Frage und sagte dann: „Hast du schon errechnet, wie viel Prozent es sind, elf oder gar dreizehn von zweiunddreißig?“
Ihre Augen wurden größer und ihr Gesicht nahm ernste Züge an. „Ja!“, sagte sie, „das ist ja ein Drittel, sogar mehr – daran habe ich noch gar nicht gedacht.“
Er spornte sie weiter an: „Nimm deinen Rechner und schau, wie viel dreizehn von zweiunddreißig sind. Ich wette mit dir, dass das bei vierzig Prozent liegt!“
Wiwelé stand auf, holte den Taschenrechner aus der Schultasche, tippte die Werte ein und sagte selbstsicher: „Vierzig Komma sechs Prozent!“
„Na ja!“, dämpfte Wowalu nun, „allzu froh solltest du darüber wiederum nicht sein; denn du gehörst ja nicht gerade zu denen, die den Unterrichtsstoff verstanden haben! Aber eine so hohe Zahl von Schülern, die den Lehrstoff nicht verstehen, kann auch ein Indiz dafür sein, dass dein Lehrer es nicht vermag, den Unterrichtsstoff zu vermitteln. Ich könnte auch sagen: ,du hast einen dummen Lehrer‘! Ich will damit nur ganz allgemein sagen, dass es schwierig ist festzustellen, wer also dumm ist. Einen anderen für dumm zu halten, ist so einfach und deshalb sind wir auch so flink dabei! Aber nur allzu oft ist derjenige dumm, der andere dafür hält! Diesen Leuten fehlt es zudem an der Fähigkeit zur Eigenanalyse. Oft haben sie dazu die bessere Position inne und leisestes Hinterfragen gerät schnell zum Nachteil!
Derjenige, der andere für dumm hält, läuft leicht Gefahr, den anderen zu unterschätzen! Daher möchte ich dir raten: Halte andere nicht für dumm und misstraue denen, die dich für dumm halten! Glaube mir, irgendwie sind wir alle einwenig dumm und zugleich auch einwenig schlau!“
„Papa, bekomme ich jetzt deine Unterschrift?“ bat Wiwelé unvermittelt.
„Hast du es eilig?“ fragte Wowalu neugierig zurück. „Wartet jemand auf dich? Bist du verabredet?“
„Ja,“ enthüllte sie ihm, „in einer Stunde kommen Gerda und Conny. Ich wollte noch vorher meine Hausaufgaben machen.“
„Ok!“ sagte er, „ich möchte dir einen Vorschlag unterbreiten. Gib mir dein Schulheft. Ich möchte es mir noch näher ansehen und ebenso die Hausaufgaben, die du zu machen hast. Und wenn Gerda und Conny heimgehen – um acht müssen die doch bestimmt wieder zu Hause sein – dann machen wir zusammen deine Hausaufgaben und ich unterschreibe nachher. Jetzt aber möchte ich dir etwas von dem erzählen, was ich gerade hier im Buch gelesen habe, als du hereinkamst. Das hat nämlich auch etwas mit Lehrern zu tun; denn auf der Rückseite des Buches steht im Klappentext: ,Eine Fundgrube für Publizisten, Pädagogen, Pfarrer und Gruppen in Politik, Schule und Gemeinde’. – Also auch für Lehrer! Möchtest du wissen, was in der Fundgrube zu finden ist?“
„Ja! Erzähl! Bis Gerda und Conny kommen, dann hören wir auf! Ja?“
„Dann will ich mich beeilen. Zuerst lese ich dir einen Satz auf der Seite 15 vor: ,... das neue Jahrtausend beginnt, allen anderslautenden Gerüchten zuwider, mit dem 1. Januar 2001, ebenso, wie wir die einundzwanzigste Flasche dem neuen Bierkasten entnehmen müssen, nicht Flasche 20.’ Was meinst du, ist diese Behauptung logisch und richtig?“
„Ehrlich, da habe ich noch nicht drüber nachgedacht. Aber so auf Anhieb erkenne ich nichts Falsches. Mir scheint nur, dass es ein etwas schrulliger Vergleich ist!“, war Wiwelé’s Antwort.
„So wie dir, wird es wohl vielen ergehen. Aber wenn ich etwas schreibe und meine Ergüsse den Lehrern und Schulen empfehlen wollte, dann würde ich über solche aufklärerischen Behauptungen vorher genauestens nachdenken und nicht auf halben Wege stecken bleiben. Behaupten ist einfach, aber um solche Behauptungen zu beweisen, muss über sie sorgfältig nachdacht werden. Das machen wir jetzt gemeinsam, Ok?“ Sie nickte zustimmend und ihr Vater fuhr mit ein wenig Ironie fort:
„Um dabei geistig ,voll am Ball’ zu bleiben, sollten wir die Halbliter-Bierflaschen nicht austrinken! Das würde wahrscheinlich unsere Gehirne und damit das Zählen beeinträchtigen!“ Wiwelé kicherte belustigt, dann lauschte sie gespannt. „Wir nehmen einen Zehn-Liter-Behälter mit Litereinteilung und füllen die Bierflaschen einzeln hinein. Die erste Flasche füllt das leere Gefäß von Nichts oder ,Null’ an mit dem ersten halben Liter. Nach der zweiten Flasche ist ein Liter eingefüllt. Nach der dritten Flasche sind ein und ein halber Liter eingefüllt. Nach der vierten Flasche sind es jetzt schon zwei Liter. Kannst du mir folgen?“
„Ja! Wir sind bei ,Null’ angefangen, das ist doch kinderleicht! Nach sechs Flaschen sind es drei Liter, nach acht Flaschen sind es vier Liter. Wenn wir das verdoppeln, dann sind es nach sechzehn Flaschen acht Liter, nach achtzehn Flaschen neun Liter, nach neunzehn Flaschen sind es neun und ein halber Liter.“, führte Wiwelé die Rechnung eifrig fort.
„Du siehst, du bist gar nicht dumm. Dir muss das nur richtig veranschaulicht werden! Es ist also die zwanzigste Flasche, die das Zehn-Liter-Gefäß bis zum Rand füllt.
Jetzt aber müssen wir ganz exakt und höchst penibel weiterarbeiten. Solange noch drei Tropfen in der zwanzigsten Flasche verbleiben, solange sind im Zehn-Liter-Gefäß erst 9,999999... Liter. Erst die letzten drei Tropfen aus der Flasche ‚Zwanzig’ füllen das Gefäß randvoll auf zehn Liter!
Und schon der erste Tropfen aus der ‚einundzwanzigsten’ Flasche würde das Gefäß zum Überlaufen bringen, wenn da nicht noch andere physikalische Einflüsse wären. Was folgern wir daraus?“
„Richtig!“, sagte Wiwelé, „so wie der eine Pfennig, den wir zu 99,99 DM hinzufügen, den ersten Einhundert-Markschein voll macht, so beginnt auch der zweite Einhundert-Mark-Schein mit dem ersten Pfennig über 100,00 DM und nicht erst nach der ersten vollen Mark über 100,00 DM – also bei 101,00 DM. Und gleichfalls nicht mit dem ersten vollen Groschen über hundert Mark bei 100,10 DM. Dies können wir auf den Euro ebenso anwenden wie auch auf die Zeitrechnung! Das dritte Jahrtausend begann also schon am 1. Januar 2000! Genau mit der ersten Sekunde nach Mitternacht des Silvesterabends 1999!“
„Ist es nicht komisch, das solche Fehler in empfohlenen Büchern für Lehrer und andere Gebildete vorkommen?
Aber höre noch einmal zu! Der Autor sagt auf Seite 17: ,... die Konsuln des Jahres 1 n. Chr. folgen unmittelbar auf die Konsuln des Jahres 1 v. Chr., sodass es kein Jahr Null gibt.’ Was fällt dir dabei auf?“
Wiwelé ist verwirrt und überlegt. Nach kurzer Pause versucht der Vater, ihr eine Gedankenbrücke zu bauen.
„Ich wollte heut Morgen nach dem Frühstück eine Zigarette rauchen und als ich die Streichholzschachtel öffnete, da war diese leer! Ich hatte also eine Dose Streichhölzer mit null Streichhölzern! Ja?“
„Sag’ bloß, du rauchst wieder?“ fragte sie entsetzt.
„Nein, nein!“, beruhigte er sie, „ich hatte keine Streichhölzer und blieb deshalb meinem Vorsatz treu.“
„Das freut mich“, sagte Wiwelé und fuhr dann fort, „eine Dose Streichhölzer ohne Inhalt – mit null Streichhölzern! – ist gewissermaßen auch mit einem Jahr ‚Null’ – mit null Monaten, null Wochen und Tagen, null Stunden, Minuten und Sekunden – vergleichbar! Das Jahr ,Null’ kann daher nicht eine ,Zeitspanne’ sein, sondern das Jahr ,Null’ ist nur ein ,Zeitpunkt’ – etwas ohne Dauer, ohne Ausdehnung! Es ist kein richtiges Jahr – es ist nur ein Wendepunkt!“ Nach einer Pause, in der ihr scheinbar tausend Fragen durch den Kopf schossen, ergänzte sie nachdenklich: „Ohne Ausdehnung – doch nur theoretisch! Ja, aber praktisch ist es der Moment, in dem die Nabelschnur des kleinen Knaben durchtrennt wird – dieser Zeitpunkt ist der Abschluss der Geburt, nach der sich unsere christliche Zeitrechnung sozusagen ausrichtet.“ „Du hast es erfasst“, meinte nun Wowalu, „aber es gibt auch Leute, die doch wirklich in einer Zahlenskala die Ordnungszahl ‚Null’ als realen Wert einbauen wollen – vielleicht nur, um doch noch Recht zu behalten – anders kann ich es mir nicht erklären.“
Die Mutter Wowali hatte das Gespräch mitangehört und kam jetzt mit einem Vorratsbehälter ins Wohnzimmer. „Ich habe hier eine Zuckerdose mit null Kilogramm Zucker!“, behauptete sie und Wiwelé fragte spontan: „Könnten es nicht auch null Kilogramm Salz sein?“ „Nein!“, kam triumphierend die Antwort, „Es steht doch ,Zucker’ auf dem Etikett!“ Und Wowali drehte lachend den Schriftzug auf der Dose in unsere Blickrichtung.
„Ich habe gehört“, mischte sie sich jetzt weiter in das Gespräch ein, „dass Jesus drei oder sogar sieben Jahre vor unserer Zeitrechnung geboren worden sein soll.“
„Stimmt, diese Annahmen habe ich in diesem Buch auch nach-lesen können.“, bestätigte ihr Mann und ergänzte, dass der Autor auf derselben Seite weiter ausführt, dass vom 17. August 1 v. Chr. bis zum 17. August 1 n. Chr. nur ein einziges Jahr verflossen sei und dass deshalb einige Leute in der Geschichte zum falschen Zeitpunkt die Jahrtausendfeier zelebrierten.
„Entschuldige Papa,“ unterbrach Wiwelé, „wenn die Zeitrech-nung vor Christus rückwärts zählt, wie kann dann der Kalender vorwärts zählen? Wäre es da nicht auch logisch, Tage, Wochen und Monate rückwärts zu zählen?“ Sie unterbrach sich selbst, um dann fortzufahren: „Ach, nein, das ist Unsinn; denn die Uhren hätten ja auch rückwärts laufen müssen! Vielleicht ist es gut, dass es zu der Zeit noch keine mechanischen Uhren gab!“
„Du hast recht!“, lachte Wowalu, „die heutige Zeitrechnung ist erst viel später entstanden. Der Zeitpunkt des Beginns der Zeitrechnung war schon lange vorbei. Heute wissen wir – Mutti sagte es schon – mit großer Wahrscheinlichkeit, dass Jesus schon ein paar Jahre alt war, als unsere Zeitrechnung begann. Da gibt es einige Unstimmigkeiten in den überlieferten Schriften. Es ist schon beinahe lächerlich, sich darüber zu streiten.“
„Und warum erzählst du mir das alles, wenn es eigentlich doch lächerlich ist?“
„Weil es zugleich sehr traurig ist. Ich hörte viele Leute, die sich für sehr gebildet halten, darüber streiten und mir scheint, als hätten sie nie etwas von der Mathematik gehört.“
Es klingelte an der Haustür. Wie angekündigt waren Gerda und Conny angekommen. Wiwelé eilte zur Tür und tönte dabei ein wenig bissig: „Papa, ich habe gehört, es kommen dreißigtausend Green-cart-Inder nach Deutschland. Unterrichten diese dann vielleicht auch unsere Lehrer, Dozenten und andere Promis?“