wardah

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Mimi

Mitglied
wardah


er zeichnet mich neu
mit lippen zähnen händen
jeden quadratzentimeter
bis der schmerz mich hebt
aus den gräbern der toten

ein aufbegehren
gegen das grau einer stadt
die schon im morgenlicht glüht

wir sind wie tiere
getrieben von instinkten
reiben uns aneinander
bis die erschöpfung uns bricht

einst
in einem anderen leben
rankten
granatapfelrot
rosen
an den mauern meines großelternhauses

eine rose für die schönste rose bagdads
das lächeln des großvaters verblasst
die augen der großmutter im gleißenden licht
zu schlitzen verengt
niemand ruft meinen namen
wardah
als hätte ich nie einen namen gehabt



(Der Name "Wardah" bedeutet im Arabischen "Rose")
 
Zuletzt bearbeitet:

Frodomir

Mitglied
Liebe Mimi,

das ist ein Gedicht mit deiner Handschrift. Würde dein Name nicht darüber stehen, ich würde es dennoch als eines von dir erkennen. Du schreibst mit einer dir eigenen Mischung aus Stolz, Wehmut und Würde - und orientalischer Exotik. Dabei haben deine Texte oft, so auch hier, noch eine erotische Komponente, dezent, auf das Feingefühl zielend.

Mein Gefühl wird durch dieses Gedicht jedenfalls berührt, aber auch sprachlich. So ist mir besonders Vers 4 in Strophe 1 aufgefallen:

bis der schmerz mich hebt
Dadurch, dass du das Wort mich unbetont gelassen hast, aber schmerz und vor allem hebt betonst, tritt das Selbst des Lyrischen Ichs in den Hintergrund und die, von mir auch in einem erotischen Kontext gelesene Szene, steigert sich beinahe orgasmisch bis zu einem Höhepunkt, der jedoch das Unangenehme mit sich trägt, denn es ist ja nicht der Schmerz, den man sich ersehnen wollte.

Wenn ich diese Strophe lese, dann spricht für mich da auch eine gesellschaftskritische Perspektive aus den Zeilen. Ich sehe hier eine Bearbeitung leiderzeugender und aus unserer Sicht anachronistischer Mann-Frau-Beziehungen in arabischen Ländern, in denen die Frau ihre Lust und Körperlichkeit nicht in würdevoller Freiheit genießen darf, sondern stets der Schmerz der Unterdrückung weitererlebt wird.

Bleibe ich bei dieser Lesart, dann wird im Verlauf des weiteren Gedicht das rein Körperliche, Animalische gegen diese unterdrückende Kultur gestellt. Ein aufbegehren, dass Erinnerungen an eine Ursprünglichkeit weckt. Es klingt, als hätte es einst eine Zeit gegeben, in der Freiheit, Liebe und Sexualität im Einklang standen, auch für Frauen.

Das Gedicht endet jedoch beinahe grausam:

niemand ruft meinen namen
wardah
als hätte ich nie einen namen gehabt
Die Frau, um die Anerkennung ihrer inneren und äußeren Schönheit betrogen, wird somit um ihr Wesentliches gebracht. Wenn ihr dieses "Rosesein" nicht gestattet wird, dann wird sie nie zur Blüte kommen, nein, sie ist sogar schon verblüht, bevor sie überhaupt ihre ersten Triebe entwickeln konnte.

Nun, möglicherweise habe ich das Gedicht völlig anders gedeutet, als es in deinem Sinn lag. Aber so, wie ich es für mich gelesen habe, sehe ich hier ein mächtiges, ja existenzielles Gedicht, was leider nicht gut endet, aber gerade deshalb eine starke emanzipatorische Kraft entwickelt. Denn für so ein Schicksal, will man sagen, ist der Mensch, und gerade die Frau, nicht geschaffen.

Zum Schluss möchte ich noch höflichst ein fehlendes e anmerken in Strophe 4, letzter Vers: meines großelternhauses

Ein kraftvoll-tragisches Gedicht, starke Lyrik!

Liebe Grüße
Frodomir
 

Tula

Mitglied
Hallo Mimi
Dem stimme ich gern zu, wüsste nur gern wofür bzw. für wen wardah tatsächlich steht.

LG Tula
 

Mimi

Mitglied
Lieber Frodomir,

vielen Dank für Deine einfühlsame und sehr ausführliche Rückmeldung.
Besonders Deine Leseart des Verses bis der schmerz mich hebt fand ich sehr interessant – Du hast genau dieses paradoxe Moment von Schmerz als Lebendigsein erfasst.

Dieses Gedicht ist tatsächlich aus meiner Kurzprosa "Bagdad realoded: Wardah" hervorgegangen, sozusagen ist es eine verdichtete, lyrische Form der oben genannten Prosa.
Es existiert auch eine zweite Kurzprosa im Zusammenhang mit Wardah, hier aber aus der Perspektive des "er" erzählt, mit dem Titel "Bagdad realoded: Tarek".

Deine Deutung empfinde ich nicht als „falsch“, sondern als eine mögliche, starke Resonanz. Für mich ist genau das wichtig: dass der Text auch jenseits meiner Intention eigene Bedeutungsräume öffnet.

Das fehlende e nehme natürlich dankend an –
habe ich glatt übersehen ... :)


Nochmals danke für Deine so differenzierte und wertschätzende Leseart.


Gruß
Mimi
 

Mimi

Mitglied
Dem stimme ich gern zu, wüsste nur gern wofür bzw. für wen wardah tatsächlich steht.
Hallo Tula,
Puh ... gute Frage ... hmmm..

Zunächst steht Wardah für mich auf zwei Ebenen: Sie ist "konkrete" Figur, ein junges Mädchen, das in einem von Krieg und Aggression geprägten Land Gewalt und Sprachlosigkeit erlebt.

Aber zugleich ist Wardah für mich auch eine Verdichtung, fast eine Chiffre – für Frauen, die im Krieg auf ihre Körper reduziert werden, für unterdrückte Stimmen, für ein Land, das verwundet und irgendwie verstummt ist.

Dankeschön fürs Feedback und die gute Bewertung.

Gruß
Mimi
 

Rachel

Mitglied
Du hast genau dieses paradoxe Moment von Schmerz als Lebendigsein erfasst.
Ich würde es nicht paradox nennen, liebe Mimi, wenn ich dem Phänomen Schmerz über die Sprache (Schall und Rauch) Bedeutung zuschreibe oder reinlege (wie ihn austricksen zu irgendwas). Der Blick geht (wenn wehleidig) nur zurück, wieder kein Lachen Im Namen der Rose, er bleibt schmerzverliebt. Schmerz hebt mich nicht.

er zeichnet mich neu

er zeichnet im Gedicht nicht einmal Lebendigsein sprachlich neu. Schmerz ist (bei mir) horizontal/mental/physisch usw. doch vor allem Reaktion - nicht Aktion. Und die fehlt nach vorne ... echt schade.

LG, Rachel
 

Mimi

Mitglied
er zeichnet im Gedicht nicht einmal Lebendigsein sprachlich neu. Schmerz ist (bei mir) horizontal/mental/physisch usw. doch vor allem Reaktion - nicht Aktion. Und die fehlt nach vorne ... echt schade.
Liebe Rachel,

danke Dir sehr für Deine ehrliche Rückmeldung:
Du schreibst, Schmerz sei Reaktion und nicht Aktion, und dass das „hebt“ im Vers deshalb nicht stimmt. Darüber habe ich nachgedacht ...

Kurz und klar: Ich habe nicht gemeint, Schmerz sei schöpferisch oder heilend. Wenn ich schreibe "bis der schmerz mich hebt", dann meine ich damit keinen Fortschritt, keine Hinbewegung in eine bessere Zukunft.
Ich meine einen schmalen, existenziellen Impuls, ein Art Aufrichte-Reflex des Körpers gegen das völlige Erstarren /Verstummen. Nicht Aktion im klassischen Sinn, sondern ein letztes Spüren, das das Ausradieren (kurz) unterbricht.

Und zu "er zeichnet mich neu": Das ist bewusst nicht als Selbsterschaffung gemeint, sondern als Fremdmarkierung. Es beschreibt, wie Gewalt den Körper umschreibt, eine Handlung, die an Wardah vollzogen wird, nicht von ihr. Ich glaube darin liegt die von Dir bemängelte "Asymmetrie".
Aber Handlung fehlt ihr, weil Handlung ihr genommen wurde.

Dein Einwand stellt für mich die entscheidende Frage:
Ob man hier im Gedicht überhaupt noch von „Aktion“ sprechen kann, oder ob "Reaktion" nicht längst zur einzigen möglichen Form des "Handelns" geworden ist.

Gruß
Mimi
 



 
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