„Warme Stille"

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Raimund

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Einst stand hier eine Telefonzelle, nun findet sich ein offener Bücherschrank wieder. Neben der Parkbank, die eine Ruheoase für sich darstellt, findet sich dieses Kleinod der Literatur und des geschriebenen Wortes, dass jeder in der Hand halten und darin lesen kann.

Der Preis? Keinen Cent, es ist kostenlos, sich ein Buch zu nehmen, darin zu lesen und währenddessen auf der Bank zu sitzen, und, sofern alle Prognosen eintreffen, bald den warmen Frühling in der Sonne sitzend zu genießen.

Als hier noch telefoniert wurde, da stand der Mensch alleine darin, suchte und fand oft eine Verbindung, mit den Münzen in seiner angefüllten Tasche. Und während die Minuten vergingen und neues Geld eingeworfen wurden, da war es das gesprochene Wort, das inzwischen verstummt ist.

Was wurde wohl alles hier herinnen besprochen? Waren es Neuigkeiten? Verzweifelte Anrufe? Tränen, die auf den stählernen Boden der Telefonzelle tropften? Waren es stundenlange Monologe oder vertraute Worte von Verliebten, die durch die unsichtbaren Leitungen der Zelle miteinander verbunden waren? Hat wer die Worte und die Silben gezählt, die in all den Jahrzehnten dieser Telefonzelle geredet und geflüstert, geschrien und verschwiegen wurden? Konnte der Wert einer Münze den Wert eines Wortes wiedergeben? Der gleiche Preis für unterschiedliche Meinungen, und wurde der Inhalt vertraulicher und interessanter, im Laufe der Dauer eines Telefonates? Hatte man sich noch viel zu erzählen, wenn die Leitung abbrach, weil kein Geld mehr vorhanden war? Was hätte man sich noch sagen wollen, währenddessen die Verbindung unterbrochen wurde, und wann endete die Fortsetzung?

Soviele Fragen, die unbeantwortet und stumm in der Leere der Zelle schweben. Ja, sie schweben, sie bleiben darin, denn sie sind nicht verloren, sie sind wie der Sand in der Wüste, der sich verweht, aber niemals verschwindet. Und sie rinnen durch die Zeit.

Nun finden wir Bücher hier herinnen. Sie haben denselben Wert, zumindest einige davon, und sie ruhen nun aneinander gereiht. Sie spenden Erkenntnis und Trost, Abwechslung und Spannung und sie geben und geben und nehmen ein. Ich behaupte, dass nun mehr Worte hier zu finden sind, als in allen Konversationen davor.

Vergangenen Winter hinterlegte ich einige Bibeln von Papa darin. Er kann nun nichts mehr damit anfangen, und ich habe eine weitere von ihm zu Hause und bewahre sie in Ehren. Ich dachte mir vor Monaten, dass diese ehemalige Telefonzelle ein guter Ort für die Bewahrung der kostbaren Bücher ist. Heute spazierte ich vorbei, machte einen Blick und sah, dass sie weg waren. Viele andere Bücher sind noch weiter darin zu finden, aber die einzelnen Bibeln von Papa sind nun in fremden Händen. Ich denke, das hätte ihm gefallen, dass nun jemand anderer darin liest und sie somit weiterhin Trost und Ruhe spenden.

An einem vertrauten Ort steht weiterhin die verstummte Telefonzelle. Wenn es Zufall war, dann war es ein guter Zufall, dass gleich daneben eine Parkbank und in unmittelbarer Nähe ein Park zu finden ist.

Offene Bücherschränke, wie diesen hier, gibt es bekanntlich in ganz Wien. Wenn so ein Ende eines Fortschrittes aussieht, und damit Ruhe und Genuss Hand in Hand sind, dann wünsche ich mir für die Zukunft, dass wir uns alle an einem Ort wiederfinden, der von Hektik und lautem Telefongeräuschen, Einsamkeit und Unruhe, weit entfernt ist. Wenn dann daneben Blumen blühen, die Bank zum Verweilen einlädt und nichts dafür verrechnet wird, und Lebensgenuss in seiner schönsten Form wächst, dann sollte jedes Telefonat letztendlich so enden, findet ihr nicht auch?
 



 
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