Was?

Hans Dotterich

Mitglied
Was?


Ich verstehe es nicht. Was bedeutet denn das? Keine Ahnung, ich verstehe es einfach nicht. Kann mir keinen Reim darauf machen. Können Sie mir vielleicht sagen, was das ist, haben Sie so etwas schon einmal gesehen oder erlebt, oder davon gehört? Waren Sie schon einmal in einer Lage, dass Sie etwas nicht verstanden haben und dass es Ihnen fremd war, so unangenehm fremd, dass Sie keine Worte fanden, keine Ähnlichkeit mit irgendetwas erkennen konnten, das Ihnen vertraut war? Mir jedenfalls ist es ein Rätsel. Ich habe das noch niemals erlebt oder auch nur eine Ahnung davon, dass es irgendjemandem begegnet sei. Man hat mir nichts davon gesagt. Mir fehlt dazu jede Vorstellung, keine Idee, was das ist. Das ist mir noch nie passiert. Wie soll ich es Ihnen erklären? Ich weiß es nicht.

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Vielleicht sollte ich Erwin Neumann anrufen und ihn fragen, was das ist. Sie werden Erwin Neumann wohl nicht kennen, nein, nein, sicher nicht. Das ist schon sehr lange her, dass ich zuletzt mit ihm gesprochen habe. Aber ich kenne ihn gut. Er ist ein sehr liebenswürdiger und hilfsbereiter Mann. Und er ist weit in der Welt herumgekommen. Ihn könnte ich fragen, sicher. Wenn mir jemand weiterhelfen kann, dann Erwin Neumann. Er könnte mir ganz bestimmt weiterhelfen.

„Ja, da müsste man einmal darüber nachdenken, nicht?“ Typisch Erwin. Ich würde ihn gleich nachher anrufen und ihm erklären, dass… ja, was würde ich denn sagen? Ich müsste es ihm irgendwie klarmachen und beschreiben, am Telefon, damit er sich Notizen machen könnte. Das ist ebenfalls Erwin Neumanns Gewohnheit. Ordentlich und präzise hat er von je her immer alles notiert, das er erfahren hat, bis ins Kleinste, und worum man ihn bat. Er hat darüber nachgedacht, und dann, sollte er nicht sogleich die Lösung haben, später wieder zurückgerufen. Das würde er ganz bestimmt nicht vergessen, gewissenhaft wie er ist, der Erwin. Doch, wie soll ich ihm die Sache am Telefon erklären? Ich verstehe sie ja selbst nicht. Nein, da käme ich mir blöd vor. Mir fallen dazu einfach keine Worte ein. Keine, die es irgendwie beschreiben.

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Ich bin bestürzt, ja entsetzt, dass etwas da ist, das man offenbar nicht in Worte fassen kann. Da fällt etwas wie ein Stein aus heiterem Himmel herunter, wie aus einer anderen Welt. Es drängt sich in den Blick, schiebt sich in den Vordergrund, ist plötzlich da. Durch den Zwang zur Wahrnehmung bohrt es sich ins Gehirn, ins Bewustsein. Ich fühle mich wehrlos. Ich schließe zur Abwehr die Augen, doch das hilft nicht. Kann es denn sein, dass nur ich allein dieses Problem habe, oder geht es auch Ihnen so?

Wenn es eine komplizierte Frage wäre, auf die ich keine spontane Antwort sagen könnte, die aber klar gestellt wäre, dann würde ich Sie nicht behelligen. Wieviel ist 3693 mal 7024? Nun, ich könnte es Ihnen jetzt nicht spontan sagen, aber ich könnte es nachrechnen, in wenigen Minuten. Oder was ist die siebzehnte Wurzel aus 35? Da bräuchte ich schon einen Taschenrechner. Trotzdem ist und bleibt es nur eine Rechenaufgabe. Zwei Zahlen, die miteinander zu einer Neuen verknüpft werden. Man kann etwas tun, um das klar und zweifelsfrei zu beantworten.

Eine Zahl ist nicht nur eine Mengenangabe. Eine Zahl ist das Versprechen einer lösbaren Aufgabe, eines Resultats. Zahlen repräsentieren Ordnung, Orientierung, Hierarchie. Man kann Zahlen addieren, multiplizieren, potenzieren. Es gibt unendlich viele Zahlen, eine schier unfassbare Menge davon.

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Doch darin besteht nicht das Problem, das mich nun ereilt hat. Es ist hier nicht die unfassbare Menge, die mich verwirrt und einschüchtert, nein, die Ordnung unter den Zahlen ist unfassbar mächtig. Nicht einmal ein Universum von Milliarden mal Milliarden von Sternen kann sich dieser Ordnung entziehen. In einer Hierarchie kann man jedes einzelne Element benennen. Es trägt einen Namen. Es steht in einer Beziehung zu anderen Elementen, wie die Fäden im Netz einer Spinne.

Haben Sie einmal versucht, die winzigen Spinnfäden eines solchen Netzes zu zählen, dass eine Spinne vielleicht in Ihrem Garten gewoben hat? Dann werden Sie das Wunder der Ordnung erkennen und darüber staunen, was selbst eine einfache Kreatur zu erdenken vermag. Stellen Sie sich eine ganz kleine Spinne vor, so klein, dass sie ihr Netz zwischen zwei Fäden im Netz einer größeren Spinne weben kann. Stellen Sie sich eine Welt mit Myriaden von Spinnenarten vor, kleinen und großen, die jeweils ihre Netze im Netz der nächstgrößeren Art aufspannen. Auch in einer solchen Welt herrscht Ordnung. Auch im Netz von Netzen von tausend verschieden kleinen und großen Spinnen reproduziert sich eine unendlich tiefe, vollkommene Ordnung, die die größere Spinne an ihre kleinere Schwesterspinne endlos weitergibt.

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Doch was ist, wenn etwas keinen Namen trägt, keinen Anfang und kein Ende zu haben scheint, wo man nicht sagen kann, ob es klein oder groß ist, worin es sich von anderen Dingen unterscheidet? Wie soll man etwas darüber denken oder sagen können? Etwas? Was ist „Etwas“? Ein Oberbegriff von Dingen ist es, die man benennen kann. Aber etwas, das man nicht benennen kann, das ist auch keine Auswahl von Dingen, die Namen tragen. Also ist es nicht „Etwas“. Ist es „Nichts“? Wenn „Etwas“ nicht einer Ordnung angehört, dann ist es „Nichts“.

Über „Nichts“ kann man nichts sagen. Doch! Man kann darüber etwas sagen, wenigstens, dass man darüber „Nichts“ sagen kann. Also kann man darüber doch etwas sagen. Dann ist „Nichts“ doch „Etwas“. Das ist nicht logisch, es führt nicht weiter, bloße Wortklauberei! Es ist ein Satz wie „Alle Kreter lügen, sagt ein Kreter“, „Der Satz, den du gerade liest, ist nicht wahr.“ Pah, kennen wir schon, werden Sie sagen, Sätze, die sich auf sich selbst beziehen.

Das ist nicht neu. Ich weiß, dass Erwin Neumann vor vielen Jahren das Buch „Gödel, Escher, Bach“ von Douglas Hofstadter gelesen hat. Damals ein Buch, das viel Aufsehen erregt hat, ein Bestseller. Ich habe es nicht gelesen. Erwin Neumann hat mir aber daraus erzählt. Darüber, dass vor einhundert Jahren ein österreichicher Mathematiker namens Kurt Gödel eine Tatsache bewiesen hat, jenseits allen Zweifels, eine Tatsache, die bis dahin niemand für möglich gehalten hatte, die ein Loch in das Netz der Ordnung gerissen zu haben schien. Dass es in der Logik, dem wichtigsten Ordnungsprinzip menschlichen Denkens schlechthin, Aussagen und Sätze gibt, die wahr sind, aber deren Wahrheit man nicht aus diesem Ordnungsprinzip heraus beweisen kann! Es gibt mehr zu sagen als Menschen erdenken und vorausberechnen können.

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Doch selbst die Erkenntnis Gödels hilft mir nicht. Was ist denn der Satz, den ich verstehen und beweisen könnte, oder woran ich wenigstens scheitern könnte, wie es Kurt Gödel einst aufgezeigt hat? Das ist hier das Problem. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob es hier vielleicht überhaupt nichts zu sagen und zu verstehen gibt.

Aber, gesetzt diesen Fall, dass es nichts gäbe, das man darüber sagen könnte, dann wäre ich schon längst davon abgekommen mich damit zu befassen. Ich wäre damit zufrieden zu sagen, dass es das alles gar nicht gibt. Doch genau das ist falsch! Die Sache ist unbestreitbar da, sie ist unübersehbar, sie fordert drohend nach meiner Stellungnahme.

Ich verstehe die Sache nicht, ich verstehe die Ursache nicht, weshalb ich sie nicht verstehe und ich verstehe auch nicht, was ich davon erwarten könnte, wenn ich sie plötzlich verstünde, und was ich mit dem Verständnis anfangen könnte, oder von welcher Art dieses Verständnis wäre. Ist es eine Zahl, oder vielleicht doch ein Satz, den ich aufschreiben könnte, wie Erwin Neumann es sicher ebenfalls täte? Würde er den Satz verstehen, inhaltlich, meine ich, oder wäre der Satz nur eine sinnlose Aneinanderreihung von Worten?

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Denken Sie an folgendes Beispiel: „Kaiser Nero lötet Pflaumen“. Ein deutscher Satz ist das, formal korrekt, wenn auch völlig rätselhaft. Blühender Unsinn, werden Sie sagen. Auch Ich kann mir darunter nichts vorstellen, kann Ihre Fassungslosigkeit nachvollziehen. Aber ich kann mir diesen Satz merken, ihn aufschreiben und ihn weitersagen. Ich könnte Erwin Neumann anrufen und ins Telefon „Kaiser Nero lötet Pflaumen“ sagen. Ob er damit etwas anfangen könnte?

Eine verschlüsselte Nachricht könnte es sein, dieser Satz. Verschlüsselt zwar, aber nicht von mir und nicht von Ihnen, nicht wir sind es, die den Kode kennen. Kaiser Nero lötet Pflaumen? Mir kommt jetzt das Bild von einen zitternden alten Mann in einem langen purpurfarbenen Mantel in den Kopf, eine Krone auf dem ausgezehrten, kahlen Schädel. Ein brennendes Licht oder eine Fackel hält er in der Hand. Er tappt schwankend hoch oben über die Zinnen seiner Burg, oben auf dem Mauergrat der letzten Festung, die ihm geblieben ist.

Wusste man im alten Rom überhaupt, was Löten bedeutet? Vermochte man damals mit der Hitze geschmolzenen Metalls Teile zu einem Ganzen zu fügen? Vielleicht wollte Nero genau das für sich erfinden, damit es seinem kaiserlichen Willen dienen sollte, um jeden Preis.

Dann hat ein unsicherer Schritt ihn über seinen langen Mantel straucheln lassen. Seine Fackel ist ihm im Sturz aus der Hand entglitten und tief hinuntergefallen, einem glühenden, Funken sprühenden Meteor gleich. Immer schneller rasend fiel das glühende Werkzeug, immer heißer brennend, einen blendenden Schweif von gleißendem Gas ausstoßend. Das Feuer hat beim Aufprall die Erde entzündet und Rom in Brand gesteckt.

Oder war es anders? Doch, es war anders: Nero schleuderte die Fackel mit Absicht, als er verstand, dass sich die Welt unter seinen Füßen nicht fügen ließ? Als die Ultima Ratio aus seiner furchtbaren Not, dass das Wort eines Kaisers bar sei jedes verständlichen Sinns.

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Die Pflaumen! Was lötet einer Pflaumen? Sie sind eine Metapher. Die Pflaume reift im heißen Sommer. Will man die Frucht genießen, dann muss man sie bald ernten, ehe sie verdirbt, von Schimmel befallen, mit fadem Geruch verfault und von Maden aufgefressen wird. Ehe sich ein Schwarm von dicken, aggressiven Aasfliegen daran zu weiden beginnt. Schwarz schillernde, hecktisch kreisende Insekten, die jede eine hundertfach größere Brut ihrer selbst in sich trägt und nährt, um sie bald in die Welt zu entlassen. Denn diese Brut wird ihrerseits wieder eine neue Brut heranziehen, um in Millionen von Generationen die Welt auszusaugen, zu verflüssigen, in einen strudelndes, unentrinnbares Kontinuum giftiger Lauge zu verwandeln.

Sie alle entstammen einer garstigen Hölle, in die der Mensch nur unter dem Mikroskop eindringen kann, in der Tiefe der Vergrößerung, die aber von außen unsichtbar bleibt. Dann sieht er ihre widerwärtigen Werkzeuge, behaarte Zangen und Bohrer, warzenartige Tracheen, aus denen fauliger Atem entströmt, den klebrigen Rüssel, alles ansaugend und betastend, und der es mit grünem Geifer aus Verdauungssäften überzieht. Geäderte Flügel, pulsierend von trübem Sud. Daher, aus dieser Einsicht hat Nero die Pflaumen verbrannt, um das der Welt zu ersparen! Die kaiserliche Vision einer unentrinnbaren Not.

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Wie komme ich auf diesen dummen, sinnlosen Satz? Kaiser Nero lötet Pflaumen! Wenn man darin einen Sinn sehen wollte, müsste man dann nicht an jedem Wort argwöhnen, wo immer es steht, dass es tausendfache Gefahr in sich trägt, ein Puzzlestein ist zu einer grauenvollen, sich uns unvermeidlich aufdrängenden, bald lostobende Existenzschlacht?

Wenn selbst ein beliebiger, wirrer Satz einen Sinn in sich trägt, eine fremdartige Sache beschreibt, sei sie auch nur im Zustand der Irritation, des Wahns, der Furcht zu erahnen, enthält dann nicht jeder wirre Satz, jeder Satz aus beliebig gewürfelten Worten Wahrheit? Eine Wahrheit, der wir nicht gewachsen sind, die wir nicht verstehen können, weil wir dagegen keine Fackel und kein Mikroskop haben. Weil das Wort „Sinn“ keinen Sinn enthält. Was mich jetzt sorgt, was ich nicht verstehe und das ich Ihnen so gut ich konnte beibringen wollte, birgt Gefahr. Darüber besteht kein Zweifel. Was ist der Satz, den ich Ihnen zurufen müsste, damit wir alle ihn ergründen, die Not, in der wir schweben, Sie, ich und Erwin Neumann?

Ein Satz sicherlich, der Stunden konzentrierten Denkens fordert, um sich zu öffnen. Der eine erschütternde Gewissheit offenbart. Eine Gewissheit von einer Art, die uns allen neu ist, die niemand je in Betracht gezogen hat, die der Vision harrt. Wie eine Aasfliege auf die günstige Sekunde der Aussaat wartet, dass ihre Brut gedeiht, so wartet der Satz, warten Millionen von Sätzen auf Sie und auf mich. Die das Vermögen in sich tragen, die die unvorstellbare Gefahr bergen, sich in der Welt auszubreiten, die dann aus dem Kadaver der Welt neue Sätze entweichen lassen, ehe dieser zu Staub zerfällt. Die uns verschlingen, die wir unvorbereitet sind und arglos vor uns hin vegetieren.

Ein Satz, einmal gesagt, einmal auch nur gedacht, kann aus dem Bewustsein nicht wieder ausgelöscht, nie wieder negiert werden. Niemals mehr! Wenn auch nur ein Telefon auf der Welt ihn erfährt, dann klingeln bald alle Telefone, und aus allen tönt dieselbe Gewissheit. Dann steht Rom wieder in Flammen. Unwiederbringlich verloren ist die Gnade der Unwissenheit, die unsere Sinne vor der letzten, wichtigsten, endgültigen Gewissheit betäubt.
 
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