Was für eine Frau!

Hagen

Mitglied
Was für eine Frau!

Das ist so eine Sache mit dem Job des Vertreters, manchmal klappt‘s auf Anhieb und manchmal muss man unheimlich lange arbeiten, um endlich zum Abschluss zu kommen. Das ist besonders im hohen Norden so, da braucht’s schon eine Weile.
Ich kannte das schon und hatte meinen Stammgasthof zwischen den Dünen, wo ich dann übernachten konnte, wenn sich ein Abschluss etwas länger hinzog. Herr Gronau, der Betreiber des kuscheligen, kleinen Gasthofes kannte mich schon und gab mir stets ein kleines Zimmerchen hoch unter dem Dach juchhe, was zu essen und ein schönes, gepflegtes Bier.
Eigentlich sollte ich hier mal Urlaub machen, so mit am besten gar nicht bewegen, aber meine Frau wollte unbedingt nach Menorca, da konnte ich nix machen.
Nun ja, das gehört eigentlich nicht zur Geschichte, aber ich hatte gegessen und saß wieder an der Theke und trank Bier. War zwar etwas gewöhnungsbedürftig, das Essen, aber geil. Birnen mit Speck und Bohnen, eine Norddeutsche Spezialität.
Eigentlich hatte ich sowas viel zu oft getan, gesessen und gewartet, dass sich das Leben ändert, dass die ganz große Chance ebenso zielsicher zur Tür herein schwirren würde, wie eine Klofliege um sich auf mir niederzulassen wie auf einem braunen Haufen.
Irgendwie durfte es so nicht weiter gehen, ich war freiberuflicher Industrievertreter geworden, weil ich keine Stempelkarte mehr in keine Stechuhr stecken wollte, mir nicht mehr von irgendwelchen Typen sagen lassen wollte, wann ich was zu tun und zu denken hatte, und jetzt ärgerte ich mich darüber, dass ich hier saß.
Ich saß wieder mal an einer Theke und trank Bier, ich trank alleine, und geriet ins Grübeln; - was zur Hölle ist eigentlich Ethik?
Welchen Stellenwert nahm sie in meinem Leben ein?
Ich hätte mich jetzt gerne mit jemandem über Ethik unterhalten, oder Detektiv werden. Seltsam, dass die richtigen Detektive in guten Filmen nie in derartige Situationen kamen, da waren sie immer 'der Gute', brachten 'die Bösen' zur Strecke, und anschließend eine schöne Frau nach Hause und so weiter.
Ach so, ich rief meine Frau an und erzählte, dass ich dicht dran sei, aber leider im hohen Norden übernachten müsste. Meine Frau war, wie üblich, zuerst gar nicht begeistert, sie war nun ganz alleine, aber in diesem Falle … und ich müsste den Flur noch renovieren, bevor wir nach Menorca fliegen konnten.
In dem Moment kam ich mir eher wie ‘ein wenig zur Strecke gebracht‘ vor, aber wer alleine an der Theke sitzt, ist stets der Verlierer.
Nicht wie die anderen, die sich unterhielten, über ihre Familien, ihre Arbeit, ihre Autos, aber die gingen auch bald, zurück zu ihren Familien.
Etwas später die, die die Nachtruhe brauchten, um am nächsten Tag Leistung zu bringen und die Urlauber, die keine Sekunde ihres kostbaren Urlaubs verschwenden wollten, die vor lauter Erholen in Stress gerieten.
Zurück blieben die mit den traurigen Augen und dem resignierten Zug um die Mundwinkel. Einer stand am Geldspielgerät, beobachtete vergeblich die Gewinnanzeige und warf regelmäßig Münzen ein. Das Gerät hing genau richtig, Geldeinwurfschlitz in Augenhöhe.
Die Gespräche der Übriggebliebenen wurden flacher, es ging nicht mehr um die eigenen Familien, es ging um Sport den andere trieben, nach Regeln, die wiederum andere aufgestellt hatten, wie irgendwelche Vereine gespielt hatten, wer wen zur Sau gemacht oder eine Packung verabreicht hatte …
Ich saß allein.
Die Juke-Box schwieg auch, Herr Gronau lehnte schläfrig am Gläserschrank, hin und wieder stellte er ein Glas unter den Zapfhahn und ließ Bier nachlaufen.
Ich spürte, wie die Zeit nutzlos verstrich, und als ich irgendwann mal wieder vom Klo kam, saß eine Frau auf dem Hocker neben meinem und hatte einen Piccolo vor sich. Es mochte Zufall gewesen sein, weil viele Plätze frei waren, aber sie hätte das halbvolle Bierglas sehen müssen.
"Nabend", sagte ich, "Guten Abend", sie, als ich mich wieder hinsetzte, und dann beschäftigte sich die Zeit weiter damit, sinnlos zu verstreichen und ich mich damit, eine Zigarette zu drehen, weil man dabei so gut denken und verstohlen zur Seite gucken kann.
Die Frau neben mir hatte glatte, schwarze Harre, gehalten von einer goldenen Spange und ein weißes Sommerkleid an. Keinen BH, den hatte sie auch nicht nötig, und schöne Beine hatte sie, gewissermaßen bis zum Hals.
Nur seltsam, dass sie nach nichts duftete.
Eine Ehefrau, die sich ein bisschen mit ihrem Mann gezofft hatte, so am Anfang des Urlaubs, weil die Realität weit hinter den Erwartungen zurückgeblieben war, weil er sich gleich am zweiten Urlaubstag bei einer Dünenwanderung überanstrengt und zudem noch den Magen an der Edelfischplatte verdorben hatte, hätte sicherlich ein dezentes Parfum aufgelegt, wenn sie sich mal eben – natürlich nur auf ein Gläschen Sekt – in die Wirtschaft abgesetzt hätte.
Ich zündete mir die Zigarette an, zog daran, blies den Rauch aus, sah dabei wie aus Versehen zur Seite und fing ihren Blick auf.
Ich lächelte kurz, sie auch, und sah wieder zu meinem Bier.
“Entschuldigen sie“, die Frau neben mir, "würden sie mir auch mal eine Zigarette drehen? Ich kann das nicht."
Ich nickte und gab ihr meine angezündete.
Recht jung war sie noch und kaum geschminkt, "sind sie im Urlaub hier?", fragte sie, zog an der Zigarette und hustete.
"Naja, oooch, gewissermaßen. – Ich wollte mich eigentlich nur ein bisschen betrinken und dann schlafen gehen."
Ich begann eine neue Zigarette zu drehen und dachte dabei an meine Frau zuhause. Ich sollte sie eigentlich nochmal anrufen, aber sicher war sie schon schlafen gegangen.
"Ah ja“, die Frau neben mir wirkte etwas irritiert und zupfte an ihrem recht kurzen Rock herum, "und warum das?"
"Nur so.“
Die Frau saß nicht von ungefähr neben mir rum, bestimmt hatte Herr Gronau eine Hostess oder sowas geordert, weil er mir auch mal etwas Gutes antun wollte.
Schade eigentlich, aber ich war absolut nicht ihr Typ. Sie lächelte zwar, aber sie lächelte nicht mit den Augen, obwohl diese noch nicht die Fähigkeit verloren hatten, zu lächeln, und der Arm mit der Hand, die die Zigarette hielt, war wie eine Barriere zwischen uns. Nein, nein, so betrunken war ich noch nicht, und ich wollte mich auch nicht weiter betrinken, ich hatte es schon zu oft getan in diesem Leben.
Verdammt, ich schob das leere Bierglas von mir, Herr Gronau stellte mir sofort ein Neues unter den Zapfhahn, grinste mich an und bewegte seine Handflächen ruckartig einige Male nach oben, 'nun mal ran, an die Frau!'
"Gibt's denn noch einen Kaffee?", fragte ich.
Herr Gronau stutzte, nickte dann aber mit dem Kopf.
"Ich dachte, sie wollen sich betrinken", sagte die Frau neben mir.
"Muss ja nicht sein, jedenfalls nicht in Anwesenheit einer schönen Frau.“
“Ist auch sinnvoller."
"Tja", sagte ich langsam, "ich möchte eigentlich mehr von dem erfassen, was wirklich und möglich ist, betrunken geht das nicht so gut …“
Um ihre Augen erschien kleine Fältchen, der Ansatz eines Lächelns, und sie sagte: "Ja, ja. Jedes Seinsmoment, welches der Vervollkommnung fähig ist und jedes Seinsmoment, welches ein ‘Sein‘ vollständiger macht, es verlängert oder bestimmt, führt zum Begriff des ‘actus purus‘, des reinen, mit keiner Potentialität behafteten Akts, sowie zum Begriff der reinen Potenz, welche Vollkommenheiten nur aufzunehmen und Wirkungen nur zu erleiden vermag."
Jetzt lächelte sie richtig, sah mir endlich ins Gesicht.
"Hej, ich bin mir der Zweideutigkeit dessen, was sie eben gesagt haben, bewusst! Glücklicherweise habe ich noch nicht allzu viel getrunken, aber das Gefühl, dass ich von ihnen noch was lernen kann! Woher wissen sie das?"
"Ich hab' mal angefangen, Theologie zu studieren …“, sie machte eine wegwerfende Handbewegung, "aber als Frau …“
"Ja, kann ich verstehen, aber ist das nicht auch eine Perspektive der Existenz? Erfüllt nicht die Existenz das Wesen, macht es vollständig und setzt es in das wirkliche ‘Sein‘?"
Sie merkte auf.
"Ja", lächelte sie, "daraus folgt, dass das potentielle Wesen seine Verwirklichung bloß der äußeren, aktuellen, über die Existenz verfügenden Ursache verdankt. Unter den Existierenden muss eines sein, welches seine Existenz keinem anderen verdankt, sondern sie von seinem Wesen her besitzt; - nämlich Gott."
"Aus dieser Perspektive habe ich den Gottesbegriff noch nie gesehen", sagte ich.
Herr Gronau stellte mir einen Pott Kaffee hin, verdrehte die Augen nach oben und atmete hörbar aus. Irgendwas von unserem Gespräch musste er mitbekommen haben.
"Ja, ich habe auch ein etwas anderes Gottesbild", sagte die Frau neben mir, als Herr Gronau am anderen Ende der Theke rumbierdeckelte und ich einen Schluck Kaffee trank, "aber nach Thomas von Aquin liegt die Wurzel der wahren Kenntnisse über die Welt im göttlichen Wesen, dessen sowohl die Welt, wie auch die Vernunft teilhaftig ist.“
"Das ist richtig! Aber bedeutet das nicht, dass die Vernunft als geistige Wirklichkeit erkannt werden muss?"
Sie nickte.
"Ja, die größte Leistung der menschlichen Vernunft besteht demnach darin, dass sie aus eigener Kraft imstande ist, Gott zu erkennen. Thomas von Aquin hat das Dasein Gottes sogar in seiner ‘Summatheologiae‘ bewiesen."
"Den Beweis wurde ich gerne hören“, sagte ich, und weil sich Herr Gronau wieder näherte, fügte ich noch, "wollen wir nicht auf mein Zimmerchen gehen?", hinzu.
"Ja, gerne", nickte die Frau neben mir.
"Können wir denn", fragte ich Herrn Gronau, "noch zweimal Kaffee aufs Zimmer haben?“
"Was? Kaffee? Ich habe auch Prosecco."
"Nein, Kaffee!"
"Na, gut. Ich bring's ihnen gleich hoch."
Herr Gronau schüttelte den Kopf, ich glaube, er schüttelte ihn immer noch als er uns eine Weile später auf dem Sofa erwischte, nur etwas anders als er es sich vorgestellt hatte. Die Frau erklärte mir den dritten Gottesbeweis nach Thomas von Aquin: "Das Zufällige hängt vom Notwendigen ab, dieses wiederum von anderem Notwendigem oder - schließlich - von sich selbst; - wie Gott, der die Ursache seiner Notwendigkeit nicht in anderem hat, sondern für andere Ursache in der Notwendigkeit ist!“
Sowas Ähnliches hatte ich auch schon gedacht.
Nur nicht so schön formuliert.
Und wir machten weiter, die ganze Nacht.
Es war nicht das erste Mal, dass ich neben einer fremden Frau aufwachte, lange vor meiner Ehe, hin und wieder war ich schon neben Lady-Horror erwacht, einer Frau, die ich am Vorabend mühsam schöngetrunken hatte, und fühlte mich auch am Morgen entsprechend; - aber noch nie begann ich den Tag neben einer Frau, mit der ich des Nachts, wenn andere schlafen und lieben, nur Kaffee getrunken und philosophiert hatte.
Wir duschten gemeinsam und frühstückten zusammen, und dann verließ sie mich, ich wusste noch nicht einmal ihren Namen, ich wusste nicht, was sie sonst tat. Ob sie nur aus Versehen, oder warum sie dieser Tätigkeit nachging, wie sie dazu gekommen war, wie sie sich ihr weiteres Leben vorstellte - ob sie überhaupt das war, wofür ich sie hielt, und als sie in den Tag hinaustrat, verschmolz sie mit der Helligkeit.
Ich konnte das Grinsen des Herrn Gronau nicht ertragen, nachdem sie gegangen war.
Ich konnte aus dieser Situation heraus eigentlich niemanden ertragen.
Ich rauchte nach dem Frühstück eine Verdauungszigarette und fragte mich, ob mein Tun moralisch verwerflich war, in der Nacht hatte ich mit der Frau, die sich soeben in der Helligkeit aufgelöst hatte, eine Antwort darauf zu finden versucht.
Aber da auch die einzelne Tat, die eine bedingende Tat ist, da die Begriffe, die den einzelnen Begriff bestimmen, selber bestimmte sind, droht die Gefahr, dass wir uns in der Unendlichkeit der Modifikation verlieren und die gestellte Aufgabe, eine der als konstant angenommene menschliche Natur entsprechenden Natur entsprechende Moral zu begründen unlösbar wird!
Was also sollte es?
Ich trank noch mehr Kaffee, rauchte noch mehr Verdauungszigaretten und las in der Zeitung, zuerst die heitere Seite, und als ich gerade bei der Kurzgeschichte war, wollte ein Ehepaar, so ungefähr in meinem Alter, wissen, ob an meinem Tisch noch Platz wäre. Sie setzten sich ohne Umschweife und die Frau maulte rum, weil es hier zum Frühstück keinen Hagebuttentee gab, der Mann deutete auf die Titelseite der Zeitung und wollte von mir wissen, warum die irgendwo im Kaukasus wieder angefangen hatten.
Ich wusste nicht, womit die wieder angefangen hatten, wer überhaupt was, wann, wo, wie, womit und warum angefangen hatte. Es war mir auch egal, und das sagte ich ihm, und er war der Ansicht, dass man bei einer Zeitung zuerst den politischen Teil lesen müsse, und dieses Käseblatt wurde viel zu wenig objektiv berichten.
Ich kam nicht dazu, die Kurzgeschichte zu genießen, den die Frau wollte wissen, warum ich mitten im Sommer schwarz angezogen war, und ich sollte mir doch was Helles und Freundliches anziehen, und ob ich denn heute auch an der Wattwanderung teilnehmen würde.
"Ich wandere nie", sagte ich während ich aufstand, "außerdem muss ich jetzt eine Fuhre Schweine nach Gummersbach bringen. – Die Witze sind aber gut in dieser Zeitung."
 



 
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