Was haben wir getan?

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petrasmiles

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Was haben wir getan?


Wir wollten, dass sie es einmal besser haben,
Und sie haben es gut und wollen mehr

Wir wollten, dass sie sich eine eigene Meinung bilden können
Und nun hören sie uns nicht mehr zu

Wir wollten alle Not von ihnen fernhalten
Und nun wissen sie nicht, was Not ist und was sie aus uns macht

Wir wollten ihnen Steine aus dem Weg räumen
Und nun denken sie, wir schuldeten es ihnen

Wir haben ihnen verschwiegen:

Dass wir nackt und hilflos geboren werden, uns nur Glück wachsen und gedeihen lässt

Dass wir uns anstrengen müssen für unser Überleben

Dass wir Hindernisse überwinden, Schmerz und Zurückweisung ertragen müssen

Dass wir nur aus Schmerz und Fehlern wirklich lernen werden

Dass wir dankbar sein müssen für alles, das uns gelingt und dieses Glück uns Demut lehren sollte gegenüber dem Schicksal,
das uns auch zumisst, was nicht gelingen wird

Dass es nicht ihr Verdienst ist – oder ihr Versagen – wann, wo und wem sie geboren wurden

Dass Geben glücklicher macht als Nehmen und Verantwortung den Menschen adelt - Müßiggang ihn verderben kann

Dass zu lieben genauso wichtig ist, wie geliebt zu werden

Dass Gutes tun Böses bewirken kann

Dass Unrecht die Regel und Gerechtigkeit die Ausnahme ist

Das wir verlieren werden und verfallen

Dass wir nackt und hilflos enden werden und uns nur liebevolle Gedanken sanft betten können


Weil wir dachten, dass wir so mächtig sind, dass all das für sie nicht gilt

Weil wir hofften, dass die Kinder es einmal besser machen werden und unter ihnen der eine Mensch sein könnte, der etwas bewirkt

Weil wir glauben wollten, dass die Welt besser ist als wir sie erfahren haben

Weil der Mensch immer neu ist und die Welt immer alt
 
Zuletzt bearbeitet:

fee_reloaded

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Die Frage, die sich da anschließt für mich, liebe Petra,

lautet: warum haben wir das alles wirklich verschwiegen?
Dein Text gibt vier mögliche Antworten, die mir persönlich an zu konkrete, nicht unbedingt verallgemeinerbare Prämissen oder Ziele geknüpft sind.
Es gibt noch unzählige andere Antworten, die von weniger "verurteilenden" oder hoffnungstragenden Gedanken geprägt sind. Antworten, die in einem Konglomerat einer von den eigenen Erfahrungen, Erlebniswelten und gesellschaftlichen Gegebenheiten geprägten und geformten "Wahrheit" über das Leben zu finden sind.

Einige meiner "Weils" könnten zum Beispiel lauten:
Weil wir uns selbst glauben machen wollen, dass unsere negativen Erfahrungen im Nachhinein (in unseren Kindern) in gute verwandelt werden können.

Weil wir unserer eigenen gefühlten Ohnmacht in unseren Kindern zu entkommen versuchen.

Weil Gutes tun nicht garantiert, dass wir Gutes ernten werden.

Weil Gerechtigkeit und Macht leider selten Hand in Hand gehen und uns das manchmal überwältigt und hoffnungslos macht.


Ich fühle mich von deinem Text zutiefst berührt und mag, wie genau er hinterfragt und hinsieht.
Ab...

...
Dass Geben glücklicher macht als Nehmen und Verantwortung den Menschen adelt - Müßiggang ihn verderben kann

...

Dass Gutes tun Böses bewirken kann

Dass Unrecht die Regel und Gerechtigkeit die Ausnahme ist

Das wir verlieren werden und verfallen

Dass wir nackt und hilflos enden werden und uns nur liebevolle Gedanken sanft betten werden


Weil wir dachten, dass wir so mächtig sind, dass all das für sie nicht gilt

Weil wir hofften, dass die Kinder es einmal besser machen werden und unter ihnen der eine Mensch sein könnte, der etwas bewirkt

Weil wir glauben wollten, dass die Welt besser ist als wir sie erfahren haben

Weil der Mensch immer neu ist und die Welt immer alt
...kippt der Text ins Negative und bekommt einen verurteilenden, verzweifelnden, verbitterten Tonfall. So lese ich diesen Text als Manuskript eines inneren Dialogs in dem Moment, wo LI erkennt, dass es vom eigenen und allgemeinen Scheitern an der Welt (oder Menschheit) überwältigt wird und dadurch die Liebe in ihm ins Wanken gerät.

Einige Sätze erklären sich für mich nur so, fokussieren sie doch extrem auf das Negative.
Gutes tun kann beispielsweise niemals Böses bewirken. Aber man kann damit nicht erzwingen, dass einem nicht auch als Antwort Böses widerfährt. Das Böse liegt ja im Gegenüber und darüber haben wir nur bedingt bzw. keine Kontrolle. Dieses Allmachtsdenken führt natürlich zu Enttäuschungen...und es wiederholt sich im Satz "Weil wir dachten, dass wir so mächtig sind...".

Und so erschließt sich mir der Schlusssatz als eine das LI in seinem Scheiterkonzept entlarvende "Lebens-Wahrheit": denn es ist der Mensch, der immer alt ist, und die Welt um ihn herum ist jeden Tag neu. Und im Idealfall würden sich beide im gleichen Tempo bewegen. Der Mensch fürchtet aber nichts so sehr wie die Veränderung.

Was also können wir tun?

Sehr gerne gelesen und eingetaucht. Das sind so viele Gedanken und Fragen, die noch nachwirken werden. Danke dafür.

Liebe Grüße,
fee
 

petrasmiles

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Liebe Fee_,

ich bin beeindruckt von Deinem Fleiß und Deiner Fähigkeit, die LL-Autoren mit Deiner Aufmerksamkeit zu beschenken.
Das ist wirklich vorbildlich, zumal Du oft die Perlen entdeckst und weniger Gelungenes freundlich gerade rücken hilfst.

Darum überrascht es mich auch nicht, dass Du die Erste (und vielleicht einzge) bist, die sich zu meinem Text äußert.

Ja, wenn man mal diese Perspektive eingenommen hat, fallen einem zig Varianten ein und alle sind wahr.

Da man ja manchmal sogar etwas aus dem lernt, was man sich selbst erzählt, fing ich mit einem bestimmten Bedürfnis und Gedankenmoment an und dann merkte ich, dass dies gar nicht das Jetzt beschreibt, sondern in der einen oder anderen Form schon immer gültig war und bleibt und subjektives Empfinden mit der Realität korrespondiert.
...kippt der Text ins Negative und bekommt einen verurteilenden, verzweifelnden, verbitterten Tonfall. So lese ich diesen Text als Manuskript eines inneren Dialogs in dem Moment, wo LI erkennt, dass es vom eigenen und allgemeinen Scheitern an der Welt (oder Menschheit) überwältigt wird und dadurch die Liebe in ihm ins Wanken gerät.
Ich glaube, hier bist Du zu streng. Es ist einfach eine Auflistung, die sich an unserer Lebensspanne misst und den Erfahrungen, die wir im Laufe der Zeit machen. Gerade, wenn man ein paar Jahrzehnte überblickt, weiß man, wie ungerecht die Ressourcen verteilt sind. Wie zu 'Kaisers Zeiten' und heute denen gegeben wird, die schon haben auf Kosten der sprachlosen Armen. Wen man jung ist, regt man sich darüber auf und will etwas ändern. Das ist die Geschichte des 20jährigen mit Herz und dem 40jährigen ohne Verstand ... es sind historische Figuren, die etwas bewegen und meist zahlen sie einen hohen Preis dafür. Das ist nicht verzweifelt oder verbittert und schon gar nicht verurteilend, sondern realistisch. Wir wissen um die blutige Stirn, die wir uns holen beim Anrennen gegen die Wand.
Als junger Mensch darf man so nicht denken, aber man darf auch nicht den Fehler machen, gegen irgendwas zu sein, um das Gefühl zu haben, man könne etwas bewegen. Als vor vielen Jahren jugendliche Naturschützer die Ponys auf der Kirmes (in NRW) ins Visier nahmen unter dem Aspekt des Tierschutzes, da dachte ich nur, was soll die Tiere schützen, wenn sie nicht mehr arbeiten dürfen und die Schausteller ruiniert werden. Die Tiere würden einfach nicht mehr existieren. Das scheint mir ein recht radikaler Schutz zu sein. Den Mut, die Dinge zu Ende zu denken, erwerben wir erst im Laufe des Lebens.
Die heutige Aufgeregtheit produziert zu viele Surrogathandlungen - und wir lassen es zu.

Und die Einsicht, dass wir alles verlieren werden und am Ende wieder nackt dastehen, das ist das, was ich eine reife Leistung nennen würde. Denn wenn man in Gedanken da war, dann ist das heutige Glück umso köstlicher und die Dankbarkeit riesengroß für jeden schönen Moment.

Wir können gar nicht anders, als 'an der Welt zu scheitern'. Weil es schon die falsche Annahme ist, unser Dasein könnte im Bezugsrahmen 'Welt' etwas anderes sein als unerheblich. Weißt Du, wenn man das einmal durchgeholt hat, dann wird das eigene Leben sogar bedeutungsvoller, weil wir uns selbst als Bezugsgröße nehmen und mit dem arbeiten, was wir haben und sind. Erst dann - so denke ich - kann wirklich Liebe fließen.

Gutes tun kann beispielsweise niemals Böses bewirken.
Und leider muss ich Dir auch hier widersprechen. Wir haben in der Regel gar nicht den Überblick, was Gutes gerade nützlich wäre und tun das, von dem wir annehmen, dass es das sei. Ich möchte gar nicht die vielen Möglichkeiten von 'Ich habe es doch nur gut gemeint' auflisten. Nehmen wir mal das große Beispiel der Tafeln. Man spendet, man engagiert sich. Hilft man so dem Staat nicht dabei, zu kaschieren, dass er es zulässt, dass unter seiner Gesetzgebung Menschen nicht das nötige Auskommen haben? Menschen, die wählen müssen zwischen Medikamenten und Nahrung, heizen und essen, wohnen und essen, während ihr weniges Geld den Mehrwertsteuersack füllt? Es gibt da eine Erzählung - ich glaube von George Tabori - , in der ein Arzt um das Leben eines ungeborenen Kindes kämpft, den er gewinnt und dann der Frau Hitler zur Geburt ihres Jungen gratuliert.

Ich finde Deine Schlussbemerkung wichtig:
denn es ist der Mensch, der immer alt ist, und die Welt um ihn herum ist jeden Tag neu.
weil ich denke, dass auch das wahr sein kann.
Es kommt auf die Perspektive an.
Ich bleibe bei meiner: Es ist unser Fluch und unser Segen, dass wir als Mensch immer von vorne anfangen müssen und dürfen, das Leben und die Welt zu begreifen. Bis wir so weit sind, dass wir an schwierigen, überpersönlichen Verhältnissen etwas ändern könnten, hat sie sich schon weiter gedreht.
Und doch ist da immer die Hoffnung, dass es den einen Menschen geben wird, der etwas wieder gerade rücken könnte. Ein ewiger Kreislauf im Menschsein.

Liebe Grüße
Petra
 

Chandrian

Mitglied
Liebe Petra

Das ist ein sehr ausdrucksstarker Text und man merkt die Wichtigkeit, welche diese Fragen für das Lyrich haben. Ungeachtet meiner Meinung zur Aussage bewegt dieser Text, weil er trotz (oder eben gerade wegen?) der vielen Anaphern eine Tiefe hat - eine Dringlichkeit macht sich beim Lesen spürbar.
Jedoch stellte sich mir die Frage, ob das nicht eher Prosa ist. Mir ist der Text nicht verdichtet genug geschrieben und m.M.n. würde es besser in Tagebuch/diary passen. Zum Beispiel kann ich auch nicht einen klaren Rhythmus oder "Fluss" darin erkennen, mit Ausnahme der Anaphern.
Ich habe mich ausserdem gefragt, ob du in Vers 22 das "werden" absichtlich repetierst, da es für mich, nur einmal ausgeschrieben, runder klingen würde.

Mit lieben Grüssen
Chandrian
 

petrasmiles

Mitglied
Lieber Chandrian,

ich habe so etwas mal in Kurzprosa eingestellt, und da verschob man es in Lyrik, ungreimt - wegen der Form. Es sind 4 - 12 - 4 Einzelverse. Für mich klingt Tagebuch immer nach Ego-Botschaften - ich traue mich da gar nicht, zu kommentieren, weil für mich Tagebuch sehr persönlich ist und wie sollte man einen persönlichen Eindruck kommentieren? Da sehe ich meinen Text also eher nicht. Aber wir müssen es eh nehmen wie es kommt - wenn der Redakteur so will.

Danke für die Rückmeldung.
Nein, Verdichtung war auch nicht die Absicht, eher so ein bisschen deklinieren.

Ich habe auch keine Ahnung, ob man hier über die Aussagen sprechen kann - eigentlich haben Fee_ und ich das ja auch getan. Ich denke doch, dass hier die Aussagen den Text ausmachen. Ich glaube, man sollte Schwafeln vermeiden, Streit über Auslegungen - oder politische Einordnung eines Textes.
Aber man lernt immer neu dazu :) Was heute geht, geht morgen nicht, und manchmal wird auch wieder gar nichts beanstandet.

Liebe Grüße
Petra
 

Chandrian

Mitglied
Stimmt, ich glaube anderswo hat dieses über die Aussage reden schlicht und einfach nicht funktioniert.
Bei diesem Text, wenn ich nun nach dem Inhalt fragen darf, war mir nicht klar, wie du das "Wir" und das "Sie" definierst.
Sind es die Generationen? Oder hast du da eher eine Altersgrenze im Kopf.
Könnten es auch Überzeugungen sein?
 

petrasmiles

Mitglied
Ich glaube, diese Verortungen sind schwierig. Das LyrI nimmt sich und seine Generation zum 'wir', aber das kann auch ein Trugschluss sein. Eigentlich ist das 'wir' eine Anmaßung, aber eine, die funktioniert. Das 'sie' sind erst einmal immer die anderen, aber konkret hier sind es die Kinder - im allgemeinen - im Sinne von Nachkommen - oder wie die 'Nachgeborenen' bei Brecht.
'Generationen' sind ja ein Fiktion, keine wirklich erfassbare - und vor allem soziologisch verwertbare - Zugehörigkeit.
Bei den Versuchen, über das Leben und seine Bedingungen Aussagen zu treffen, geht man meistens von individuellen Erfahrungen aus, die geteilt werden können, oder auch nicht.
Ich denke auch, dass dieser Text von einer Person in drückender Armut anders geschrieben würde, erst recht, wenn die kulturellen Bezüge nicht stimmen.
Alles, was wir da machen ist Annäherung :)
Eine Altersgrenze macht da keinen Sinn, weil es unglaublich dumme Alte gibt und zum Niederknien kluge Junge.
Ich denke, wenn man die Positionen weiter spinnt, landet man möglicherweise bei Überzeugungen.
Ist das nicht alles spannend?

Liebe Grüße
Petra
 

fee_reloaded

Mitglied
...fing ich mit einem bestimmten Bedürfnis und Gedankenmoment an und dann merkte ich, dass dies gar nicht das Jetzt beschreibt, sondern in der einen oder anderen Form schon immer gültig war und bleibt und subjektives Empfinden mit der Realität korrespondiert.
Ja, das erklärt die Entwicklung im Text und ich stimme dir zu, liebe Petra.


...es sind historische Figuren, die etwas bewegen und meist zahlen sie einen hohen Preis dafür. Das ist nicht verzweifelt oder verbittert und schon gar nicht verurteilend, sondern realistisch. Wir wissen um die blutige Stirn, die wir uns holen beim Anrennen gegen die Wand.
So hatte ich das nicht gelesen - ich war eigentlich den gesamten Text hindurch bei unseren Kindern und dem, was wir uns für sie wünschen. Eine blutige Stirn jedenfalls nicht. Und auch nicht den Druck, der hinter so viel in sie gesetzter Hoffnung steckt.
Aber ja - wenn du die Perspektive so erweiterst, ist es natürlich realistisch.

Ich möchte gar nicht die vielen Möglichkeiten von 'Ich habe es doch nur gut gemeint' auflisten. Nehmen wir mal das große Beispiel der Tafeln. Man spendet, man engagiert sich. Hilft man so dem Staat nicht dabei, zu kaschieren, dass er es zulässt, dass unter seiner Gesetzgebung Menschen nicht das nötige Auskommen haben?
Das ist natürlich radikaler gedacht, als ich das hinbekomme, muss ich zugeben. Aber deshalb nicht für die Tafeln spenden und die falschen weiter leiden zu lassen, damit etwas Größeres aufgezeigt wird? Müssten wir da nicht erst diejenigen fragen und mit einbeziehen, die die direkt Leidtragenden sind?
Da mache ich doch lieber etwas Gut-Gemeintes, das denen über den nächsten Tag hilft - auch, wenn ich weiß, es hilft so nebenbei auch den falschen.
"Böses" habe ich dadurch aber nicht bewirkt. So wenig wie der Arzt, der ein Baby gerettet hat, das später für die Ermordung von Millionen von Menschen verantwortlich war.

Gutes tun habe ich übrigens auch nicht mit Gut-Gemeintem gleichgesetzt. Das sind zwei verschiedene Dinge. Und ich kann als Leserin nur das lesen, was der Text mir gibt. Da bin ich - was die die Treffgenauigkeit von Formulierungen oder Bezeichungen angeht - dann wirklich streng. ;)

Es kommt auf die Perspektive an.
Das tut es doch immer. Und ab und zu die Perspektive von anderen einzunehmen und dafür offen zu sein, ist nie ein Fehler. Gut und spannend, wenn ein Text wie deiner dies ermöglicht und ein gedankliches Umkreisen einer Thematik anstößt. Der eigenen Scheuklappen und Wertanschauungen ist man sich ja nicht ständig bewusst und die eigenen Überzeugungen werden dabei auch noch einer Revision unterzogen. Kurz gesagt: es schadet nie, dazuzulernen.

Auf jeden Fall kann ich deinen Text bzw. dich jetzt besser lesen in deinem Gedankenprozess.

Und ja - das alles ist mächtig spannend!


Liebe Grüße,
fee
 

petrasmiles

Mitglied
LIebe Fee_,

danke für Deine Antworten. Ist mir ein Genuß!

Eine blutige Stirn jedenfalls nicht. Und auch nicht den Druck, der hinter so viel in sie gesetzter Hoffnung steckt.
Das ist ja leider nichts, wovor man sie bewahren könnte. Wenn ich mir vorstelle, dass man sich als junger Mensch stark mit seiner Umwelt identifiziert, noch so ganz außer sich ist, dann können die Dinge wichtiger werden als sie selbst. Die vielen jungen Menschen, die wegen ihrer Proteste niedergemäht wurden, nehme Prag 1968, Lateinamerika in den 70ern und 80ern, den Platz des Himmlischen Friedens 1989, und jüngst Hongkong, sie alle haben und hatten Mütter, die sie gerne beschützt hätten. Mich schmerzt am meisten die Unschuld, die verraten wurde; die Einzelschicksale kann man ja gar nicht ermessen.
Und es gibt sie immer, diese Mauern. Die 'blutige Stirn' ist aber metaphorisch gemeint. Sie kann auch in einem einfachen 'Nein' zur Unzeit bestehen.

Der Druck scheint mir aber selbst gemacht - befördert von anbiedernden Erwachsenen, die meinen, sie täten etwas Unterstützendes, wo sie sich nur selbst im Blick haben. Eklig. Ich glaube, dass da ein Gruppendruck entstanden ist - leider auch eine Hybris, denkt man an 'letzte Generation', da steckt die Überforderung doch schon im Titel.

Aber deshalb nicht für die Tafeln spenden und die falschen weiter leiden zu lassen, damit etwas Größeres aufgezeigt wird? Müssten wir da nicht erst diejenigen fragen und mit einbeziehen, die die direkt Leidtragenden sind?
Da mache ich doch lieber etwas Gut-Gemeintes, das denen über den nächsten Tag hilft - auch, wenn ich weiß, es hilft so nebenbei auch den falschen.
"Böses" habe ich dadurch aber nicht bewirkt. So wenig wie der Arzt, der ein Baby gerettet hat, das später für die Ermordung von Millionen von Menschen verantwortlich war.
Ich denke mal, das hängt vom Grad der Abstraktion ab. Persönlich betrachtet lädt natürlich weder der Tafelspender noch der zitierte Arzt Schuld auf sich. Das ist nicht die Kategorie, die ich meine - und auch nicht die Intention des Autors der Erzählung. Ich denke, es geht eher darum, dass die Dinge meistens nicht so eindeutig sind, wie wir sie gerne hätten. Ambiguitätstoleranz nennt man das glaube ich.
Die Einbeziehung der Leidtragenden finde ich immer ein bisschen 'RTL'-mäßig. Sollte man sie fragen, ob sie lieber eine Unterstützung haben wollen, von der sie leben können oder lieber zur Tafel gehen? Niemand würde ernsthaft die Tafeln abschaffen wollen, um es der Regierung zu zeigen (das Defizit kann man gerne in seine Wahlerwägung einbeziehen) - trotzdem sind Tafeln nicht nur gut.
Gutes tun habe ich übrigens auch nicht mit Gut-Gemeintem gleichgesetzt. Das sind zwei verschiedene Dinge. Und ich kann als Leserin nur das lesen, was der Text mir gibt. Da bin ich - was die die Treffgenauigkeit von Formulierungen oder Bezeichungen angeht - dann wirklich streng. ;)
Da war ich jetzt echt Sklave der Form :D (gelogen)

Liebe Grüße
Petra
 

petrasmiles

Mitglied
Ich habe mich ausserdem gefragt, ob du in Vers 22 das "werden" absichtlich repetierst, da es für mich, nur einmal ausgeschrieben, runder klingen würde.
Die Antwort habe ich noch unterschlagen - hat keinen höheren Sinn, sondern war Schlampigkeit: Ich habe zwei Punkte zusammengefasst und in Eile nicht genau genug überarbeitet. Wenn ich das noch kann, bereinige ich es. Danke!

Liebe Grüße
Petra
 

fee_reloaded

Mitglied
Immer gerne, liebe Petra! :)

Ich denke, es geht eher darum, dass die Dinge meistens nicht so eindeutig sind, wie wir sie gerne hätten. Ambiguitätstoleranz nennt man das glaube ich.
Da habe ich ein neues Wort gelernt.
Ja, das sehe ich auch so und lese ich auch aus deinem Text heraus. Ebenso die Hybris und alles andere Menschliche.
Unsere Gesellschaften sind längst schon zu komplex und unüberschaubar geworden. Dass das "hausgemacht" ist, wollen wir nicht so gerne wahrhaben und lenken uns deshalb mit allem ab, was wir zu greifen bekommen.

Ich hatte das mit den Leidtragenden, die wir wohl als erste fragen sollten, übrigens nicht RTL-mäßig gemeint (auf die Idee wäre ich gar nicht gekommen- Menschenverachtenderes findet man im Fernsehen kaum). Interessant, auf welch unterschiedlichen Schienen wir beide da offensichtlich denken beim Schreiben bzw. Lesen.

Als Pädagogin durch und durch schmerzt mich jede einzelne blutige Stirn und vor allem unter welchem Druck die Jungen heute stehen. Das fängt im Kindergartenalter schon an. Und wir fragen uns, warum die Jugend von heute alles so bierernst sieht und sich solchen Druck macht. Wie anders könnte sie, wenn sie doch kaum richtig Kind sein durfte.


LG,
fee
 

petrasmiles

Mitglied
Unsere Gesellschaften sind längst schon zu komplex und unüberschaubar geworden. Dass das "hausgemacht" ist, wollen wir nicht so gerne wahrhaben und lenken uns deshalb mit allem ab, was wir zu greifen bekommen.
Darüber muss ich noch einmal nachdenken. Hängt das wirklich so zusammen? Ich bin mir nicht sicher.
Ich hatte das mit den Leidtragenden, die wir wohl als erste fragen sollten, übrigens nicht RTL-mäßig gemeint (auf die Idee wäre ich gar nicht gekommen- Menschenverachtenderes findet man im Fernsehen kaum). Interessant, auf welch unterschiedlichen Schienen wir beide da offensichtlich denken beim Schreiben bzw. Lesen
Jetzt muss ich aber mal die Nase krausen - wie denn sonst? Anders ginge es doch gar nicht. Sonst steht es da als Argument das keines ist (So, bäh!) :D
Und wir fragen uns, warum die Jugend von heute alles so bierernst sieht und sich solchen Druck macht. Wie anders könnte sie, wenn sie doch kaum richtig Kind sein durfte.
Das frage ich mich auch ... vielleicht hat es auch damit zu tun, dass es ihnen gut geht und der Mensch sich Sorgen machen 'muss'?
Teilweise liegt es aber auch an der Vernetzung; meine theoeretischen Großeltern hätten am nächsten Markttag erfahren, dass ein Bauer aus dem Nachbardorf unter den Trecker gekommen ist und heute gibt es das Elend live und in Farbe ... da muss ich auch noch einmal drüber nachdenken :)

Ich wünsche Dir noch einen zauberhaften Abend :)

Liebe Grüße
Petra
 

fee_reloaded

Mitglied
Liebe Petra,

den Text habe ich bald nach Erscheinen zweimal gelesen, auf mich wirken lassen und meinen Gedanken dazu nachgehangen. Möglich, dass diese mit bisheriger Diskussion nicht viel Zusammenhang habe; bitte insofern um Nachsicht.

Der Text changiert nach meinem Verständnis zwischen pädagogischer Jeremiade, Ratgeber an Nachgeborene und Selbstbefragung bezüglich eigener Lebensbilanz. Diese Spannbreite nötigt Respekt ab, formal ist sie gut bewältigt. Obwohl es doch um recht verschiedene Aspekte geht, ist ein durchgehender roter Faden erkennbar.

Ein zentrales Problem scheint mir inhaltlich das zu sein: Wie lässt sich angesichts der Endlichkeit des eigenen Lebens dieses in einen über die eigene Existenz hinausgehenden Zusammenhang einordnen und, falls ja, lässt dieser sich positiv darstellen? Damit haben sich viele Religionen befasst und hier wird diese Sinnfrage sozusagen säkularisiert. Mir kommen dazu zwei extreme Positionen in der Literatur in den Sinn, die eine verkörpert durch den alten Mark Twain, der in seinen späten (meist bei Lebzeiten unveröffentlichten) Texten desillusioniert mit der "verdammten Menschenrasse" abrechnete. Ganz anders Thomas Manns Figur Prof. Kuckuck im "Felix Krull", der im Gespräch mit dem jungen Hochstapler den für ihn unbestreitbaren kulturellen Aufstieg im langen Verlauf der Menschheitsgeschichte konstatiert. Mir scheint, aus Kuckuck spricht hier der alte Thomas Mann. (Bemerkenswert: Mark Twain schrieb solches wenige Jahre vor dem 1. Weltkrieg, Thomas Mann Seines einige Jahre nach 1945.)

Ich neigte bisher der Sicht des alten Thomas Mann zu und fand mich selbst auf irgendeine wunderbare Weise in diesen kulturellen Fortschrittszusammenhang eingeordnet. Und ich würde das auch gern weiter tun, doch nehme ich aufgrund jüngerer Entwicklungen eine gewisse Erschütterung meines Selbst- und Weltverständnisses wahr. Da ist etwas ins Rutschen gekommen in Richtung auf Mark Twain.

Freundliche Grüße
Arno Abendschön
 

petrasmiles

Mitglied
Lieber Arno,

danke für Deine Gedanken - und natürlich Deine Anerkennung.
Sie sind für sich genommen wertvoll und müssen in keine 'Unterhaltung' passen.
Du hast es ganz gut zusammengefasst, es fing für mich als eine Art Jeremiade an und dann habe ich es transzendiert.

Was Du als Kernfrage beschreibst und das Beispiel des alten Mark Twains, erinnert mich an eine dunklere Phase in meinem Leben, als ich damit haderte, dass die Werte, mit denen ich aufwuchs - und daher als selbstverständlich, unverrückbar etc., empfand - in der Realität verblassen sah. Nach zwanzig Jahren (unbewusster) 'Trauerarbeit' kam ich auf den Trichter, dass ich sehr wahrscheinlich in einer der wenigen Phasen erwachsen wurde, die ich nachträglich als eine 'Sternstunde der Geschichte' bezeichnen möchte mit einer Regierung, die am kleinen Mann interessiert war, eine Generation gestählt aus den Herausforderungen einer verheerenden Zeit mit dem Wissen, dass nur Breitenbildung Vorsorge vor Verführungen bieten kann; die Liste könnte noch fortgeschrieben werden.
Nachdem ich das begriffen hatte, wandelte sich meine Perspektive und ich konnte meinen Frieden damit machen.

Mir geht es mit den heutigen Verwerfungen nicht anders als Dir, aber ich sage mir dann, dieser Planet schuldet uns nichts. Wir sind gezwungen, alles so zu nehmen, wie es kommt. Ich fühle mich nicht betrogen von der Geschichte, sondern im Gegenteil verwöhnt durch die Zeit und den Ort.
Ich komme Hegel immer näher mit seinem Wort, Freiheit sei die Einsicht in die Notwendigkeit - womit ich nichts anfangen konnte, als ich es zum ersten Mal las.
Ich werfe den 'Meinungsstarken' übergriffigen Neoreformern gerne vor, dass ein Konzept nicht froh machen kann, nicht von Intelligenz oder Reife zeugt, das darauf beruht, dass andere sich zu ändern haben, damit es ihnen gut geht. Das muss dann auch für mich selbst gelten. Dass man mit dem Älterwerden aus 'seiner' Welt vertrieben wird, halte ich für systemimmanent, entspricht quasi dem Bauplan. Wie drastisch die Veränderungen derzeit sein könnten, welche üblen Ereignisse schon ihre Schatten vorauswerfen, das können wir tatsächlich nicht ändern. Aber man kann sich treu bleiben und an den Zipfeln festhalten, die noch da sind, es sich und den Seinen gut gehen lassen, worin auch immer das bestehen mag.

Ich habe mich nie als losgelöst von den Naturzusammenhängen begriffen und könnte ein Blatt meinen Bruder im Wesen nennen; das gibt dem Stirb und Werde einen gewissen Zusammenhang, dem man sich gar nicht entziehen kann. Ich bin nicht religiös, aber ich transzendiere gerne 'Probleme' auf eine höhere Ebene und sehe mich im Strom des Kommens und Gehens. Das ist meine Verortung.

Gute Nacht, lieber Arno
Petra
 
Liebe Petra,

danke für die trostreichen Worte, die zugleich noch eine Auslegung deines Gedichts darstellen. Deine Grundeinstellungen kommen meinen eigenen sehr nahe, gerade auch in deinem letzten Absatz.

Gewöhnlich komme ich auf solchen Grundlagen mit schwierigen Verhältnissen und Situationen relativ gut zurecht. Es ist wohl die jetzige seltene Ballung von Krisen und Katastrophen, die mich tiefer verunsichert. Ich will mir mal wieder Voltaires "Travaillons sans raisonner, c'est le seul moyen de rendre la vie supportable" zur Beherzigung empfehlen.

Schönen Morgengruß
Arno Abendschön
 

petrasmiles

Mitglied
Lieber Arno,

das habe ich googeln müssen: 'Lasst uns arbeiten ohne nachzudenken, das ist das einzige Mittel, das Leben erträglich zu machen'. (natürlich Wikipedia ...)
Wieder was gelernt - Candide, Voltaire, Gegenentwurf zu Leibniz, Die Beste aller Welten ...
Vielleicht wäre es besser, die Weltläufe nicht zu persönlich zu nehmen - aufs Denken möchte ich einfach nicht verzichten, da entgeht mir ja vielleicht etwas :)

Wenn ich mich zwischen Pessimismus und Optimismus entscheiden muss, nehme ich den Optimismus, definitiv: Weil ich mit netten Gedanken aufgewacht bin, schon gebügelt habe, mein Mann ein schönes Frühstück gemacht und dann zur Arbeit entschwunden ist, weil ich einen Mittagsschlaf hatte, dann nur noch die Kochwäsche aufhängen muss und mir sehr wahrscheinlich mindestes einen Kaffee oder gleich einen Eisbecher bei meinem Lieblingsitaliener gönnen werde. Weil ich bei der Arbeit alles im Griff habe, weil ich einen wunderbaren Blick auf alte Bäume habe, weil mich übermorgen keine Katastrophe treffen kann, wenn ich morgen tot umfalle, weil ich heute alles getan habe, was mir wichtig war. Weil ich liebe, weil ich lebe. Irgendwie so.

Ich wünsche Dir ein schönes Wochenende, nette Gedanken - und vielleicht einen Eisbecher?
Liebe Grüße
Petra
 
Liebe Petra,

im Anschluss an #14 hier noch das Originalzitat aus Th. Manns "Felix Krull":

Es gebe den Fortschritt, sagte Kuckuck anschließend an seinen Scherz, ohne Zweifel gebe es ihn, vom Pithecanthropus erectus bis zu Newton und Shakespeare, das sei ein weiter, entschieden aufwärts führender Weg. Wie es sich aber verhalte in der übrigen Natur, so auch in der Menschenwelt: auch hier sei immer alles versammelt, alle Zustände der Kultur und Moral, alles, vom Frühesten bis zum Spätesten, vom Dümmsten bis zum Gescheitesten, vom Urtümlichsten, Dumpfesten, Wildesten bis zum Höchst- und Feinstentwickelten bestehe alles nebeneinander in dieser Welt, ja oft werde das Feinste müd' seiner selbst, vergaffe sich in das Urtümliche und sinke trunken ins Wilde zurück ...

Eine mögliche Konsequenz daraus kann man im Zusammenhang mit deinem Text ja hierin sehen:

mit dem Wissen, dass nur Breitenbildung Vorsorge vor Verführungen bieten kann
Ich weiß nicht, ob du bei Breitenbildung nur an Bildung im engeren Sinn gedacht hast. Mir würde noch materielle Verbreiterung dazu einfallen, bezogen auf Schichten. Ja, die Zeit, von der du schriebst, war eine breiter Mittelschichten - und heute?

Freundliche Grüße
Arno Abendschön
 

Hera Klit

Mitglied
Wir wollten, dass sie es einmal besser haben,
Und sie haben es gut und wollen mehr

Wir wollten, dass sie sich eine eigene Meinung bilden können
Und nun hören sie uns nicht mehr zu

Wir wollten alle Not von ihnen fernhalten
Und nun wissen sie nicht, was Not ist und was sie aus uns macht

Wir wollten ihnen Steine aus dem Weg räumen
Und nun denken sie, wir schuldeten es ihnen
Hallo liebe Petra,

du gehst hier wohl davon aus, dass das Wollen auch richtig umgesetzt wurde, aber die
Erfahrung zeigt, dass das selten der Fall ist. Meistens werden die Unzulänglichkeiten unter der Hand an die
nächste Generation weitergegeben und die dürfen es dann auslöffeln.
Auch wir waren nicht der Anfang, wie sie nicht das Ende sein werden.

Liebe Grüße
Hera
 



 
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