Was lange währt wird endlich Wut

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Was lange währt wird endlich Wut

Wally Vogelsang war schmerzfrei. Nur ihr linkes Knie zuckte nachts ab und zu unkontrolliert unter der Bettdecke. Am Montag Nachmittag saß sie noch ahnungslos, wie jede Woche, mit Hilde, Frieda und Erna beim Witwenkaffeekränzchen.
Dabei kam sie sich wie immer vor wie beim Fußball. Die drei Freundinnen rannten verbal, Sahnetorte schmatzend und Kaffee schlürfend übers Spielfeld. Friedas Bluthochdruck und die rechtsseitigen Brustschmerzen mit periodisch auftretender Atemnot jagten wie immer voran. Hildes Gallenkoliken und ihr Tinnitus trippelten schwerfällig hinterher. Und zum Schluss japste Ernas Asthma und ein nicht attestiertes Rheuma den beiden gekonnt den Ball ab. Wally saß frustriert im Abseits.

An besagtem Dienstag nun, Wally stieg wie jeden Morgen aus dem Bett, gab es unerwartet einen stillen unbedeutenden Knacks im linken Knie. Der Schmerz, der den Knacks begleitete, kam einem Nagel gleich, der einige Male rhythmisch in das Gelenk gehämmert wurde. Nach einer Weile steckte er fest. Unbeschreiblich, dachte Wally voll prickelnder Erregung und suchte krampfhaft nach Worten für ihr Kaffeekränzchen; stumpf zerschlagen, irreparabler Knorpelschaden, Arthrose im fortgeschrittenen Stadium, sinnierte sie tollkühn. Irgendwann würde sich der Knochen zersetzten, ja auflösen. Früher oder später würde sie ein künstliches Kniegelenk brauchen, dachte sie verwegen, sicher früher als später.
Laut vor sich hin lamentierend, humpelte Wally ins Bad und kramte im Arzneimittelschrank nach den Schmerztabletten. Dummerweise purzelte der Vorrat an Aspirin, Analgin, Vitaminpillen, Beruhigungstabletten und Mullbinden, den sie auf Anraten der Freundinnen angelegt hatte, in einem Schwall heraus. Ein braunes Gläschen Abführmittel gesellte sich flink dazu und zersprang auf den weißen Marmorfliesen. Wally betrachtete das wilde Durcheinander kopfschüttelnd.
Arglos bückte sie sich und der Schmerz schoss erneut ein. Diesmal stärker als je zuvor. Messerscharf, ja das war das richtige Wort. Bestimmt war eine Sehne gerissen oder eine Faser. Nein, ein ganzes Faserbündel hing da lose wie ein abgerissenes Drahtseil und scheuerte die Kniescheibe wund.
„Nichts ist mehr an seinem Platz“, stöhnte Wally und sammelte die Scherben ein. Autsch, nun hatte sie sich in den Finger geschnitten. Reichte ein kaputtes Knie nicht für den Anfang? Blut schoss Wally ins Gesicht. Blut schoss aus der Wunde am Finger. Wut gesellte sich dazu… Blutgeschosswut.
Am ganzen Körper bebend, kehrte Wally den chaotischen Haufen zusammen und warf ihn in den Mülleimer.

Ihr Hausarzt, Dr. Wunder beruhigte Wally und schickte sie zum MRT. Die Auswertung ergab, dass drei Knorpelteile im Knie frei herumgeisterten, die dort nichts zu suchen hatten. Sie mussten heraus operiert werden. Wally benachrichtigte Hilde, Frieda und Erna, aber der Zeitpunkt war ungünstig, denn es war Montag Nachmittag. Sie hatten weder Zeit zuzuhören noch Zeit, sie im Krankenhaus zu besuchen.

Drei Tage lag Wally im Bett. Als sie endlich aufstehen durfte, humpelte sie an Krücken, ihren Lieblingsgedichtband unterm Arm in den Park und setzte sie sich erschöpft auf eine der Bänke.

Es dauerte nicht lange und ein Herr kam näher, nickte ihr freundlich zu und fragte, ob er sich zu ihr setzen dürfte.
„Ja, bitte“, sagte sie knapp ohne aufzuschauen.
„Paul“, stellte er sich vor. „Darf ich fragen was Sie da lesen?“
Wally las laut:„Da ist die Sehnsucht: wohnen im Gewoge und keine Heimat haben in der Zeit.“
Während sie tief durchatmete, fuhr er fort: „Und das sind Wünsche: leise Dialoge täglicher Stunden mit der Ewigkeit. Rilke, mein Lieblingsdichter“, sagte Paul und dass er letzte Woche tief in den Himmel geschaut habe. Dort wurde ihm gesagt, er dürfe noch eine Weile unter den Lebenden bleiben. Seitdem ist ihm jede Stunde doppelt kostbar. "Vielleicht war es mein Herz, welches mich auf eine Reise geschickt hat.“
Wally antwortete: „Ja möglich. Bei mir war es das Knie.“

Wally erholte sich rasch und die Wochen vergingen. Aber Hilde, Frieda und Erna warteten vergeblich auf sie. An einem sonnigen Montagnachmittag, Wally bummelte gerade Hand in Hand mit Paul durch die Stadt, klingelte ihr Handy. Sie nahm ab: „Hilde? Ich kenne keine Hilde. Ja, laufen kann ich wieder. Ach nein, heute ist tatsächlich Montag? Welches Kaffeekränzen? Ja, wenn Sie das sagen. Wie war gleich ihr Name? Alzheimer … “
seufzte Wally und drückte lachend auf den - Aus- Knopf.“
 



 
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