Was nie geschah

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onivido

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Unermüdlich trabte der Knirps der untergehenden Sonne nach. Rot stand sie am Horizont und verwandelte das von Unkraut überwucherte, gerodete Waldstück in eine unwirkliche Steppenlandschaft. Afrika, war es noch weit? Afrika, bald würde er Elefantenherden, Zebras und Giraffen sehen. Halbnackte Buschmänner würden ihn begrüssen. Afrika, Afrika. Die Sonne versank. Der kleine Junge ermüdete Im Dämmerlicht sah er in der Ferne die ersten Häuser der neuen Siedlung. Er war immer noch nicht in Afrika. Gespenstige Schatten hinter Baukränen, Blicke im Nacken. Er machte kehrt und hetzte zurück zu den Wohnblocks, wo seine Spielgefährten in den Hauseingängen lungerten.
"Anton! Anton, Abendessen!"

Fussballweltmeisterschaft in Südafrika. Es hatte nicht nur ihn verwundert, dass Herr Löw ihn mitgenommen hatte, einen Spieler des FC Holzbrücken. Im letzten Augenblick, ohne Vorwarnung sozusagen. Eine Notlösung. Er war in Afrika. Sein Kindheitswunsch war in Erfüllung gegangen. Zum Teil, denn von dem Afrika seiner kindlichen Träume sah er nichts. Autobahnen, Hochhäuser, Staub und, wer hätte das gedacht, es war kalt. Auch machte sich Anton keine Illusionen bezüglich eines grossartigen Auftritts auf dem Fussballfeld. Er wusste, dass er als eine Art Sparringpartner mitgenommen worden war, unter extremen Umständen womöglich als Allround- Joker, vielleicht auch, um die Bundesligastars anzuspornen, sie gar zu beschämen, aber kaum, um im Normalfall eingesetzt zu werden.
"Einem geschenckten Gaul schaut man nicht ins Maul", wiederholte er sich zigmal am Tage und versuchte der Situation das Beste abzugewinnen.
Er war früh aufgestanden, stand allein im Speisesaal, blickte hinaus auf die Kunstlandschaft des Hotels, bestieg in Gedanken einen Jeep und reiste in die Steppe.
Jäh wurde er zurück in die Wirklichkeit geholt. Saft tropfte von seinem linken Arm. Er war mit einer jungen Frau zusammengestossen, die zwei grosse Glaskrüge mit frischem Obstsaft trug.
"I am so sorry," stammelte sie sichtlich bestürzt.
"Bitte nicht! Das ist das Beste, was mir seit meiner Ankunft in Südafrika zugestossen ist", brachte Anton zustande zu sagen und wunderte sich über seine eigenen Worte.
Das Mädchen errötete nicht, vielleicht weil ihre Hautfarbe zu dunkel war, um das sichtbar werden zu lassen, Einen Augenblick antwortete sie nichts, dann sah sie Anton ins Gesicht. Sie lächelte jetzt.
" E italiano, Lei – sind Sie Italiener?" fragte sie .
"Nein! Wieso denn?
"Ich dachte nur. So stelle ich mir die Italiener vor."
Anton lachte.
"Na ja, schliesslich bin ich ja kaum 200 km entfernt von der italienschen Grenze geboren. Wieso sprichst du Italienisch?".
" Ich will Safariführerin werden, und da ist es gut einige Sprachen zu lernen."
"Du bist genau die Person, die ich treffen musste. Du könntest mich auf deine nächsten Safaris mitnehmen."
"Ich muss jetzt weiter, sonst wird mein Supervisor ärgerlich."
"Halt! Wie kann ich mich mit dir in Verbindung setzen?"
"Meine Handynummer ist 076 3598562"
"Hast du einen Kugelschreiber?"
"Nein! Nutze dein Gedächtnis “, sagte sie schelmisch.
"Will do!" rief ihr Anton nach .
"076 3598562......076 3598562......076 3598562," pausenlos murmelte er die Nummer vor sich hin. Schliesslich hielt er einen verdutzten uniformierten Hotelangestellten an, bat um einen Kugelschtreiber und kritzelte die Nummer auf seine Handfläche.

So hatte ihre Bekanntschaft begonnen. Es war schwierig für die beiden sich an einem neutralen Ort zu treffen. Anton hatte, wie alle Mitglieder des deutschen Aufgebots, Ausgangsverbot-, aus Sicherheitsgründen, wie die Verantwortlichen beteuerten, und Mbali durfte im Hotel nicht mit den Gästen fraternisieren.
Aber wo ein Wille ist, da ist auch ein Weg. Anton und Mbali trafen sich im Geheimen, hielten Händchen, planten für die Zeit nach dem Turnier und landeten nach zwei Wochen in Mbalis Kammer, wo Mbali Anton Fotos vom Krüger Nationalpark und ihrer Familie auf dem Computerschirm zeigte. Mbali sass auf einem Drehstuhl vor dem PC, Anton sah über ihre Schulter auf den Bildschirm. Der Duft ihres Haares drang in seine Nüstern, er spürte die Nähe ihres Körpers. Seine Arme umschlangen sie. Sie stand auf, wandte sich um. Anton presste sie an sich, ihre Münder verschlangen sich. Sie warfen sich auf das Sofa.
Plötzlich erstarrte Anton. Ein schrecklicher Gedanke zuckte durch sein Gehirn. AIDS! Südafrika hat weltweit die meisten Menschen mit HIV Infektionen. Ungefähr eine von je drei Frauen im Alter von zwanzig bis neunundzwanzig Jahren lebt mit AIDS. Anton wand sich aus Mbalis Umarmung, sprang auf und begann in der Kammer auf und ab zu hasten. Mbali hatte sich aufgesetzt und sah ihm schweigend ins Gesicht.
Ahnte sie den Grund für Antons absonderliches Verhalten? Sie fragte nichts. Anton setzte mehrmals zum Sprechen an. Schliesslich brachte er ein fadenscheiniges
"Keinen Sex während der Konzentration" zustande.
Er wusste das Mbali ihm nicht glaubte, fühlte, dass er sie zutiefst verletzt hatte und wusste dass alles vorbei war.
"Ich gehe jetzt besser", sagte er.
Mbali antwortete nicht.

Deutschland -Uruguay, es ging um den dritten Platz, ein Trostpreis, aber immerhin würde die ganze Fussballwelt die Akteure zu Gesicht bekommen, sie bejubeln, verlachen oder beschimpfen.
Mbali sass mit der Belegschaft des Hotels vor dem riesigen Fernsehschirm. Sie hatte Anton seit dem Besuch in ihrer Kammer nicht mehr gesehen. Um ihm aus dem Weg zu gehen, hatte sie die Nachtschicht übernommen und wie es schien hatte Anton ebenfalls kein Verlangen nach einem Wiedersehen. Er hatte ihr immer versichert, dass es unwahrscheinlich sei, ihn je im deutschen Aufgebot zu sehen, aber sie hatte die Hoffnung nie aufgegeben ihn dennoch einmal wenigstens auf der Ersatzbank auszumachen. Ihr Herz schrie nach ihm. Ihr Verstand und ihr Stolz befahlen ihr, ihn aus ihrem Leben zu verbannen.

Sekunden vor Spielende 3:2 für Deutschland. Freistoss für Uruguay. Forlan läuft an und knallt den Ball unhaltbar für Butt unter die Latte ins linke Toreck. Deutschland wurde der sichere Sieg im letzten Augenblick entrissen.
Verlängerung.
Die Fernsehkommentatoren ergingen sich in Vorhersagen, quatschten den Unsinn für den sie bezahlt werden. Bandile Buthelezi, seines Zeichens Sportjournalist beim südafrikanischen Fernsehen, war in seinem Element.

Einer der deutschen Spieler hinkte vom Platz. Khedira war verletzt. Mehrere Einwechselspieler laufen sich warm.
Anton, das ist Anton. Das Blut schoss Mbali in den Kopf. Aus den Augenwinkeln beobachtete sie ihre Kollegen. Keiner bemerkte ihre Aufregung. Löw legt die Hand väterlich auf Antons Schulter. Offensichtlich gibt er Anweisungen. Spielerwechel. Anton läuft auf das Spielfeld. Die Reporter sind ratlos. Anton Mühlbauer, nie gehört, hoppla, Regionaligaspieler, defensives Mittelfeld, es muss schlecht um die deutsche Mannschaft stehen, vierter Dan in Aikido.
Ha,ha, die Deutschen wollen Uruguay jetzt mit japanischen Kriegskünsten besiegen. Halt, 37 Tore in 32 Spielen, bei seiner Position, das muss wohl ein Druckfehler sein.
Anpfiff.
Uruguay zeigt jetzt der deutschen Mannschaft, wie man in Südamerika Fussball spielt. Die Deutschen rennen dem Ball hinterher. Der Treffer Uruguays in den letzten Sekunden hat sie offensichtlich um ihr Konzept gebracht. Angriff nach Angriff. Butt überragend, nicht so seine Vorderleute. Deutschland in Not.
Tor!Toooor!Tooor!Tor!
Herrlich herausgespielt Forlan,Calvani,knallharter Schuss. Keine Chance für Butt.
Deutschland versucht es nun mit der Brechstange. Voller Körpereinsatz der Deutschen. Fouls auf beiden Seiten. Mühlbauer erkämpft den Ball von Perez mit einer defensiven Körpertäuschung. Mühlbauer - Schweinsteiger -Mühlbauer spielt einen Gegenspieler aus, umläuft Suarez, pass auf Ozil, Ozil gegen zwei, drei Gegenspieler in höchster Bedrängnis auf Mühlbauer , Mühlbauer ungedeckt, läuft mit dem Ball in den Strafraum, Lugano gegen Mühlbauer, Mühlbauer kommt zu Fall, Foul! Der mexikanische Schiedsrichter zeigt auf den Elfmeterpunkt, wehrt die entrüsteten Proteste Luganos und seiner Teamkollegen ab. Schweinsteiger geht auf den Elfmeterpunkt zu. Lugano zerrt Mühlbauer am Arm. Mühlbauer spricht auf den Schiedsrichter ein. Was will er denn noch? Señor Benito Archundia schüttelt den Kopf. Er gibt Mühlbauer eine Klaps auf die Schulter. Pfeift, zeigt auf das Tor. Abstoss vom Tor Uruguays! Unglaublich,noch nie gesehen, Mühlbauer hat anscheinend den Schiedsrichter darauf aufmerksam gemacht, dass Lugano ihn nicht gefoult hatte. Eine schöne, faire Geste, aber sie kann die Niederlage seiner Mannschaft bedeuten. Sicherlich wird ihm das keine Sympathien bei seinen Landsleuten einbringen.
Die Deutschen scheinen aber jetzt wieder im Spiel zu sein. Schöne Kombination Boateng - Schweinsteiger - Müller - Ozil weit zurück auf Mühlbauer.
TOOOR!Tor!Tor !
Gewaltschuss aus 35 Metern, eng unter die Latte ins rechte, obere Eck. Mühlbauer rennt auf den Spielfeldrand zu, schreit in die Kamera. Deutsch müsste man können. Seine Teamkameraden werfen sich auf ihn, ein Knäuel von Armen und Beinen.
Die Antwort Uruguays bleibt nicht aus. Genau 97 Sekunden später schlägt Uruguay wieder zu. 5:4 für Uruguay
Seitenwechsel.
Hoher Querpass von Boateng auf Mühlbauer. Mühlbauer springt in den Pass wirbelt in der Luft um die eigene Achse wie ein Ballettänzer und drischt den Ball ……über das Tor. Wieder ein Fernschuss aus gut 30 Metern. Der Junge überschätzt sich offensichtlich. Aber ein tolles Spiel, einzigartig in der Geschichte der Fussballweltmeisterschaft. Zwei Mannschaften, die nicht aufgeben, ein Torreigen.
Beide Mannschaften scheinen ermüdet. Schweinsteiger und Co schieben den Ball hinter der Mittellinie hin und her. 50m-Steilpass von Mühlbauer auf Ozil, genau in den Lauf. Ozil schiesst plaziert, trifft die Latte, Müller staubt ab. Deutschland hat wieder den Ausgleich geschaft.
Die Mannschaft will nichts mehr anbrennen lassen. Sie spielen in der eigenen Hälfte, Uruguay ist zu kraftlos zur Balleroberung. Schweinsteiger versucht es nochmals mit einen langen Pass auf den freistehenden Ozil. Ozil dribbelt in Richtung Tor, hebt den Kopf, sieht den Dauerrenner Mühlbauer , der ihm parallel zum Tor entgegenläuft, scharfer Pass, zu scharf - Mühlbauer steigt über den Ball,prallt den Ball mit seinem Hacken in die linke untere Ecke des Tors. Wieder schreit er auf die Kameras ein.

6:5 gewinnt Deutschland das Spiel um den dritten Platz.

“Bandile, versuch mal den Bästiän Schwainstaiga oder den Mulbauer ans Mikrofon zu bekommen! Was hat denn der Kerl nach jedem Tor gerufen. Du liest doch sonst immer die Schimpfworte von den Lippen der Spieler. Aber deutsch kannst du wohl nicht.”
“Deutsch war das nicht!”
“Anton, Anton!”
Bandile hatte sich mit dem Mikrofon durch den Reporterknäuel gekämpft.
“Anton! Einen Moment! Nur ein paar Worte für das Südafrikanische Fernsehen.
Was sagen Sie zu dem Spiel? Wie fühlen Sie sich?”
“Super! Ich bin glücklich, hier in Südafrika gespielt zu haben.Ich musste spielen.”
“Schiessen Sie öfters Tore, wie wir sie heute gesehen haben?”
“Hin und wieder.”
“Was ist das Rezept für solche Tore?”
“Ein ermüdeter Gegner, Glück, Training, Konzentration, Kondition, glauben ans Gelingen, und nochmals Glück.”
“Was haben Sie denn nach jedem Tor gerufen?”
Ruckartig fasste Anton Bandiles Hand mit dem Mikrofon und zog sie dicht an seinen Mund.
“Mbali, ngyakuthanda!”
“Mbali, ngyakuthanda“, röhrte Bandile.
“Mbali, I love you, Mbali, ek het jou liefe!
Ganz Südafrika soll das wissen!”posaunte Bandile ins Mikrofon.
Vor dem Fersehschirm im Hotel richteten sich alle Blicke fragend auf Mbali. Mbalis Augen glänzten feucht.
 

rainer Genuss

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Hallo Onivido
sehr unterhaltsam mit gutem Spannungsbogen und ebensolcher Überraschung. Scheint mir, besonders für junge fußballbegeisterte Leser geschrieben
lediglich:
Der Duft ihres Haares drang in seine Nüstern - würde ich zum Missfallen der Zoophilen ändern, dein Text handelt ja nicht vom Paarungsakt zweier Zebras.
"Er konnte den Duft ihres Haares riechen und......" (z.B)
Gruß rainer
 
Hallo onivido,

ich weiß schon gar nicht mehr, wie das Spiel ausgegangen war. Hatte es das überhaupt gegeben?
Aber süß ist die Geschichte natürlich. Mit all seinen Facetten um Angst und Hoffnung.

Schöne Grüße,
Rainer Zufall
 

onivido

Mitglied
Hallo Flammarion und Rainers,
es hat mich sehr ueberrascht, dass jemand dieses Maerchen noch gelesen hat. Es fristet ja schon lange ein Dornroeschen Dasein in der Leselupe und wurde auch vor langer, langer Zeit geschrieben. Es freut mich natuerlich, dass es gefallen hat.
Das Spiel um den dritten Platz in Suedafrika hat es gegeben, aber natuerlich nicht mit dem beschriebenem Verlauf.
Frage: Kann man Nasenloecher bei Menschen nicht Nuestern nennen, oder geht das nur bei Tieren?
Gruesse und Danke fuer die Kommentare
 
Hallo onivido,

in dieser Sparte bleibst Du ja recht lange auf der ersten Seite, weil nicht so viel Neues reinkommt. Da sind drei Monate gar nichts. Wenn ich mal ein bisschen mehr Zeit habe, dann bin auch mal neugierig. Ist mit einer meiner Märchen-Geschichten auch passiert. Da waren es sogar gut neun Monate. Da habe ich mich auch gefreut, habe dazu sogar eine Fortsetzung eingestellt.

Schöne Grüße,
Rainer Zufall
 
Es ist doch absolut passend, ein Fußball-Märchen (und keins der üblichen Fußball-Märchen ;-) ) zur Fußball-EM hervorzuholen. Obwohl es ja eigentlich eine Liebes-Geschichte ist, sogar im doppelten Sinn.
 

onivido

Mitglied
Das stimmt Isabeau, aber aus dem Titel des Geschichtleins war nicht zu ersehen, dass der Inhalt etwas mit Fussball zu tun hat. Deshalb hat es mich verwundert, dass sie gerade jetzt , sozusagen zur richtigen Zeit, gelesen wurde.
 
Da hast du natürlich recht. Nach dem Lesen der Geschichte habe ich nicht mehr an den Titel gedacht. Vielleicht war es eine Fügung des Schicksals, sie zu diesem Zeitpunkt wieder auftauchen zu lassen?
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
also nüstern gehören eigentlich zum pferd, aber für eine menschenähnliche fantasiegestalt würde ich sie auch anwenden. in der vorliegenden geschichte besser nicht.
lg
 



 
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