Wehklage eines Christbaums

Miranda Weit

Mitglied
Knarrend fiel die große Tanne zu Boden und straffte die Seile, die an ihrem Stamm befestigt waren, damit sie nicht auf dem Boden aufschlug und ihre Zweige brachen.
„Vorsichtig hochheben!“, rief einer der Männer an den beiden Kränen, die den Baum mit vereinten Kräften auf den großen Lastwagen schafften.
Sonnenlicht kitzelte meine Zweige, als der große Baum, in dessen Schatten ich wuchs, fiel. Ich reckte meine Äste und Blätter dem ungewohnten Überfluss an Licht entgegen und streckte mich.
Wehmütig beobachtete ich, wie die Männer den Baum mit Hilfe der beiden Kräne auf den Lastwagen hoben und sorgfältig festzurrten. Wie sehr ich ihn beneidete! Er durfte fort aus unserem Wald und die Welt sehen, während ich hier stehen blieb und mich weiterhin der Gesellschaft meiner langweiligen Nachbarn erfreuen musste, die sich Tag ein Tag aus nur über die Vogelnester in ihren Zweigen und das Geschwätz der Eichhörnchen beschwerten.
Traurig blickte ich dem Lastwagen hinterher und obwohl ich jetzt, da der riesige Schattenspender verschwunden war Platz zum wachsen hatte, beneidete ich ihn und wollte mitkommen.
Gelangweilt sah ich zu, wie die Tage ins Land zogen, lauschte den fröhlichen Liedern der Vögel und sah zu, wie der Schnee die Erde unter sich begrub. Tagelang stand ich einfach da und sah niemanden außer meinen Nachbarn und den Tieren des winterlichen Waldes, als eines Tages ein Mann mit seinem Sohn zu mir kam. Das Kind, das seinem Vater vorausgelaufen war, blieb vor mir stehen und nachdem es mich einige Zeit gemustert hatte rief es: „Den will ich haben, Papa!“
Neugierig geworden hob ich meine Zweige etwas an und musterte meinerseits die Menschen vor mir. Der Mann betrachtete mich eingehend, bevor er zu den Schluss kam: „Ja, der passt.“ Fröhlich sprang das Kind um mich herum, während sein Vater mich von meinen Wurzeln befreite und obwohl das nicht ganz schmerzlos war, pulsierte das Wasser in meinem Stamm und meinen Ästen vor Freude darüber, dass auch ich endlich die Welt sehen konnte und aus meiner tristen Umgebung geholt wurde.
Schließlich wurde ich an meinem Stamm aus dem Wald geschleift und auf das Dach eines Autos geschafft. Kurz darauf brauste es los und mir peitschte der Wind um die Zweige. Dennoch genoss ich die Fahrt und konnte mich kaum an den vielen neuen Dingen satt sehen, die an mir vorbei flogen.
Endlich blieb das Auto stehen, ich wurde abgeladen und an eine Hausmauer gelehnt. Dort blieb ich einige Zeit stehen, sah mich in meiner Umgebung um und beobachtete die Menschen. Ich dachte schon, dass ich hier stehen bleiben müsste, als ich in das Haus gebracht wurde, wo man mich mit den schönsten Dingen schmückte, die ich je gesehen hatte: glitzernden Kugeln, Sternen aus Stroh, bunten Lichtern und zahlreichen Süßigkeiten, die die Kinder so gerne aßen. Stolz stand ich in der Stube und präsentierte mich, als die ganze Familie in das Zimmer kam und sich auf mich stürzte – dachte ich im ersten Moment, doch eigentlich waren es eher die Geschenke, die die Kinder anzogen, doch einige der Erwachsenen lobten meine Schönheit.
Der Abend war lange und ich genoss die lebhafte Gesellschaft um mich, die ganz im Gegensatz zu der in meinem Wald stand. Dennoch ging diese schöne Zeit viel zu schnell vorüber und die Menschen löschten meine Lichter und ließen mich allein. Erst jetzt bemerkte ich, wie warm es in dem Zimmer war und dass ich bereits die ersten Blätter verloren hatte.
Tagelang stand ich in dem Zimmer und verlor dabei zunehmend an Beachtung, wie auch meine Blätter. Sorgenvoll sah ich zu, wie sie nach und nach zu Boden fielen und die Frau sie wegsaugte.
Schließlich kam der Tag vor dem ich mich fürchtete seit ich bemerkt hatte, dass ich meine Blätter verlor: Der Schmuck wurde mir wieder abgenommen und ich selbst wieder nach draußen verbannt. Dort stand ich nun Tage und schließlich Wochen und ich spürte, wie das Leben mit jeder Stunde, jeder Minute, die ich dort draußen stand aus mir schwand.
Wie sehr wünschte ich mich nun zurück in meinen tristen Wald, zu meinen langweiligen Nachbarn. Der dicken Tanne, die sich ständig über den Specht beklagt, der ihr Löcher in ihren schönen Stamm hämmerte, die Fichte, die sich dauernd über die Eichhörnchen beschwerte und zu all den anderen.
Wie sehr sehnte ich das Lied der Vögel herbei, die mir von fernen Ländern sangen, von ihren Abenteuern und Liebschaften.
Wie sehr begehrte ich den Wind, der mit meinen Zweigen spielte und unsere Blätter in einer süßen Melodie rauschen ließ.
Wie sehr sehnte ich mich nach dem Leben, das mich in meinem Heimatwald, wo ich das erste Mal ein Blatt aus dem Boden strecke, geführt hatte.
Wie dumm bin ich gewesen mir zu wünschen die Welt zu sehen, eine Welt, in der es für mich nur den Tod gibt …
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
zu

erst einmal herzlich willkommen auf der lupe und viel vergnügen hier.
der inhalt deiner geschichte ist zwar schon oft behandelt worden, aber dein netter ton hat mir gefallen.
lg
 



 
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