Weihnacht auf der Alm

Kyra

Mitglied
Weihnacht auf der Alm

Er kann seine Hände in den Fäustlingen vor Kälte kaum fühlen, trotzdem hält er mutig sein brennendes Gesicht in die nadelfeine Schneegischt, um keinen Augenblick der Fahrt zu verpassen. An seinen Wimpern bilden Eiskristalle winzige Kugeln, die Lunge versucht, die eisige Luft herauszuhusten. Seine besorgte Mutter zieht ihn an sich, wickelt ihn in eine Decke und birgt seinen Kopf an ihrer Brust, hält ihn sicher und warm. Der Atem schlägt sich warm und feucht auf seiner Haut nieder, er stemmt sich mit beiden Händen gegen den Busen, um wieder etwas zu sehen, aber die Mutter hält ihn mit unerbittlicher Liebe in ihren Armen geborgen.
„Wir sind doch gleich da, David. Du weißt, wie leicht du dich….“
Eine steile Kurve unterbricht ihre Mahnungen.
Den letzten Teil der Strecke erlebt David nur als finsteres Gerüttel über den harschigen Schnee. Die mütterliche Wärme erreicht schließlich sogar seine Hände, fast zufrieden schließt er die Augen und stellt sich vor, ein armer kleiner Junge müsse jetzt alleine durch die Dämmerung den Berg erklimmen, halb erfroren, die rettende Hütte noch in weiter Ferne. Dieses Bild lässt ihn wohlig erschauern. Der Motorbob nimmt auch das letzte steile Stück mit hoher Geschwindigkeit, um schließlich abrupt abzubremsen.
Mit gespieltem Missmut schält David sich aus Umarmung und Decke, blickt kurz ins dunkle Tal, dann wendet er sich der Hütte zu. Während David sich durch den tiefen Schnee zur Tür durchkämpft, fast bis an die Schultern reicht ihm das feine Pulver, räumt der Fahrer das Gepäck und die Vorräte vom Schlitten. Atemlos, mit schwimmenden Bewegungen erreicht er die Stufen des Eingangs. Den Ruf seiner Mutter,
„warte, ich kann dich doch tragen…“
überhört er. David kommt im nächsten Sommer in die Schule, er ist kein kleines Kind mehr. Nur Babys werden getragen. Entschlossen erklimmt er die Holzstufen und bleibt triumphierend vor der verschlossenen Tür stehen,
„ich bin schon oben“
schnauft er, die Wangen gerötet vor Anstrengung.
Stolz beobachtet er die Mutter, die, den bepackten Fahrer im Schlepptau, auf seiner Spur zum Hause kommt. Die beiden Erwachsenen
sinken tiefer ein, machen einen kleinen Pfad aus der Spur, aber er war der erste, er hat den Weg vorgegeben.
Stampfend treten sie sich den Schnee von den Füßen, während ihr Führer mit einigem Kraftaufwand den Eingang aufschließt. Den Schlüssel überreicht er der Mutter, bevor er sich gegen das verzogene Holz stemmt und mit der weit aufschwingenden Tür fast ins Haus fällt. Drinnen ist es so finster, wie in einem Keller, es riecht auch etwas feucht, zudem scheint die Luft im Hause noch kälter zu sein, als draußen. David drängt sich an den Erwachsenen vorbei, tritt unsicher in den Raum und beginnt, die Wand nach einem Lichtschalter abzutasten. In diesem Augenblick leuchtet der Strahl einer Stablampe in das Innere des Raumes. Lachend zieht ihn die Mutter an sich,
„hier gibt es kein elektrisches Licht, wie bei uns…“
Der Mann lässt den Lichtstrahl langsam durch die Diele wandern und folgt ihm zu einer geschlossenen Tür. Mit fröhlicher Weihnachtsmannstimme meint er über die Schulter,
„ja, hier ist es noch genau wie damals, im Stall von Bethlehem, kein Strom, kein Telefon – nur Holz und Öllampen – dafür aber jede Menge Schnee…“
David und seine Mutter betreten die große Küche, dort werden ein Licht und einige Kerzen entzündet und während die Erwachsenen noch Gepäck hereinbringen, erkundet der Junge mit einem flackernden Windlicht in der Hand das Haus, sieht sich die Schlafzimmer im oberen Stockwerk an und verweilt kurz im Wohnzimmer. Alles sieht hier fremd aus, die Geweihe an den Wänden, der ausgestopfte Vogel über der Anrichte, ein steifer Ohrensessel in der Ecke neben dem Fenster. Tische mit Spitzendecken, als David vorsichtig mit einem Finger das zarte Gewebe berührt, hat er das Gefühl, sie sei steif gefroren. Er hört, wie sich ihr Fahrer herzlich von der Mutter verabschiedet, dann tönt ein Ruf durch die Kälte der Zimmer,
„David, David wo bist du? Komm schnell her, du musst mir helfen die Öfen anzuheizen, Holz hat der nette Mann schon ins Haus gebracht…, David…!“
Trödelnd folgt David der Stimme, die Motorgeräusche des Schlittens werden immer leiser. Kurz bevor er die Küche betritt, scheint ihm alles völlig still. Schnell kommt er herein, seine Mutter sitzt am Küchentisch, die Augen theatralisch geschlossen. Als er näher kommt, streckt sie eine Hand nach ihm aus, zieht ihn trotz seines leichten Widerstandes an sich und flüstert,
„hör nur diese Stille, sei ganz ruhig, dann kannst du sie hören.“
David sagt kein Wort, dies erinnert ihn daran, wie seine Mutter ihn einmal gezeigt hatte, wie Schwarzbrot sich in einen süßen Brei verwandelt, wenn man es nur lange genug kaute. Er hatte es getan, weil er ein braver Junge war, aber er konnte nicht verstehen, was die Mutter daran so begeisterte.
So steht er auch jetzt etwas verlegen da, betrachtet die Küche mit dem alten Herd und dem riesigen Kachelofen, dessen andere Seite er schon im Wohnzimmer gesehen hat. Er hört seine Mutter atmen, das leise Schaben seiner Haare an ihrem Pullover und das knacken der Holzdielen wenn er sein Gewicht verlagert. Schließlich hat Davids Mutter genug von der Stille gehört, mit einem energischen,
„So, jetzt wird angeheizt“,
schiebt sie ihn weg, beginnt Zeitungen zusammenzuknüllen und kleine Holzstückchen zu suchen. Daraus schichtet sie recht geschickt eine Pyramide im Kachelofen. Als sie eben ein Streichholz entzünden will, hält sie inne, geht zu ihrer Handtasche, die auf einem der Küchenstühle liegt, kramt darin herum und befördert schließlich ein Handy hervor. Feierlich hält sie das kleine Plastikteil in die Luft, drückt auf einen Knopf, wartet ein melodisches Abschiedsklingeln ab und verkündet strahlend,
„wir werden hier Weihnachten feiern, wie es die Menschen vor hundert Jahren getan haben. Du und ich, alleine. Wir werden morgen den Baum schmücken – du bist jetzt schon groß genug, du wirst mir helfen. Dann werde ich dir vorlesen, aus der Bibel – auf dem Herd wird unser Abendessen stehen – alles ganz wie früher. Niemand kann uns stören. So ein Weihnachtsfest habe ich mir immer gewünscht…“
David hört nur mit halbem Ohr zu, er versucht unterdessen, das Papier im Kachelofen zu entfachen. Aber immer wieder bläst ihn ein tückischer Luftzug das Streichholz aus. Seiner Mutter geling das Anzünden auch erst nach mehreren Versuchen, aber wenig später kann er schon größere Holzscheite nachlegen. Obwohl es immer noch erbärmlich kalt in der Küche ist, wärmt ihn die Vorstellung eines Feuers ein wenig von innen. Beide zünden gleich auch das Feuer im Herd an, dieser lässt sich leichter zum Brennen bewegen, aber es dauert lange bevor die eisernen Platten sich erwärmen. Da es schon spät ist, entscheidet die Mutter, nur noch ein wenig Tee aus der Thermoskanne mit einer Scheibe Brot aus ihrem Proviant zu Abend zu essen. Danach stapelt sie geschickt große Holzscheite in beiden Öfen,
„wenn wir morgen aufwachen, wird es schon richtig warm hier unten sein…“
Die Nacht, die David im Bett seiner Mutter verbringt, ist bitterkalt. Noch nie hat er so gefroren, die Kälte greift ihn von allen Seiten an. Obwohl er mehrere Pullover und seinen Schneeanzug trägt, findet sie jeden kleinen Spalt, jede Ritze. Er versucht sich vorzustellen, wie es wohl einem Jungen vor hundert Jahren ergangen ist, musste der auch so frieren? Dankbar schmiegt er sich in die Arme seiner Mutter, deren Zittern er durch all die Kleiderschichten hindurch spüren kann,
„ist es nicht wunderschön romantisch, wir beide hier…. Ich werde dir eine Geschichte erzählen.“
David schläft noch während der Geschichte ein. Bein Erwachen am nächsten Morgen erinnert er sich nur noch an einen Knaben, der mit seinen Geschwistern in der Weihnacht durch den dunklen Wald wandern musste, damit sie alle in der kleinen Kirche des Ortes die festlichen Choräle singen konnten. Erstaunt stellt er fest, alleine im Bett zu liegen. Nur eine der kleinen Öllampen brennt auf dem Nachttisch. Da er nicht viel mehr anzuziehen hat, als seine Schuhe, ist er rasch fertig, läuft die dunkle Stiege hinab und tritt in die Küche. Die Mutter beugt sich mit gerötetem Gesicht über die Herdöffnung und pustete hinein, bevor sie nachlegt. Der aufsteigende Rauch bringt sie zum Husten. Zögernd tritt er in den warmen hellen Raum, alles scheint anders zu sein, als gestern Abend. Die Fensterläden sind geöffnet, das gleißende weiße Licht von draußen lässt die Einrichtung staubig und ärmlich erscheinen. David kennt nur helle Küchen, mit vielen glänzenden Flächen. Der Staub und Schmutz sind draußen. Hier scheint alles umgekehrt zu sein.
Nachdem er sich aus seinen vielen Pullovern geschält hat, bekommt er heißen Kakao und zwei Scheiben Weißbrot mit dem gleichen Schinken und Käse wie zuhause. Gestern war ihm alles noch unbehaglich, aber jetzt am warmen Ofen, scheint das Haus ihn freundlich zu begrüßen.
Nach dem Frühstück hilft er der Mutter, einige Eimer Schnee hineinzubringen, der kommt in einen riesigen Topf auf den Ofen und bald ist genügend Wasser erwärmt, um abzuwaschen. Würde seine Mutter nicht die ganze Zeit erzählen, wie schön und romantisch dies alles sei, wäre David richtig fröhlich. So hört er immer Erklärungen,
„Männlein…“
seine Mutter nennt ihn gerne Männlein, zum Glück tut sie es nur, wenn sie alleine sind,
„Männlein, sieh nur, wie weit unten das Dorf liegt, früher konnten die Kinder im Winter nicht in die Schule gehen…
…Männlein, das ganze Holz was wir zum heizen nehmen, kommt aus dem Tal unten, früher haben die Männer es in Körben auf ihrem Rücken hier hinaufgebracht…“.
War es so wichtig, wie alles früher war? Wahrscheinlich schon, sonst würden die Erwachsenen nicht immer darüber sprechen. Leider hatte er seinen Freund Michael nicht mitbringen dürfen, weil Mutter meinte, Weihnachten wäre ein Fest nur für die Familie und seine Mutter war die einzige Familie die er hatte.
Zusammen mit seiner Mutter schleppt David später den Tannenbaum in die Stube, an alles war gedacht, Kugeln, Lametta, Kerzen, nicht einmal den Christbaumständer hatten sie vergessen. Als sie gemeinsam den Baum schmücken, kommt er sich sehr erwachsen vor, besonders als er den Stern an der Spitze befestigen darf. Trotzdem ist er ein wenig traurig - jetzt kennt er den Baum schon, weiß wo die Engel hängen, hat selber die Krippe aufgestellt. David versucht, ihn wieder zu vergessen, während er mit der Mutter das Abendessen bereitet.
„Weißt du Männlein, ich sage immer, es kann ganz einfach sein, solange die Zutaten gut sind…“
Das hat er schon oft gehört. Ihm ist langweilig. Seine Mutter hatte darauf bestanden nur die Bibel mitzunehmen, keine Bilderbücher, keine Spiele, alles ganz einfach. Er knetet die Füllung für die Gans, stellt sich auf den Stuhl und drückt seine Fäuste so fest er kann in die zähe Masse. Er würde jetzt viel lieber zusammen mit Michael weiter an seiner Eisenbahn bauen, aber noch dreimal schlafen, und sie wären wieder zuhause.
Nachdem das dicke Geflügel im Ofen verstaut ist, holt Mutter den Koffer mit den feinen Anziehsachen in die Küche. Hier bekommt David seinen kleinen Smoking an, der ist extra für ihn angefertigt worden und seine Mutter zieht ein blaues bodenlanges Samtkleid an. Dann steckt sie ihr Haar zu einem kunstvollen Knoten zusammen, trägt ein wenig Puder auf und legt sich eine einfache Perlenkette um.
„Auch wenn wir hier auf einer Almhütte sind, müssen wir nicht unkultiviert sein, Männlein.“
Unkultiviert, David hasst dieses Wort. Die meisten Dinge die Spaß machen oder laut sind, findet Mutter unkultiviert.
Sie essen vor der Bescherung. Der Tisch ist festlich gedeckt, das Silber, die Gedecke und Gläser sind alle in einer der vielen Taschen ihres Gepäcks. David kann vor Aufregung, die Geschenke zu sehen, kaum einen Bissen herunterbringen. Aber seine Mutter sitzt am anderen Ende der Tafel und erzählt, wie es früher war. Die arme Familie, die hier einmal gewohnte hatte, niemals hätten sie sich diese köstliche Pastete, diese delikate Suppe und am wenigsten die herrliche Gans leisten können. Er weiß, er darf sie jetzt nicht unterbrechen, sonst würde sie nie mehr aufhören zu sprechen. So blickt er nur noch auf seinen Teller und nickt vor Ungeduld immer schneller. Er will die Geschichte beschleunigen, zu einem Ende bringen.
David sieht erschrocken auf, als seine Mutter mitten in einem Wort abrupt abbricht. Etwas stimmt nicht. Sie sitzt da, eine Hand am Hals, ihr Atem ist ein kaum hörbares fiepen. Gleich darauf springt sie auf, schlägt sich auf die Brust, versucht zu husten, lässt sich wieder auf den Stuhl fallen, fegt den Teller zu Boden. Ihre Augen sind weit aufgerissen, sie versucht, ihm etwas zu sagen. David stürzt zu ihr, schüttelt sie. Langsam rutscht sie vom Stuhl, versucht nach ihm zu greifen. Er weicht ihren krallenden Händen aus, starrt in ihren aufgerissenen Mund, die blauen Lippen, die dicke Zunge. Verzweifelt schlägt sie ihren Kopf hin und her, bäumt sich auf. Die Perlenkette reißt, die schimmernden Kugeln rollen zwischen die groben Dielenbretter.
David läuft aus dem Raum, will ihr helfen, öffnet die Eingangstür, holt eine Handvoll Schnee, rennt zur Mutter zurück. Jetzt ist alles ruhig in der Küche. Sie liegt halb unter dem Tisch, das bläuliche Gesicht halb von der verrutschten Frisur bedeckt. Zögernd kommt er näher, der Schnee in seiner Hand beginnt zu schmelzen, lässt eine feine Tropfspur zurück, bis er den letzten Rest ungeschickt auf ihr Ohr drückt. Sie atmet nicht mehr. David rüttelt an ihrer Schulter, Tränen laufen über seine Wangen. Die silberne Fliege, die er zu seinem Smoking trägt, ist halb gelöst. Schließlich beginnt er, mit seinen Lackschuhen gegen den reglosen Körper zu treten, immer wieder tritt er sie, schreit sie an, bittet sie, wieder aufzustehen. Leise wimmernd zieht er sich schließlich zurück. Lange sitzt er zusammengekauert in der Ecke neben dem Herd, fühlt das Schwinden der Wärme.
Tief in der Nacht steht er auf und tritt vor die Tür. Unten im Tal sieht er noch Lichter brennen, das Dorf sieht gar nicht so weit weg aus, wie am Tage. Bevor er sich auf den Weg mach, zieht er noch seinen dicken Anorak an, erst als er schon ein Stück talab gegangen ist, bemerkt er die Kälte. Es ist klar, eine schmale Mondsichel steht am Himmel. Sorgsam bemüht er sich, die Bobspur nicht zu verlieren, setzt vorsichtig einen Schritt vor den anderen. Seine Füße in den dünnen Schuhen kann er bereits nicht mehr spüren. Trotzdem setzt er seinen Weg fort, doch die Lichter im Tal scheinen ihn zu narren, sind sie doch noch kein Stück näher gekommen, obwohl er das Gefühl hat, schon so lange unterwegs zu sein. Die Müdigkeit kommt unerwartet. David will nur kurz rasten, setzt sich neben der Spur in den weichen Schnee und hört seinen Atem in der Stille. Wenig später, er war wohl eingenickt, schlägt er die Augen auf und sieht den Sternenhimmel über sich. Nun sind seine Atemzüge flach und schneeflockenleise. Jetzt kann er die Stille hören.
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
hallo, kyra.

habe beim lesen ganz vergessen, wer der autor der geschichte ist. aber da du ja wohl nicht anders kannst, hast du es mir dann schrecklich klar gemacht. das ende erschlägt einen wieder einmal. aus dem weihnachtsgeplätscher wird unversehends eine typische kyra-geschichte. mir läuft immer noch ein schauer über den rücken. ganz lieb grüßt
 

Kyra

Mitglied
Falscher Titel?

Hallo flammarion

vielleicht habe ich der geschichte den falschen Titel gegeben, aber das erschien mir dann besonders "treffend". Ich vermute mal, er hört sich zu langweilig an.

Frhe Weihnachten wünscht Dir die

Kyra
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
liebe kyra,

ich glaube nicht, daß das der falsche titel ist. der knalleffekt sitzt so recht gut. ganz lieb grüßt
 



 
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